Donnerstag, 17. Dezember 2015

6. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 17. Dezember 2015  - Frau Lucht sagt ab - Kaffeeklatsch

Vielleicht ist dieses Datum unglücklich gewählt. Es ist kurz vor Weihnachten. Viele sind mit Festvorbereitungen beschäftigt, andere machen ihren geschäftlichen Jahresabschluss, manche sind verreist. Zum Erzählcafé kommen nur wenige.  Frau Lucht, die Berichterstatterin des heutigen Nachmittags, hat abgesagt, weil sie krank ist. Doch die  fünf Anwesenden wollen bleiben und sich unterhalten. Sie haben noch nicht mal Lust sich eine der Geschichten anzuhören, die ich für alle Fälle zum Vorlesen bereit gelegt habe.

So wird es ein entspannter Quatschnachmittag, bei dem wir auch Neues erfahren und uns wieder ein wenig mehr kennenlernen. Viele Themen werden angetippt, aber, wie es so ist in einer solchen Runde: nichts wird vertieft behandelt. Doch wir sind fröhlich und genießen das Kaffeestündchen, bevor wir uns in die vorweihnachtliche Hektik verabschieden.

Donnerstag, 3. Dezember 2015

5. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Heute kommt eine nette kleine Runde zusammen. Wir sind 11 Personen und passen wunderbar um die vier zusammengestellten Couchtische. Wir gießen uns den Kaffee ein und Rainer Pomp, der im September die erste Stadtführung durch den Körnerkiez mit uns bestritten hat, beginnt mit seinem Bericht.

Die zu dem Text geplanten Bilder werden nachgereicht


Dr. Rainer Pomp - Historiker, Lehrer, engagierter Nachbar

Rainer Pomp, geboren 1960, stammt aus dem Badischen, er ist in St. Georgen im Schwarzwald, später in Ettlingen aufgewachsen. Seit seiner Jugend mag er es anderen etwas beizubringen. Vielleicht hat ihn sein Vater beeinflusst, denn er war Lehrer. Bereits als Schüler der 10. Klasse beteiligt sich Rainer an der im örtlichen katholischen Jugendverein angebotenen Hausaufgabenhilfe. Er unterrichtet die Kinder spanischer und italienischer Gastarbeiter, die seit den 1960er-Jahren in die Bundesrepublik eingewandert sind. Später kommen türkische Migranten nach Ettlingen, deren Kinder in der Schule ebenso Unterstützung brauchen. Rainer gibt die Nachhilfe ehrenamtlich, zunächst einmal, dann zweimal wöchentlich. Er macht es gern und bekommt viel zurück. Durch seine Schüler lernt er deren Familien kennen, er wird zu italienischen, spanischen und türkischen Festen eingeladen und gewinnt Einblicke in die Lebensgewohnheiten der Zugezogenen.

Nach seinem Abitur im Jahr 1979 plant er den Zivildienst abzuleisten, doch ein Anruf seines Bruders aus Berlin wirft sein Ziel über den Haufen: „Komm nach Berlin, in unserer Wohngemeinschaft wird ein Zimmer frei.“ So verbringt er den Sommer in Berlin, hofft aber noch immer auf die Einberufung zum Zivildienst.  Rainer nimmt sich dann ein Zimmer in einer anderen Wohngemeinschaft in Kreuzberg 61. Er beginnt ein Studium der Sozialpädagogik an der Freien Universität Berlin und wechselt nach zwei Semestern an die Technische Universität, in die die frühere Pädagogische Hochschule eingegliedert worden ist. Als er nach zwei Jahren noch immer nichts vom Kreiswehrersatzamt hört, meldet er sich in Berlin (West) mit dem 1. Wohnsitz an. Als Berliner ist er vom Militärdienst befreit. Und am Zivildienst ist er nicht mehr interessiert, denn es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich in Kriegszeiten um einen militärischen Ersatzdienst handelt.

Neben seinem Studium arbeitet Rainer in einem deutsch-türkischen Kindergarten in Kreuzberg SO 36. Dort lernt er junge Leute kennen, die ein Hausprojekt planen und ihm anbieten mitzumachen. Es handelt sich um ein altes Mietshaus in der Wrangelstraße, deren Mieter gemeinsam mit dem Eigentümer das Haus instandsetzen wollen. In den 1980er-Jahren gibt es in den West-Berliner Altbaugebieten viele heruntergekommene Häuser. Die Eigentümer spekulieren auf eine öffentliche Förderung, um sie günstig modernisieren und später teuer vermieten zu können. Oder sie finanzieren gleich eine Luxusmodernisierung. Um das zu verhindern werden viele Häuser besetzt. Später werden einige der besetzten Häuser mit staatlicher Unterstützung legalisiert, es gründen sich Hausvereine, die für die Instandsetzung und Modernisierung öffentliche Gelder erhalten. Im Fall des Hausprojekts Wrangelstraße läuft es etwas anders: Der Eigentümer will nun doch nicht gemeinsame Sache mit den Mietern machen und zieht sich zurück. Er bekomme keine Kredite, argumentiert er, deshalb sollen die Mieter, meistens Studenten, finanziell mit einsteigen. Als sich das als unrealistisch herausstellt, beschließt er das Haus zu verkaufen. Bevorzugte Käuferin ist eine reiche Münchener Architektenfirma, die teuer modernisieren möchte. Die Hausbewohner schließen sich zusammen, auch die Älteren machen jetzt mit, und verdeutlichen den Münchnern auf einer Hausversammlung, dass sie ihre Wohnungen nicht verlassen werden. Daraufhin machen die Münchner einen Rückzieher. Die Bewohner gründen einen Hausverein mit dem Ziel selbst das Haus zu kaufen – allerdings ohne eigenes Geld. Das Haus besteht aus Vorderhaus, Seitenflügel und zwei Quergebäuden und kostet ca. 440.000,00 DM. Nach langem Suchen findet sich eine Bank, die den noch fehlenden zweiten Kredit gewährt. Für die Instandsetzung und Modernisierung gibt es eine staatliche Förderung in Höhe von 800 DM pro Quadratmeter unter der Bedingung, dass 15 Prozent der Modernisierungsmaßnahmen in Eigenleistung durchgeführt werden. Das Konzept des Vereins ist es, dass das Haus Eigentum des Vereins ist und bleibt und nicht auf die einzelnen Mitglieder aufgeteilt wird, wie es zahlreiche andere Hausvereine gemacht haben. Wer dort wohnt, zahlt eine Miete, von der auch Kauf finanziert wird. Wer auszieht, kann kein Geld mitnehmen.

Das Haus wird von Grund auf instandgesetzt und modernisiert. Die einfacheren Arbeiten übernehmen die Bewohner selbst, um ihre „Muskelhypothek“ abzuarbeiten.  Rainer ist handwerklich begabt und lernt viel. Er wohnt  mit seiner Lebensgefährtin in einer WG. 1983 wird ein Sohn, 1984 eine Tochter und 1989 wieder ein Sohn geboren. Aber auch die Mitbewohner bekommen Kinder. In der Wohngemeinschaft leben zwischenzeitlich einmal 9 Erwachsene und 8 Kinder. Im ganzen Haus wohnen 20 bis 30 Kinder. Es ist das kinderreichste Haus der „Selbsthilfehäuser“. Neben den Bauarbeiten, der Haus- und Kinderarbeit, die Rainer sich mit seiner Partnerin teilt, und gelegentlichen Jobs hat Rainer noch vor sein Studium zu beenden.

Das Sozialpädagogik-Studium hat er aufgegeben, weil er weiß, dass so spannende Projekte wie in den 1970er-Jahren nicht mehr gefördert werden. Er sattelt um und studiert Geschichte. Das Fach hat ihn schon als Schüler fasziniert, und an der TU wird Sozialgeschichte gelehrt, das ihn besonders interessiert. 1990 schließt er das Studium ab mit einer Magisterarbeit über die Bauern in Baden während der Revolution 1918/19. Daran anschließend schreibt er seine Doktorarbeit über die Bauern und Großgrundbesitzer in Brandenburg während der Weimarer Republik und erklärt, warum sie schließlich mehrheitlich Nationalsozialisten wurden. Ein zweijähriges Forschungsstipendium sichert den Lebensunterhalt, doch die Arbeit dauert angesichts der zahlreichen Verpflichtungen viel länger; Rainer muss zwischendurch jobben. Zum Glück ist die Miete niedrig.

1999 trennt sich das Paar, und Rainer zieht in die Friedelstraße (zwei Jahre später in den Körnerkiez) nach Neukölln - trotz seiner Vorurteile. Dort sind die Mieten günstig, aber die Menschen? Sie seien prollig und gingen im Bademantel auf die Straße. Nachdem er zwei Wochen dort wohnt, begegnet er tatsächlich einem Mann im Bademantel. Doch dann nie wieder. Und er entdeckt die sympathische Seite des Neuköllners, dessen Offenheit und Ehrlichkeit. In Neukölln findet Rainer eine Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Puppentheater-Museum. Es ist eine ABM-Stelle für einen Historiker. Für das Archiv hat er den Bestand zu inventarisieren, der insgesamt aus mehr als 4.000 Puppen, tausenden Plakaten und Bühnenstücken und einem riesigen Fundus besteht. Eine ganz neue Welt erschließt sich ihm. Es ist das Puppentheater für Erwachsene, das ihn in seinen Bann zieht. Trotzdem sucht er nach zwei Jahren eine Veränderung und bekommt eine ABM-Stelle im Museum Neukölln, mit der er schon länger geliebäugelt hat. Dort ist er an Ausstellungen beteiligt, arbeitet im Archiv und beschäftigt sich mit der Neuköllner Geschichte in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Was Neukölln alles vorzuweisen hat! Neukölln war zum Beispiel bei den Reformbewegungen führend, sei es bei der Schulreform oder bei der Wohnungspolitik. Die Sozialhygiene war ein wichtiges Thema angesichts des dicht besiedelten Arbeiterwohngebietes. In Neukölln lebten viele Kommunisten, die  sich gegen die Vorherrschaft der Nazis zur Wehr setzten. Rainer vertieft sich in die Geschichte, kann eigene Texte veröffentlichen und hofft als regulärer Mitarbeiter übernommen zu werden. Denn ABM-Stellen sind zeitlich befristet. Und sie werden durch ein wesentlich ungünstigeres Programm ersetzt: MAE. Aus diesem Programm bietet das Museum Rainer eine neue Stelle an. Während seiner zweiten MAE-Stelle beschließt er, dann doch lieber selbstständig zu arbeiten.

Seit 2006 leistet Rainer neben der Museumstätigkeit ehrenamtlich Hausaufgabenhilfe. Diese Arbeit übernimmt er 2007 als Honorartätigkeit, allerdings reicht das nicht zum Leben. Deshalb beginnt er im Rahmen der Erwachsenenbildung MAE-Kräfte u.a. in Geschichte auszubilden, für ihn eine schöne und erfolgreiche Arbeit, auf die er gern zurückblickt. In verschiedenen Gruppen lässt er die Geschichte Neuköllns erarbeiten. Sie lesen die Texte des Schriftstellers Volker Kutscher, dessen Geschichten in der Weimarer Zeit spielen. Sie befassen sich mit dem Bau von Karstadt, organisieren Führungen durch das Haus, beschäftigen sich mit dem Bau des Flughafens Tempelhof, den Ringvereinen und dem politischen Widerstand. Nach zwei Jahren werden auch diese Gelder gestrichen. Rainer fordert, dass der Staat solche Stellen im 1. Arbeitsmarkt anbieten muss, und wenn es nur halbe Stellen sind, die aber ein bescheidenes Leben gewährleisten. Denn auch die Bildung für Erwachsene braucht Kontinuität.

Rainer findet seine neue Aufgabe beim „Bildungspaket Lernförderung“, das 2011 eingeführt wurde. Das Bildungspaket sieht vor, dass Kinder aus armen Familien einen Teil der Ausgaben für Nachhilfe, Sportvereine, Musikunterricht oder ein warmes Essen vom Staat erstattet bekommen. Rainer wird an der Lernförderung der Kinder in der Peter-Petersen-Grundschule, einer erfolgreichen Reformschule, beteiligt. Träger der Lernförderung ist das Nachbarschaftsheim Neukölln. Er wird einer Lehrerin zugeteilt, die ihm nicht nur die Defizite der Schüler vermittelt, sondern ihn auch in die fortschrittlichen Lehrmethoden einführt. Aufgrund der gewonnen Erfahrungen kann Rainer ab 2012 auch als Vertretungslehrer an der Peter-Petersen-Schule arbeiten. Für die Lernförderung aber fordert er, dass es feste Stellen geben muss für gut ausgebildete Nachhilfelehrer, um auch den Kindern eine langfristige Perspektive geben zu können.

Rainer ist längst davon überzeugt, dass der Lehrerberuf das richtige Ziel für ihn ist. Zurzeit gibt es die Möglichkeit als Quereinsteiger Lehrer zu werden. Doch für Historiker stehen die Chancen schlecht, weil es zu viel von ihnen gibt. Es sei denn, eine Schule verlangt ausdrücklich nach einer bestimmten Person. Zurzeit hat er eine Vertretungs-lehrer-Stelle an der Eduard-Möricke-Grundschule, einer normalen Brennpunktschule, deren Lehrmethoden sich erheblich von denen der Peter-Petersen-Schule unterscheiden. Doch auch dort werden neue Lernkonzepte eingeführt.

Entspannung findet Rainer in seinem Schrebergarten in Britz, den er seit fünf Jahren mit seiner neuen Lebenspartnerin unterhält. Das Gemüse, das sie dort anbauen, reicht fast für das ganze Jahr. Die Laube hat er eigenhändig um- und ausgebaut, dort kommen ihm  die Erfahrungen aus dem Kreuzberger Hausprojekt zugute. Seine drei Kinder gehen längst eigene Wege, ein Sohn wohnt allerdings noch immer in der Wrangelstraße.