Donnerstag, 18. Februar 2016

9. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag, 18. Februar 2016

Bei unserem heutigen Erzählcafé wird es um die Gegenwart gehen. Wie kann man Neuköllner Kindern, die häufig aus armen und bildungsfernen Familien kommen, außerhalb der Schule wichtige Erfahrungen ermöglichen? Im Körnerkiez gibt es das „Kochtheater“, das Marion Seifert entwickelt hat, um Kinder neben dem Kochen mit vielen anderen Dingen des täglichen Lebens in Berührung zu bringen. Das „Kochtheater“ ist ein Projekt des Quartiersmanagements Körnerpark, das mit Fördermitteln aus dem Programm Soziale Stadt finanziert wird. Es besteht eine Kooperation mit der Konrad-Agahd-Grundschule, an der 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund aufweisen, und mit vielen anderen Einrichtungen im Körnerkiez.

Sie kommen gemeinsam zu uns, Marion Seifert mit den drei 12-jährigen Mädchen Hanin, Hanan und Anfal sowie Sarah, der Mutter von Anfal, die auch ihren kleinen Sohn mitbringt.



„Unser Kochtheater“  mit Marion Seifert, den Zwillingen Hanin und Hanan, Anfal und ihrer Mutter Sarah

Zuerst berichten die Kinder: Das „Kochtheater“ gibt es schon seit 8 Jahren und findet jeden Freitag und Samstag von 15 bis ca. 19:30 Uhr in den Räumen des Familienbildungszentrums in der Altenbraker Straße 12a statt. Es wird von Marion Seifert geleitet. Im Moment machen 10 Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren mit. Der Kurs ist immer voll, es gibt sogar eine Warteliste, aber auch die Auflage, hauptsächlich Kinder aus der Konrad-Agahd-Schule aufzunehmen. Das ist manchmal sehr schwierig, weil auch andere Kinder aus dem Kiez gern teilnehmen möchten, die aber nicht die Konrad-Agahd-Schule besuchen. Neben dem Kochen werden viele Ausflüge unternommen, dazu zählen Besuche eines Reiterhofs mit Picknick, dreitägige Übernachtungen auf einem Kinderbauernhof, Tretbootfahren - auch mit den Eltern. Neulich haben sie sogar die Feuerwehr besucht, um mehr über den Brandschutz zu erfahren, und selbstgemachte Pralinen als Gastgeschenk mitgebracht.

Damit das alles funktioniert, haben die Kinder gemeinsam mit Marion Regeln aufgestellt. Sie müssen pünktlich erscheinen und absagen, wenn sie krank sind. Außerdem wählen sie einen Gruppensprecher und eine Vertretung. Das läuft ab wie bei einer Klassensprecherwahl: Jeder schreibt einen Namen auf einen Zettel. Sprecher wird das Kind, dessen Name am meisten genannt wurde. Das Kochen wird gemeinsam organisiert. Wenn die Kinder freitags zusammenkommen besprechen sie, was es am Samstag zu essen geben soll und wer was einkauft. Manchmal stimmen sie auch Vorschläge ab. Oft planen sie zwei Gerichte, damit jeder etwas bekommt, was ihm auch schmeckt. Der Nachtisch darf natürlich nicht fehlen. Die Rezepte werden aufgeschrieben; später entstehen daraus Kochbücher. Jedes Kind kann entscheiden, welches Rezept es in sein Kochbuch aufnehmen möchte. Es kann es natürlich abwandeln und variieren. Dann wird es möglichst fehlerfrei übertragen und mit Schnörkeln oder eine kleinen Zeichnung angereichert. Im Lauf eines Jahres wird das Kochbuch immer dicker und schöner. Es gibt ehemalige Schüler, die noch heute nach diesem Buch kochen. Bei manchen Kiezfesten oder Veranstaltungen im Leuchtturm übernehmen die Kinder des „Kochtheaters“ eine Art Catering; das heißt, sie präsentieren dort ihre Fähigkeiten. Manchmal laden die Kinder jemand ein ihr Projekt kennenzulernen. Es kamen zum Beispiel die Sozialpädagogin der Konrad-Agahd-Schule und eine Journalistin des Tagesspiegels, die sich sogar am Kochen beteiligte. Beide Besucherinnen verabschiedeten sich begeistert. Selbst der RBB hat die Kinder schon interviewt. Ein- bis zweimal im Jahr kochen sie gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen, die sie dadurch näher kennenlernten.

Dann ist Marion Seifert an der Reihe. Wie sie auf die Idee des „Kochtheaters“ gekommen ist? Ursprünglich hat sie das Hotelfach gelernt und sich bis zur Geschäftsführerassistentin hochgearbeitet. 7 Jahre lang war sie im Hotel Berlin beschäftigt. Dann bekam sie eine Tochter. Nach dem Mutterschutz war es jedoch unmöglich, sich mit den Schichtarbeitszeiten des Hotels zu koordinieren. Deshalb suchte sie sich zu ihrer Lebenssituation passende Arbeiten. Später übernahm sie die Leitung des „Märkischen Landhauses“ in Mariendorf. Als das Haus Jahre später schließen musste, beschloss sie einen anderen beruflichen Weg einzuschlagen. Mit Kindern arbeiten war ihr Wunsch. Mit Kindern konnte sie doch schon immer gut ...

Diesen Wunsch konnte Marion beim Neuköllner Nachbarschaftszentrum realisieren, wo sie eineinhalb Jahre lang das Nachmittagsprogramm der Kinderfreizeit gestaltete. Sie dachte sich jeden Tag etwas Neues aus und veranstaltete spannende Spiele, Malen, Modenschauen; auch wurde gemeinsam gekocht. Eines Tages, und dann immer öfter, kamen die Kinder auf sie zu und fragten: „Marion, wann kochst Du wieder mit uns?“  Das brachte sie auf die Idee ein eigenständiges Kochprojekt aufzubauen. Dazu musste sich Marion allerdings weiter qualifizieren. Sie nahm an mehreren pädagogischen Fortbildungen teil. Daneben entwickelte sie das „Kochtheater“.

Marion möchte, dass sich die Neuköllner Kinder nicht nur gut und gesund ernähren, sondern darüber hinaus Dinge kennenlernen, die ihnen in der Regel nicht ermöglicht werden können, aber für das spätere Leben wichtig sind. Mit dem Kochen lässt sich vieles verbinden; Fähigkeiten wie Organisation, Kreativität, Höflichkeit und Sozialverhalten sowie Sauberkeit und Ordnung lernen die Kinder dabei scheinbar wie von selbst. Beim Kochen nach Rezepten sind Mathematik und Rechtschreibung gefragt. Die Kinder kaufen das Gemüse selbst ein, sie suchen es aus und bezahlen es; dadurch beginnen sie es wertzuschätzen. Das Schnippeln von Zwiebeln und Gemüsen erfordert Feinmotorik und Geschick. Schmeckt das Gericht und sieht es auch appetitanregend aus, so ist die Mahlzeit gelungen, und die Kinder können stolz darauf sein. Das stärkt das Selbstbewusstsein. Die Kinder begreifen, dass Regeln wichtig sind, damit eine so große Gruppe funktioniert. Marion legt Wert darauf, dass das „Kochtheater“ außerhalb der Schule stattfindet. Die Kinder sollen lernen, dass auch dort Regeln einzuhalten sind, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit eine wichtige Rolle spielen. Das Programm des „Kochtheaters“ ist weit gefächert und die Ausflüge, die Marion mit den Kindern gemeinsam gestaltet, sind ein wichtiger Bestandteil. Kutschfahrten durch den Spreewald, ein Tag auf einem Reiterhof, Besuch des Ritter-Sport-Ladens in Mitte mit anschließendem Gang durch das Museum am Checkpoint-Charlie – damit sind einmalige Erlebnisse verbunden. Die Kinder beteiligen sich finanziell an den Ausflügen; auch helfen die bei den Kiezfesten eingeworbenen Spenden. Die wichtigsten Feiertage wie Ostern und Weihnachten werden gemeinsam mit den Eltern gefeiert.

Die Finanzierung des Projektes ist eine Herausforderung für Marion. Sie muss es immer wieder beantragen. Jedes Mal zittert sie, ob es wirklich genehmigt wird. Wenn nicht, müsste sie das Projekt aufgeben. Werden die Kinder in der nächsten Saison wieder ein „Kochtheater“ haben können? Hier sind Marion und die Kinder von den politischen Entscheidungen abhängig. Marion kämpft für das „Kochtheater“. Sie bezeichnet es als „ihr Baby“. Es ist zu hoffen, dass dieses einzigartige und erfolgreiche Projekt, das auch an Wochenenden und in den Ferien eine sinnvolle Beschäftigung bietet, noch lange gefördert wird.

Donnerstag, 4. Februar 2016

8. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag, 04. Februar 2016 - Anneliese Gergs sagt ab - Meine Geburt im Spätsommer 1944

Am frühen Morgen läutet das Telefon. Es ist Anneliese Gergs mit einer schrecklich rauen Stimme: „Ich bin schwer erkältet und muss für heute absagen!“ Schade, ich wünsche der alten Dame gute Besserung. Doch worüber werden wir heute im Erzählcafé sprechen? Mir fällt ein, dass meine Mutter anlässlich meines 50. Geburtstages einen berührenden Bericht über die Umstände meiner Geburt im Zweiten Weltkrieg verfasst hat. Diesen werde ich heute Nachmittag vorlesen.
Alle Besucher sind ein wenig enttäuscht, dass Frau Gergs heute nicht erscheinen kann. Aber ich tröste sie und verspreche, dass ich einen angemessenen Ersatz bieten werde und beginne vorzulesen.
 

Es ist eine Geschichte meiner Eltern, von Dr. Hans und Käthe Borgelt. Mein Vater, er hatte gerade sein Publizistikstudium beendet, war im Zweiten Weltkrieg als Zensuroffizier bei der Propagandaabteilung im besetzten Frankreich verpflichtet. Meine Mutter, mit mir schwanger, konnte durch das Zusammenwirken glücklicher Zufälle bei ihm sein, was eigentlich nicht erlaubt war. Die beiden hatten 1940 in Berlin geheiratet und waren sehr ineinander verliebt. Meine Mutter wurde zuerst in Varennes als Stabshelferin eingesetzt und konnte, als ihre Schwangerschaft offensichtlich wurde,  in Paris als Assistentin eines deutschen Arztes in einem von Deutschen requirierten Krankenhaus arbeiten. Mein Vater wurde ebenfalls nach Paris beordert. Die beiden waren glücklich endlich zusammensein zu können. So makaber es klingt, sie genossen ihren Aufenthalt in Paris mit den vielen kulturellen Angeboten, sie sprachen perfekt französisch - bis die Amerikaner kamen, um Frankreich zu befreien. Meine Mutter musste, inzwischen hochschwanger, fliehen. Ihr gelang es Darmstadt zu erreichen, wo sie Verwandte hatte. Kaum hatte sie die Entbindungsstation des Darmstädter Krankenhauses im Zentrum betreten, kam ich auch schon zur Welt. Es war der 31. August 1944. Da meine Mutter sich noch erholen musste und außerdem den Schwestern so viel Heiteres über Paris erzählen konnte, sollte sie noch einige Tage im Krankenhaus verbringen und am 11. September entlassen werden. In der Nacht vom 10. zum 11. September gab es einen schweren Luftangriff, der die gesamte Innenstadt, also auch das Krankenhaus in Brand setzte. Meine Mutter rettete mich mit nasser Kleidung aus den Flammen. Bei den Verwandten fanden wir Unterschlupf, aber sie mussten auch andere Ausgebombte aufnehmen. Und die Bombardierungen wurden fortgesetzt. Ich war durch die Verrußung schwer erkrankt, bekam kaum noch Luft und konnte nicht trinken, deshalb beschloss meine Mutter sich nach Berlin durchzuschlagen, wo ihr Wohnort war. Aber auch dort war es unmöglich zu bleiben. Wegen der furchtbaren Bombennächte waren die Menschen in Panik. Wir fuhren weiter nach Eberswalde, wo sich meine Eltern kennengelernt hatten und die Mutter meines Vaters wohnte. Im Krankenhaus aber wollte man mich nicht aufnehmen und uns zurück nach Berlin schicken. Meine Mutter war der Ohnmacht nahe. Dann das unglaubliche Glück, als plötzlich eine alte Bekannte an der Aufnahme erschien, meiner Mutter das Baby abnahm und sagte: „In einer Woche kannst du dein Kind gesund wieder abholen.“ Sie war eine befreundete Krankenschwester, die in demselben Pariser Krankenhaus wie meine Mutter gearbeitet hatte.

Nachdem ich den natürlich viel längeren Text mit ausführlichen Beschreibungen einzelner Begebenheiten auf der Flucht vorgelesen habe, beginnt eine lebhafte Diskussion. Angesicht der Flüchtlingskrise ist der Text wieder brandaktuell. Meiner Mutter wurde eine bestimmte Naivität und Kritiklosigkeit dem Naziregime gegenüber unterstellt. Obwohl ich das auch so empfinde, tut es mir weh so etwas hören zu müssen. Mein Vater, der nach dem Krieg Journalist und Autor war, hat über diese Zeit Bücher geschrieben und seine persönliche politische Aufarbeit geleistet. Einer der älteren Anwesenden berichtet, wie er die Bombennächte in Neukölln im Luftschutzkeller erlebt hat und wie schwierig es ist, heute jungen Menschen diese Situation begreiflich zu machen. Es ist ein intensiver, emotionaler Nachmittag, und ich habe das Gefühl, dass wir uns ein wenig näher gekommen sind.