Donnerstag, 4. Februar 2016

8. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag, 04. Februar 2016 - Anneliese Gergs sagt ab - Meine Geburt im Spätsommer 1944

Am frühen Morgen läutet das Telefon. Es ist Anneliese Gergs mit einer schrecklich rauen Stimme: „Ich bin schwer erkältet und muss für heute absagen!“ Schade, ich wünsche der alten Dame gute Besserung. Doch worüber werden wir heute im Erzählcafé sprechen? Mir fällt ein, dass meine Mutter anlässlich meines 50. Geburtstages einen berührenden Bericht über die Umstände meiner Geburt im Zweiten Weltkrieg verfasst hat. Diesen werde ich heute Nachmittag vorlesen.
Alle Besucher sind ein wenig enttäuscht, dass Frau Gergs heute nicht erscheinen kann. Aber ich tröste sie und verspreche, dass ich einen angemessenen Ersatz bieten werde und beginne vorzulesen.
 

Es ist eine Geschichte meiner Eltern, von Dr. Hans und Käthe Borgelt. Mein Vater, er hatte gerade sein Publizistikstudium beendet, war im Zweiten Weltkrieg als Zensuroffizier bei der Propagandaabteilung im besetzten Frankreich verpflichtet. Meine Mutter, mit mir schwanger, konnte durch das Zusammenwirken glücklicher Zufälle bei ihm sein, was eigentlich nicht erlaubt war. Die beiden hatten 1940 in Berlin geheiratet und waren sehr ineinander verliebt. Meine Mutter wurde zuerst in Varennes als Stabshelferin eingesetzt und konnte, als ihre Schwangerschaft offensichtlich wurde,  in Paris als Assistentin eines deutschen Arztes in einem von Deutschen requirierten Krankenhaus arbeiten. Mein Vater wurde ebenfalls nach Paris beordert. Die beiden waren glücklich endlich zusammensein zu können. So makaber es klingt, sie genossen ihren Aufenthalt in Paris mit den vielen kulturellen Angeboten, sie sprachen perfekt französisch - bis die Amerikaner kamen, um Frankreich zu befreien. Meine Mutter musste, inzwischen hochschwanger, fliehen. Ihr gelang es Darmstadt zu erreichen, wo sie Verwandte hatte. Kaum hatte sie die Entbindungsstation des Darmstädter Krankenhauses im Zentrum betreten, kam ich auch schon zur Welt. Es war der 31. August 1944. Da meine Mutter sich noch erholen musste und außerdem den Schwestern so viel Heiteres über Paris erzählen konnte, sollte sie noch einige Tage im Krankenhaus verbringen und am 11. September entlassen werden. In der Nacht vom 10. zum 11. September gab es einen schweren Luftangriff, der die gesamte Innenstadt, also auch das Krankenhaus in Brand setzte. Meine Mutter rettete mich mit nasser Kleidung aus den Flammen. Bei den Verwandten fanden wir Unterschlupf, aber sie mussten auch andere Ausgebombte aufnehmen. Und die Bombardierungen wurden fortgesetzt. Ich war durch die Verrußung schwer erkrankt, bekam kaum noch Luft und konnte nicht trinken, deshalb beschloss meine Mutter sich nach Berlin durchzuschlagen, wo ihr Wohnort war. Aber auch dort war es unmöglich zu bleiben. Wegen der furchtbaren Bombennächte waren die Menschen in Panik. Wir fuhren weiter nach Eberswalde, wo sich meine Eltern kennengelernt hatten und die Mutter meines Vaters wohnte. Im Krankenhaus aber wollte man mich nicht aufnehmen und uns zurück nach Berlin schicken. Meine Mutter war der Ohnmacht nahe. Dann das unglaubliche Glück, als plötzlich eine alte Bekannte an der Aufnahme erschien, meiner Mutter das Baby abnahm und sagte: „In einer Woche kannst du dein Kind gesund wieder abholen.“ Sie war eine befreundete Krankenschwester, die in demselben Pariser Krankenhaus wie meine Mutter gearbeitet hatte.

Nachdem ich den natürlich viel längeren Text mit ausführlichen Beschreibungen einzelner Begebenheiten auf der Flucht vorgelesen habe, beginnt eine lebhafte Diskussion. Angesicht der Flüchtlingskrise ist der Text wieder brandaktuell. Meiner Mutter wurde eine bestimmte Naivität und Kritiklosigkeit dem Naziregime gegenüber unterstellt. Obwohl ich das auch so empfinde, tut es mir weh so etwas hören zu müssen. Mein Vater, der nach dem Krieg Journalist und Autor war, hat über diese Zeit Bücher geschrieben und seine persönliche politische Aufarbeit geleistet. Einer der älteren Anwesenden berichtet, wie er die Bombennächte in Neukölln im Luftschutzkeller erlebt hat und wie schwierig es ist, heute jungen Menschen diese Situation begreiflich zu machen. Es ist ein intensiver, emotionaler Nachmittag, und ich habe das Gefühl, dass wir uns ein wenig näher gekommen sind.

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