Dienstag, 21. Juni 2016

16. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 9. Juni 2016

Jan-Christopher Rämer
Bezirksstadtrat für Bildung, Schule, Kultur und Sport

Wir freuen uns auf den Besuch des Neuköllner Bezirksstadtrats für Bildung, Schule, Kultur und Sport: Jan-Christopher Rämer. Doch dieses Ereignis ist überschattet von einem Unfall, der bei einer Klassenfahrt einer Erstklässlerin das Leben gekostet hat. Die Stimmung im Erzählcafé ist bedrückt; das Mädchen gehörte zu einer Schule aus unserem Kiez. Einige von uns fühlen sich mit der Schule und den Lehrerinnen und Lehrern eng verbunden. Nachdem der Bezirksstadtrat Platz genommen hat, halten wir gemeinsam inne. Es tut gut einen Moment nicht zu reden.

Die Nachricht erreichte den Bezirksstadtrat beim Theatertreffen der Neuköllner Grundschulen, wo er ein fröhliches und anerkennendes Grußwort sprechen wollte. Für ihn allerdings stand die Welt gerade still. Trotzdem durfte er sich noch  nichts anmerken lassen. Während der Theateraufführung, die an ihm vorbeirauschte, versuchte er sich zu fassen. Das Grußwort gelang dann. Später kümmerte er sich gemeinsam mit dem Oberschulrat um die betroffene Schule, Kinder, Lehrer und Eltern, ließ die Klasse nach Hause holen und begleitete sie bei der Trauerfeier.

Ein Unglück auf einer Klassenfahrt kann man trotz aller Vorsichtsmaßnahmen nicht ausschließen, meint der Schulstadtrat. Es wäre falsch, deshalb auf solche Reisen zu verzichten. Klassenfahrten gehören unverzichtbar zur Schulbildung; die Kinder können wichtige Erfahrungen machen, die der Schulalltag nicht bieten kann. Allerdings müssen die Voraussetzungen verbessert werden. So hat Jan-Christopher Rämer gemeinsam mit Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey das Projekt „Neuköllner Schwimmbär“ initiiert, damit mehr Kinder die Möglichkeit bekommen Schwimmen zu lernen. Noch vor eineinhalb Jahren konnte jedes zweite Kind der 3. Klasse nicht schwimmen! Hier geht es nicht um Freizeitspaß, sondern ums Überleben.

Jan-Christopher erinnert sich, wie er sich fühlte, als sein jüngster Bruder starb, der noch zur Schule ging. Er wollte ihn doch beschützen, aber es stand nicht in seiner Macht. Die Schule des Bruders sorgte in vorbildlicher Weise für einen Ort, wo die Mitschüler/innen trauern konnten. Seine Freunde gestalteten das Grab und pflegen es regelmäßig. Jan-Christopher brauchte viel Zeit, um den Verlust zu verarbeiten. Trotzdem ist diese Erfahrung wichtig, findet er. Seitdem lebt er bewusster im Hier und Jetzt und nutzt die Chancen, die sich ihm bieten.

Vielleicht ist er auch deshalb schon so jung Bezirksstadtrat geworden. Denn als der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky zum 31. März 2015 seinen Ruhestand ankündigte und sich die amtierende Bildungsstadträtin Dr. Franziska Giffey der Wahl zur neuen Bezirksbürgermeisterin stellte, beschloss Jan-Christopher kurzentschlossen sich als Nachfolger im Bildungsressort ins Gespräch zu bringen. „Ich kannte die Verwaltung, war ja gerade persönlicher Referent des parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesbauministerium, konnte Entscheidungen fällen und hatte keine Scheu vor dem riesigen Arbeitspensum, das zwischen 60 bis 70 Wochenstunden umfasst. Aber das reizvollste an der neuen Aufgabe war die „Heimkehr“ nach Neukölln, weg von der manchmal abgehobenen Bundesebene zurück in den Heimatbezirk mit seinen konkreten Aufgaben. Ich traute mir die Aufgabe zu und wollte sie trotz meiner erst 34 Jahre übernehmen.“ Im April 2015 legte Jan-Christopher Rämer den Amtseid als neuer Bezirksstadtrat für Bildung, Schule, Kultur und Sport ab.

Sein Weg bis dahin ist nur folgerichtig: Jan-Christopher Rämer wird 1981 in Berlin geboren. 10 Jahre lang lebt er mit seinen Eltern und den drei Geschwistern in Britz, dann folgen 10 weitere Jahre in Buckow. Seine erste eigene Wohnung findet er an der Hermannstraße, die er ebenfalls 10 Jahre bewohnt. Jan-Christopher kennt also sowohl den bürgerlichen Süden von Neukölln, als auch den Norden, in dem viele Migranten leben, soziale Probleme offenkundig sind und der noch nicht den Ruf als Partymeile hat. Er besucht die Fritz-Karsen-Gemeinschaftsschule, die als Reformschule bekannt ist, und legt dort sein Abitur ab.

Zum Zivildienst geht er nach Pforzheim, weil das eine gute Gelegenheit ist, eine kleinere Stadt und das Bundesland Baden-Württemberg kennenzulernen. Er hat die Aufgabe eines Hausmeisters in einem internationalen Jugendclub zu übernehmen. Der Leiter des Clubs führt ihn in die Kommunalpolitik Pforzheims ein. Er nimmt ihn mit zu fachlichen Treffen, erläutert ihm zum Beispiel die Aufgaben des Jugendhilfeausschusses beim Bezirksstadtrat, wie die politischen Entscheidungen gefällt werden und welche Rolle der Oberbürgermeister hat. In Pforzheim entwickelt Jan-Christopher die Grundlagen für sein kommunalpolitisches Verständnis.

Mit den Jugendlichen spielt er Fußball. Dabei lernt er Flüchtlinge kennen und das Problem der „Residenzpflicht“. Es sind Albaner aus dem Kosovo, die im Jahr 2000 vom Balkan nach Deutschland geflohen sind und die zur Jugendclub-Mannschaft gehören. Immer wenn ein Auswärtsspiel – zum Beispiel in einem benachbarten Landkreis – stattfindet, sind die jungen Albaner ausgeschlossen.

Gleichzeitig ist der Aufenthalt in Pforzheim für ihn wie ein „Auslandsjahr“, meint er scherzhaft, denn anfangs kann er die Menschen kaum verstehen. Er muss sich erst in die verschiedenen Dialekte einhören, bis er zum Beispiel das Badische vom Schwäbischen unterscheiden lernt. Aber er „integriert“ sich schnell. In seiner Freizeit spielt er Eishockey beim ESC Bad Liebenzell e.V. in der Baden-Württemberg-Liga. Über die Spiele wird in der Lokalpresse ausführlich berichtet. Von Kindesbeinen an ist das sein Lieblingssport. Im Eisstadion Neukölln hat er dreimal wöchentlich beim OSC Berlin e.V. trainiert und war Kapitän unterschiedlicher Mannschaften. Wenn die Pforzheimer Sportsfreunde von ihrem „G’schäft“ reden, glaubt Jan-Christopher er habe es mit wohlhabenden selbstständigen Geschäftsleuten zu tun – das scheint in diesem reichen Bundesland wohl üblich zu sein... Bis er nachfragt: es ist das „Geschäft beim Daimler“ gemeint; er spielt also mit ganz normalen Arbeitern und Angestellten.

An der Universität in Göttingen absolviert er das Grundstudium im Fach Geografie, daneben vertieft er sich in die Fächer Politikwissenschaft,  Ethnologie und Volkswirtschaftslehre. Er hat sich bewusst für eine kleine Universitätsstadt mit nur rund 120.000 Einwohnern entschieden - als Kontrastprogramm zu Berlin. Erst sollte es Heidelberg sein, doch als ihm dort anlässlich des Eignungstest die vielen Touristen begegneten, suchte er nach einer Alternative. In Göttingen lebt die Schwester seiner Freundin, die ihn in ihre studentische Wohngemeinschaft aufnimmt. Sehr bald stellt er fest, dass es sich in der kleinen Stadt sehr gut leben lässt. Neukölln ist mit seinen 300.000 Einwohnern fast dreimal so groß wie Göttingen. Legt man die Stadtpläne beider Orte übereinander, sieht man, dass es vom Hermannplatz bis Rudow weiter ist als von den Vororten Weende bis Geismar, wobei die gesamte Innenstadt durchquert werden muss. Innerhalb Göttingens braucht man nicht miteinander zu telefonieren, wie es in Berlin üblich ist. Man springt schnell aufs Fahrrad und bespricht nach ein paar Minuten Fahrzeit alles bei einer Tasse Kaffee. In einer kleinen Stadt kann man in kurzer Zeit viel schaffen. Alle wichtigen Einrichtungen, auch die Uni, befinden sich in der Innenstadt. Es ist auch nichts Ungewöhnliches in Göttingen zu wohnen und beispielsweise in Kassel oder Frankfurt am Main zu arbeiten. Der Arbeitsweg ist genau so zeitaufwendig wie für jemand, der beispielsweise in Rudow wohnt und in Spandau arbeitet.

An der Uni in Göttingen beeindruckt ihn besonders der Hochschullehrer, Parteienforscher und Sozialdemokrat Professor Peter Lösche. Jan-Christopher fühlt sich zur autonomen grünen Hochschulgruppe hingezogen; er sitzt für sie im Studierendenparlament. Er hat zwar den Ruf als „Sozi“, aber der dortigen Juso-Hochschulgruppe wollte er nicht beitreten. Als Jan-Christopher später Peter Lösche in Berlin wiedersieht, ist er längst Juso-Vorsitzender in Neukölln und dem Professor freundschaftlich verbunden. Als Genossen duzen sie sich nun. Peter Lösche sagt ihm, dass auch er einmal in Neukölln Juso-Chef gewesen war, was Jan-Christopher tief beeindruckt. Leider ist Peter Lösche im März 2016 verstorben.

Nach zweieinhalb Jahren, im Jahr 2004, kehrt Jan-Christopher zurück nach Neukölln. Inzwischen kennt er Göttingen wie seine Westentasche, und in den wenigen Kneipen trifft man immer dieselben Leute, besonders wenn man Hochschulpolitik macht und Sozialwissenschaften studiert. Eine Veränderung ist längst angesagt.

Sein Geografie-Studium setzt er an der Universität Potsdam fort und schließt es mit der Magisterprüfung ab. Daneben absolviert er in Neukölln ein Praktikum beim SPD-Bundestagsabgeordneten Dr. Dietmar Staffelt. Es folgt der Eintritt in die SPD, nicht ohne sich intensiv mit den Parteiinhalten auseinanderzusetzen. Manche Dinge sieht er kritisch. Aber er will nicht zu denen gehören, die immer nur meckern, sondern etwas bewegen. Bei der SPD sieht er die besten Möglichkeiten politische Arbeit zu machen. Doch der Anfang ist ernüchternd. Der Parteiapparat erscheint ihm wie ein riesiger, schwer beweglicher Tanker, den er in einem winzigen Ruderboot zu begleiten versucht. Noch sind in der Neuköllner SPD nur wenige junge Leute aktiv, das ändert sich jedoch mit dem zunehmenden Zuzug jüngerer Menschen in den Norden von Neukölln. Jan-Christopher beginnt den Juso-Kreisverband wieder aufzubauen. Von 2005 bis 2008 ist er Juso-Kreisvorsitzender in Neukölln, danach stellvertretender Juso-Landesvorsitzender und Mitglied des Juso-Bundesausschusses. Seit 2006 ist er in der BVV Neukölln aktiv, erst als Bürgerdeputierter und von 2011- 2015 als Bezirksverordneter sowie als Ausschussvorsitzender (des Ausschusses für Grünflächen, Natur- und Umweltschutz, bis 2014). 2014 wird er zum Vorsitzenden der SPD Gropiusstadt und zum stellvertretenden Kreisvorsitzenden der SPD gewählt. Von 2012-2014 ist er darüber hinaus Mitglied im Landesvorstand der SPD Berlin.

Jan-Christopher engagiert sich aber nicht nur in der Partei, sondern auch konkret im Stadtteil. Von 2006-2011 ist er Sprecher des Quartiersrates im Rahmen des Quartiersmanagements Körnerpark, außerdem unterstützt er das Nachbarschaftsheim Neukölln e.V. durch seine Rolle als Vorsitzender des Fachbeirats und von 2011-2014 als Mitglied des Vorstands. Die Tätigkeit beim Quartiersmanagement vermittelt ihm entscheidende Impulse. Sie ist eine wunderbare praktische Ergänzung zu seinem Studium der Stadtgeografie, bei dem er sich u.a. mit Beteiligungsprozessen beschäftigt. Unter den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in den Neuköllner Kiezen sind zwei, die sich am wenigsten für eine konkrete Partizipation vor Ort gewinnen lassen: die Jungen um die Zwanzig und Menschen mit Migrationshintergrund. Dafür gibt es natürlich bestimmte Erklärungen. Jan-Christopher möchte jedenfalls nicht zu den apathischen jungen Leuten gehören und engagiert sich bewusst. Im Quartiersrat spielt Parteienzugehörigkeit keine Rolle; Priorität haben die gemeinsam beschlossenen Verbesserungen für den Kiez. Jan-Christopher erlebt, wie sich aus den Ideen der Bewohner Projekte entwickeln, die schließlich in die Realität umgesetzt werden. Man muss sich nur darum bemühen. Stadtteilveränderungsprozesse und Quartiersmanagement sind auch die Themen seiner Magisterarbeit.

Trotz dieser vielen ehrenamtlichen Aufgaben verliert Jan-Christopher die Bundespolitik und auch sein mögliches Berufsfeld nicht aus den Augen. Er wird studentischer Mitarbeiter beim Bundestagsabgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, dem die kommunale Umsetzung politischer Ziele am Herzen liegt. Er erlebt einen Chef, der sich Zeit für seine Mitarbeiter nimmt und sie berät, auch wenn es spät am Abend ist. Dr. Rossmann ist u.a. Vorsitzender des Deutschen Volkshochschulverbandes. Bei einer späteren Begegnung, als  Jan-Christopher schon Bildungsstadtrat ist, kann er ihm stolz sagen, dass er jetzt auch eine Volkshochschule hat ... Dann wird er Referent des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion für den Bereich Stadtentwicklung. Sein Weg zu Arbeit mit der S-Bahn – von Hermannstraße bis Unter den Linden – führt ihm täglich vor, wie weit auf dieser relativ kurzen Strecke vom Arbeiter- und Migrantenviertel bis zum Regierungsbezirk die soziale Schere auseinanderklafft.  Das Quartiersmanagement ist eines der Instrumente, mit denen das Leben in den Kiezen gerechter gestaltet werden kann. Jan-Christopher berichtet seinem Chef immer wieder begeistert von den Plänen und Erfolgen des Quartiersmanagements im Körnerkiez. Ihm ist längst klar, dass der Bund das Volumen für die Städtebauförderung aufstocken und die SPD das Thema erneut in ihr Wahlprogramm aufnehmen muss.

Als er 2013 persönlicher Referent des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bau- und Umwelt-Bundesministerium (im Verantwortungsbereich Städtebauförderung und Soziale Stadt) wird, kann er sein Fachwissen und die praktischen Erfahrungen an entscheidender Stelle einbringen. Er ist dabei, als in den Koalitionsgesprächen noch unter der Leitung von Minister Dr. Peter Ramsauer (CSU) die Höhe der Bundesmittel für die Städtebauförderung verhandelt wird. Das SPD-Förderziel – Erhöhung von 455 auf 750 Millionen Euro – wird durchgesetzt und erstaunlicherweise von der CDU gar nicht angezweifelt. Jan-Christopher darf den Staatssekretär durch das Quartiersmanagement-Gebiet Körnerpark führen und ihn auch später bei einer Deutschlandreise begleiten, um ihm die Ergebnisse von Bürgerbeteiligung in der Praxis zu erläutern.  Wenn man weiß, wie viele Bolzplätze, Hausaufgabenhilfen, Kita-Sprachförderungen usw. in der nächsten Legislaturperiode realisiert werden können, bekommen die dafür bestimmten Gelder ihre eigene Wertigkeit.

Aufgabe des Parlamentarischen Staatssekretärs – und somit auch seines persönlichen Referenten - ist es ebenfalls, die politischen Beschlüsse aus den Koalitionsverhandlungen umzusetzen. Die Mitarbeiter des Umwelt- und Bauministeriums haben die Verwaltungs- und haushaltstechnischen Vorschriften zu entwickeln, damit die Gelder verteilt werden können. Jan-Christopher sieht große Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Verwaltung und muss sein Vorurteil, dass Verwaltung manchmal umständlich ist, revidieren. Nach einem Jahr sind die Programme aufgelegt, und die Fördermittel des Bundes können fließen. Jetzt sind die Länder und Kommunen an der Reihe. Die Finanzierung in den einzelnen Quartiersmanagementgebieten wird je zu einem Drittel, von Bund, Land und Kommune getragen. Berlin hat mehr als 30 QM-Gebiete und trägt als Land und Kommune zwei Drittel der Kosten.

In dieser Situation nutzt Jan-Christopher die Chance als Bezirksstadtrat nach Neukölln zurückzukehren, dorthin, „wo das Geld ausgegeben wird“. Manche seiner Kollegen halten diese Entscheidung das Ministerium zu verlassen in puncto „Karriere“ für nicht vernünftig, doch Jan-Christopher will sich unbedingt der konkreten Arbeit im Bezirk widmen. Im Körnerkiez kann er Projekte besichtigen, die er vor wenigen Jahren mit in die Wege geleitet hat, wie die Umgestaltung des Kirsten-Heise-Platzes, den Vorplatz und die Caféteria  des Albrecht-Dürer-Gymnasiums, den Bolzplatz neben dem Körnerpark.  Es freut ihn, dass die Milieuschutzverordnung für bestimmte Nord-Neuköllner Kieze erlassen wurde, wofür er als Mitglied des Ausschusses für Stadtentwicklung der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung gekämpft hat. Sein Aufgabenbereich im schwierigen Bezirk Neukölln ist natürlich noch viel größer. Er ist für 60 Schulen zuständig sowie zahlreiche Kultur- und Sporteinrichtungen. Alle seine Schulen hat er in den ersten Monaten besucht. Weitere Schulprojekte sind in Arbeit. Im Juni dieses Jahres eröffnete er gemeinsam mit der Bürgermeisterin die große 100-Tage-Feier anlässlich des hundertsten Geburtstags des Körnerparks ­– in historischen Kostümen.

Jan-Christopher arbeitet gern und viel für Neukölln. Mit seinen jetzt 35 Jahren ist er der jüngste männliche Bezirksstadtrat in Berlin. Auf korrekte Kleidung legt er deshalb besonders viel Wert, auch um den oftmals viel älteren Mitarbeitern mit Respekt zu begegnen. Er bemüht sich ein „guter Chef“ zu sein, indem er die Arbeit im Team und „auf Augenhöhe“ bevorzugt. Er ist frisch verheiratet. Dass er privat wenig Zeit hat, versteht seine Frau; sie ist selbst politisch aktiv.










Donnerstag, 9. Juni 2016

15. Erzählcafé im Körnerkiez

26. Mai 2016

Thomas Lindemann - Neu-Neuköllner und Buchautor


Thomas Lindemann hat ein paarmal das Erzählcafé besucht. Daher kenne ich ihn flüchtig. Ich habe mitbekommen, dass er an einem Buch über Neukölln arbeitet, aber nicht, über welches Thema er schreibt. Bei der Buchvorstellung im Valentin Stüberl war ich schließlich dabei. Es ist eine Sozialreportage und heißt: „Keine Angst, hier gibt’s auch Deutsche! Unser neues Leben im Problemkiez“ (Berlin-Verlag). Er beschreibt, wie das Leben in Prenzlauer Berg für seine wachsende Familie immer teurer wird; eine geeignete Wohnung ist für sie unbezahlbar geworden. Deshalb zieht er zum Entsetzen seiner gut situierten Freunde in das als Problembezirk verschrieene Neukölln.  Trotz aller Warnungen und unguten Voraussagungen lebt sich die Familie in der so ganz anderen Welt gut ein und entdeckt den Wert von Vielfalt und Lebendigkeit.

Ich lade ihn ein, im Erzählcafé über sich und den Hintergrund des Buches zu berichten.

Thomas Lindemann ist Mitte 40 und stammt aus Hamburg. Dort hat er Psychologie studiert. Er schreibt für verschiedene Zeitungen, macht Musik, lebt in einer günstigen Zweizimmer-Wohnung in Eppendorf und fühlt sich rundum wohl. Ein interessanter Job als vertretender Kulturredakteur bei der Welt am Sonntag in Berlin ist der einzige Grund Hamburg im Jahr 2001 zu verlassen. Berlin gefällt ihm, besonders das vielfältige Kulturleben mit Musik, neuen Büchern und interessanten Kunstausstellungen. Er ist überrascht über die Weltoffenheit und Internationalität dieser Stadt, die ihm immer wieder andere Aspekte eröffnen. Deshalb beschließt er, nach Ablauf des Jobs und einem halbjährigen Amerikaaufenthalt nach Berlin zurückzukehren und sich dort niederzulassen. Im Jahr 2002 mietet sich Thomas in der Neuköllner Hobrechtstraße ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Neukölln ist noch nicht so angesagt wie heute, es gibt keine besonderen Bars oder Restaurant. Seine kulturinteressierten Freunde meiden die Gegend um die Hobrechtstraße und schlagen ihm bei jeder Verabredung vor sich in Mitte zu treffen: „Steig doch schnell in die U8“. Thomas Wohnung liegt über einem türkischen Café, wo die Musik bis tief in die Nacht in voller Lautstärke dudelt und die einzigen drei männlichen Gäste Kette rauchen. Heute befindet sich an demselben Ort eine schicke Szenekneipe, in der exotische Cocktails gereicht werden.

Thomas bleibt nur zwei Monate in der Hobrechtstraße. Dann zieht er mit seiner Frau nach Prenzlauer Berg. Sie finden eine schöne, bezahlbare Wohnung und bekommen im Lauf der Zeit drei Kinder. Thomas arbeitet als freiberuflicher Journalist und Autor, seine Frau ist Kunsthistorikerin und leitet eine Buchhandlung. Als sie Mutter wird und mit ihrem Chef über die Möglichkeit einer Teilzeitanstellung spricht, lehnt er ab. So arbeiten beide als freie Autoren und teilen sich die Kinderarbeit. Sie veröffentlichen mehrere Bücher über Kinderziehung, eines wird überraschenderweise ein Bestseller. (Julia Heilmann, Thomas Lindemann: Kinderkacke. Das ehrliche Elternbuch, Berlin 2010) Thomas schreibt auch über die kulturellen Aktivitäten in Prenzlauer Berg und spielt Keyboard in der Band „Leather Report“. Er besucht die Festivals und erfreut sich an einer gemischten Künstler-Szene, deren Mitglieder teilweise noch aus der DDR und Ost-Berlin stammen. Es gibt viele Lesungen und Kunstausstellungen an originellen, nicht etablierten Orten; für viele Musikclubs reichen einfache Keller aus. Künstler und kulturinteressiertes Publikum treffen sich in schlichten Kneipen zum Bier. Aber er beobachtet auch, wie schnell sich die Szene verändert. Innerhalb weniger Jahre sind auch die letzten Ost-Künstler verschwunden. Dann können auch später hinzugezogene Künstler nicht mehr überleben. Das große Clubsterben im Jahr 2011 bedeutet schließlich das unwiederbringliche Ende des Künstlerviertels Prenzlauer Berg, das zu DDR- und den Wende-Zeiten in den 1990er-Jahren vielen Künstlerinnen und Künstlern Wohnung und Wirkungsstätte bot. Schuld daran sind Investoren, die die Häuser aufkaufen, sie aufwendig modernisieren und dann teuer verkaufen oder vermieten. Das neue Klientel, häufig gut situierte Zugereiste aus Westdeutschland, möchte zum Beispiel nachts nicht von lauter Musik gestört werden. Die alteingesessenen Kunstschaffenden können ihre Mieten nicht mehr bezahlen und ziehen weg.

Thomas ist erschrocken über das Tempo, mit dem sich dieser Prozess vollzogen hat. Auch äußerlich hat sich Prenzlauer Berg verändert, nicht nur die vielen Bio-Läden, sondern auch edel renovierte Fassaden und neue Luxusgeschäfte prägen das Bild eines immer reicher werdenden Stadtteils. „Plötzlich sieht man in den Schaufenstern so merkwürdige römische Säulen, auf die man Blumen stellen kann“, beschreibt Thomas seinen Eindruck vom luxuriösen, aber überflüssigen Warenangebot und beginnt sich zu fragen, ob diese Umgebung ihm wirklich noch gefällt. Nach dem dritten Kind im Jahr 2013 wird die alte Wohnung zu klein und die Familie versucht in demselben Bezirk eine etwas größere Wohnung zu finden: unmöglich! Innerhalb von zehn Jahren hat sich das Mietniveau verdoppelt. Der Höhepunkt ist eine langweilige Neubauwohnung in der Stargarder Straße, deren Quadratmeterpreis 18,50 € (nettokalt!) beträgt. Die neue Wohnung müsste mindesten 110 Quadratmeter haben. Unter 2000 Euro monatlich ist in Prenzlauer Berg nichts zu bekommen. Für die Familie ist die Miethöhe ein entscheidender Faktor, weiterhin freiberuflich arbeiten zu können. Zu bedenken ist, dass das Schreiben für Zeitungen schwieriger wird. Die Zukunft der „analogen“ Zeitung ist ungewiss. Thomas hat durch das Musikmachen viele jüngere Freunde, die gar keine Zeitung mehr lesen. Wütend ist er noch heute auf den früheren Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und die SPD, die 65.000 Sozialbau-Wohnungen an einen amerikanischen Investor verkauft haben.

Thomas und seine Frau beschließen Prenzlauer Berg zu verlassen und nach Neukölln zu ziehen. Wie Freunde und Verwandte darauf reagieren, erzählen die beiden in ihrem Buch. Es gibt fast nur negative und mit Vorurteilen behaftete Kommentare. Vor allem die befreundeten Eltern in der Schule ihrer Kinder warnen sie. Es handelt sich um die Humboldt-Schule, eine neue Gemeinschaftsschule mit besonderem pädagogischen Konzept, die fast nur von Kindern gut gestellter Deutscher besucht wird, wie Journalisten, Fotografen, Schauspieler, Designer und Künstler.

Sie finden eine passende Wohnung mit sechs relativ kleinen Zimmern nahe der S-Bahn-Station Hermannstraße, im Körnerkiez, die der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewobag gehört. Beim Besichtigungstermin bewerben sich sogar Singles für diese Wohnung. Solche Leute sind beliebt bei den Wohnungsbesitzern, weil sie deren Immobilie nicht so abnutzen wie eine kinderreiche Familie. Thomas ist erzürnt und sehr besorgt. Kurzentschlossen fährt er in das Vermietungsbüro der Gewobag, um noch einmal vorzusprechen. Die zuständige Dame ist zwar zunächst nicht sehr über diesen spontanen Termin begeistert, zeigt sich aber dann aufgeschlossen für Thomas Anliegen, nachdem er ihr seine Geschichte erzählt hat über die Schwierigkeit, eine bezahlbare Wohnung für seine große Familie zu finden. Mit dem Hinweis auf den Sozialauftrag der Wohnungsbaugesellschaft verspricht sie ihm die Wohnung.

Natürlich zieht Thomas nicht blauäugig nach Neukölln. Der Bezirk, das heißt Nord-Neukölln, ist schon länger als Ausgehort beliebt, auch seine Freund aus Mitte oder Prenzlauer Berg fahren manchmal in die Weser Straße, um in einer Bar einen Cocktail zu trinken, den sie auf Englisch bestellt haben und dann gemeinsam mit den jungen australischen und amerikanischen Gästen genießen. Doch wer dann wieder nach Hause zurückfährt, hat Neukölln nicht wirklich gesehen. Noch als Bewohner aus Prenzlauer Berg macht Thomas der FAZ den Vorschlag, auf der Reiseseite einen Artikel über „Urlaub in Neukölln“ zu bringen. Es sollte ein Scherz sein, aber der Redakteur springt darauf an. So mietet sich Thomas mit einem Freund für eine Woche ein Zimmer im Schillerkiez und entdeckt in diesem inspirierenden Stadtteil Neuköllns besonderen Klang. Fast jede Kneipe hat eine Bühne, junge Punkbands spielen, in Läden gibt es Kunst, in der Hermannstraße dominieren die Türken, aber es gibt noch genug Platz für die Betrunkenen, die Bettler, die Hunde und arabischen Großfamilien. Dass sich in Neukölln kulturell so viel entwickelt fasziniert ihn. Dort entsteht, was in Prenzlauer Berg verlorengegangen ist.

Wird aber Neukölln auch in schulischer Hinsicht das ersetzen, was die Kinder in Prenzlauer Berg gewöhnt sind? In der Humboldt-Schule muss man schon früh viel können: Englisch sprechen, den Computer bedienen, unter den vielen angebotenen Kursen wählen - wie in einer Kinder-Uni. In Neukölln dagegen gibt es Schulen, deren Schüler zu 90 Prozent einen Migrationshintergrund aufweisen. Es gibt arabische Gangs, die Leute tyrannisieren und mit Drogen handeln, die großen Kinder bedrohen die Kleinen. Werden Thomas Kinder in Neukölln eine gute Schulbildung erhalten können? Thomas und seine Frau geben zu, dass sie nicht ganz frei von bildungsbürgerlichen Vorstellungen sind. Bei der Suche nach einer Schule für die beiden Söhne - sie sind 9 und 7 Jahre alt, die Tochter ist erst 3 – dürfen sie in einer Klasse hospitieren. Sobald sie sich entschieden haben, können die Jungen in die Schule aufgenommen werden, auch wenn es der nächste Tag sein soll, sagt die Schulleiterin. Das ist ein gutes Angebot und nicht die Regel. Aber in der Klasse gibt es kein einziges deutsches Kind, und nicht alle Kinder können Deutsch. Sicher würden ihre Söhne mit den Kindern sprechen und ihnen helfen ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Aber sollen die Eltern ihnen, die verhätschelt aus einer Prenzlauer Berger Schule kommen, das zumuten? Es würde für alle besser sein, wenn mindestens acht deutsche Schülerinnen und Schüler in die Klasse kämen. Dann entdecken Thomas und seine Frau die nahe der Wohnung gelegene Peter-Petersen-Grundschule, eine Reformschule, in der etwa 40 Prozent der Kinder Deutsche sind, und erreichen, dass ihre Kinder dort einen Platz bekommen. Mit dieser Lösung sind sie sehr zufrieden.

Im Rahmen der Recherchen für sein Buch hat Thomas eine (deutsche) Familiengemeinschaft getroffen, die sich zusammen ein großes Auto für den einzigen Zweck gekauft haben, ihre insgesamt sechs Kinder in eine der „besseren“ Schulen mit niedrigem Ausländeranteil im Süden Neuköllns fahren zu können und sie auch wieder abzuholen. Allerdings sei das ein extremes Beispiel, betont Thomas. In der Übergangszeit muss auch er seine Kinder täglich von Neukölln nach Prenzlauer Berg zur Schule begleiten, um das Schuljahr dort noch abzuschließen; allerdings mit der S-Bahn. Der Wecker klingelt jeden Morgen um 5:30 Uhr. Als dann der erste Schultag in der Peter-Petersen-Schule anbricht, wollen die Söhne nicht hingehen. Doch es dauert nicht lange bis die ersten Freundschaften geschlossen sind. Am leichtesten tut sich der 7-Jährige, der schon in der ersten Stunde einen Freund findet und sofort auf die kurz bevorstehende Klassenfahrt eingeladen wird. Dass man seinen Kindern so offen begegnen würde, hätte Thomas nicht vermutet. Auch auf dem Spielplatz und innerhalb des Hauses freunden sich die Kinder schnell untereinander an.

Anders sieht es bei den Erwachsenen aus. Es ist gut, dass der Förderverein der Schule ein grünes Klassenzimmer auf dem Tempelhofer Feld aufgebaut hat. Dort können die Eltern beim Gärtnern und Gießen so ganz nebenbei miteinander ins Gespräch kommen. Innerhalb seines Wohnhauses grüßt man sich oder wechselt ein paar Worte im Treppenhaus. Doch die Sprachbarrieren sind offensichtlich. Von den ausländischen Mitbewohnern sprechen viele nur schlecht Deutsch und kaum Englisch. Nach einem längeren Gespräch mit der Nachbarin weiß Thomas nicht so genau, was sie ihm sagen wollte. Auch mit Mitgliedern von arabischen Großfamilien gibt es keinen engeren Kontakt. Wenn man viele Geschwister und 10 Cousins und Cousinen hat, ist man vermutlich ausgelastet und braucht nicht noch zusätzliche Freundschaften. Andererseits erlebt Thomas, dass sich durchaus tiefere Gespräche mit Migranten ergeben können. Zum Beispiel im Bruchberg in der Okerstraße, wo er am Tresen einen kurdischen Künstler trifft und sich lange mit ihm unterhält. Oder im Klunkerkranich auf dem Dach der Neukölln-Arkaden, wo sogar Frauen mit Kopftuch gern zu einer Plauderei bereit sind. Man muss sich nur trauen die Menschen anzusprechen.

Es gibt aber auch Momente, die Thomas ratlos machen. Einmal werden Thomas Söhne von fünf etwas älteren türkischen Jungen überfallen. Sie schreien: „Geld her!“ und nehmen ihnen das Taschengeld ab. Später erkennt der große Sohn einen aus der Kinderbande, und Thomas rennt ihm hinterher, um ihn zur Rede zu stellen. Doch der junge Türke ist schneller, und Thomas fühlt sich schlecht. Diese Jungen verteilen auch Tritte gegen andere Kinder. Die Reaktion seiner Söhne: „Türken sind doof“. Wie soll er als engagierter Vater antworten? „Aber was ist mit deinem Freund Bylan?“ „Na, der natürlich nicht“, antwortet sein Sohn. Leider muss er auch solche Diskussionen führen, meint Thomas.

Beim Einzug in die neue Wohnung wird der Familie ein Gepäckstück geklaut, weil die Sachen für ein paar Minuten unbeaufsichtigt herumstanden. Auch das gehört zu Neukölln. Die arabische Familie aus dem Erdgeschoss aber bietet an ein Auge auf die Umzugskisten zu werfen. Diese Freundlichkeit entschädigt Thomas, obwohl sie nicht tiefer geht. Für sein Buch hat Thomas mit vielen Menschen unterschiedlicher Volksgruppen gesprochen und er gewinnt den Eindruck, einige sind mit sich selbst beschäftigt und möchten unter sich bleiben. Als besonders offen erfährt er die kurdische Gemeinschaft, und mit den Roma kann man gut Tischtennis spielen. Im Arabischen Zentrum hat er ein gutes Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Auf ein Interview in der Al Nur-Moschee muss er ungewöhnlich lange warten, bis ihn nach Wochen ein freundlicher Imam empfängt. Die Stadtteilmütter interviewt seine Frau, die ebenfalls feststellt, dass sie sehr belastet sind und keine Kraft mehr haben, sich auch mit den (deutschen) Nachbarn zu beschäftigen. Thomas hat auch keinen türkischen Unternehmer gefunden, der bereit gewesen wäre, ein Interview zu geben und über seine Rolle in der Gemeinschaft des Stadtteils zu sprechen. Aber er hat andererseits für sein Buch den Kneipenwirt Orhan aus der Weichselstraße getroffen, der aus seinem Trödelladen vor ein paar Jahren einfach eine Szenebar gemacht hat („Kachellounge“) und heute oft angeregt mit dem jungen Partypublikum plaudert.   

Die Entscheidung nach Neukölln zu ziehen hat Thomas nicht bereut. Ihn begeistert das Leben im Bezirk. Für seine Familie mag er allerdings nicht sprechen. Er weiß, dass seine Frau einige kritische Fragen hat. Thomas würde gern mit seiner Band an einem der sommerlichen Sonntage im Körnerpark auftreten. Dann wäre er wohl endgültig angekommen.