Donnerstag, 9. Juni 2016

15. Erzählcafé im Körnerkiez

26. Mai 2016

Thomas Lindemann - Neu-Neuköllner und Buchautor


Thomas Lindemann hat ein paarmal das Erzählcafé besucht. Daher kenne ich ihn flüchtig. Ich habe mitbekommen, dass er an einem Buch über Neukölln arbeitet, aber nicht, über welches Thema er schreibt. Bei der Buchvorstellung im Valentin Stüberl war ich schließlich dabei. Es ist eine Sozialreportage und heißt: „Keine Angst, hier gibt’s auch Deutsche! Unser neues Leben im Problemkiez“ (Berlin-Verlag). Er beschreibt, wie das Leben in Prenzlauer Berg für seine wachsende Familie immer teurer wird; eine geeignete Wohnung ist für sie unbezahlbar geworden. Deshalb zieht er zum Entsetzen seiner gut situierten Freunde in das als Problembezirk verschrieene Neukölln.  Trotz aller Warnungen und unguten Voraussagungen lebt sich die Familie in der so ganz anderen Welt gut ein und entdeckt den Wert von Vielfalt und Lebendigkeit.

Ich lade ihn ein, im Erzählcafé über sich und den Hintergrund des Buches zu berichten.

Thomas Lindemann ist Mitte 40 und stammt aus Hamburg. Dort hat er Psychologie studiert. Er schreibt für verschiedene Zeitungen, macht Musik, lebt in einer günstigen Zweizimmer-Wohnung in Eppendorf und fühlt sich rundum wohl. Ein interessanter Job als vertretender Kulturredakteur bei der Welt am Sonntag in Berlin ist der einzige Grund Hamburg im Jahr 2001 zu verlassen. Berlin gefällt ihm, besonders das vielfältige Kulturleben mit Musik, neuen Büchern und interessanten Kunstausstellungen. Er ist überrascht über die Weltoffenheit und Internationalität dieser Stadt, die ihm immer wieder andere Aspekte eröffnen. Deshalb beschließt er, nach Ablauf des Jobs und einem halbjährigen Amerikaaufenthalt nach Berlin zurückzukehren und sich dort niederzulassen. Im Jahr 2002 mietet sich Thomas in der Neuköllner Hobrechtstraße ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Neukölln ist noch nicht so angesagt wie heute, es gibt keine besonderen Bars oder Restaurant. Seine kulturinteressierten Freunde meiden die Gegend um die Hobrechtstraße und schlagen ihm bei jeder Verabredung vor sich in Mitte zu treffen: „Steig doch schnell in die U8“. Thomas Wohnung liegt über einem türkischen Café, wo die Musik bis tief in die Nacht in voller Lautstärke dudelt und die einzigen drei männlichen Gäste Kette rauchen. Heute befindet sich an demselben Ort eine schicke Szenekneipe, in der exotische Cocktails gereicht werden.

Thomas bleibt nur zwei Monate in der Hobrechtstraße. Dann zieht er mit seiner Frau nach Prenzlauer Berg. Sie finden eine schöne, bezahlbare Wohnung und bekommen im Lauf der Zeit drei Kinder. Thomas arbeitet als freiberuflicher Journalist und Autor, seine Frau ist Kunsthistorikerin und leitet eine Buchhandlung. Als sie Mutter wird und mit ihrem Chef über die Möglichkeit einer Teilzeitanstellung spricht, lehnt er ab. So arbeiten beide als freie Autoren und teilen sich die Kinderarbeit. Sie veröffentlichen mehrere Bücher über Kinderziehung, eines wird überraschenderweise ein Bestseller. (Julia Heilmann, Thomas Lindemann: Kinderkacke. Das ehrliche Elternbuch, Berlin 2010) Thomas schreibt auch über die kulturellen Aktivitäten in Prenzlauer Berg und spielt Keyboard in der Band „Leather Report“. Er besucht die Festivals und erfreut sich an einer gemischten Künstler-Szene, deren Mitglieder teilweise noch aus der DDR und Ost-Berlin stammen. Es gibt viele Lesungen und Kunstausstellungen an originellen, nicht etablierten Orten; für viele Musikclubs reichen einfache Keller aus. Künstler und kulturinteressiertes Publikum treffen sich in schlichten Kneipen zum Bier. Aber er beobachtet auch, wie schnell sich die Szene verändert. Innerhalb weniger Jahre sind auch die letzten Ost-Künstler verschwunden. Dann können auch später hinzugezogene Künstler nicht mehr überleben. Das große Clubsterben im Jahr 2011 bedeutet schließlich das unwiederbringliche Ende des Künstlerviertels Prenzlauer Berg, das zu DDR- und den Wende-Zeiten in den 1990er-Jahren vielen Künstlerinnen und Künstlern Wohnung und Wirkungsstätte bot. Schuld daran sind Investoren, die die Häuser aufkaufen, sie aufwendig modernisieren und dann teuer verkaufen oder vermieten. Das neue Klientel, häufig gut situierte Zugereiste aus Westdeutschland, möchte zum Beispiel nachts nicht von lauter Musik gestört werden. Die alteingesessenen Kunstschaffenden können ihre Mieten nicht mehr bezahlen und ziehen weg.

Thomas ist erschrocken über das Tempo, mit dem sich dieser Prozess vollzogen hat. Auch äußerlich hat sich Prenzlauer Berg verändert, nicht nur die vielen Bio-Läden, sondern auch edel renovierte Fassaden und neue Luxusgeschäfte prägen das Bild eines immer reicher werdenden Stadtteils. „Plötzlich sieht man in den Schaufenstern so merkwürdige römische Säulen, auf die man Blumen stellen kann“, beschreibt Thomas seinen Eindruck vom luxuriösen, aber überflüssigen Warenangebot und beginnt sich zu fragen, ob diese Umgebung ihm wirklich noch gefällt. Nach dem dritten Kind im Jahr 2013 wird die alte Wohnung zu klein und die Familie versucht in demselben Bezirk eine etwas größere Wohnung zu finden: unmöglich! Innerhalb von zehn Jahren hat sich das Mietniveau verdoppelt. Der Höhepunkt ist eine langweilige Neubauwohnung in der Stargarder Straße, deren Quadratmeterpreis 18,50 € (nettokalt!) beträgt. Die neue Wohnung müsste mindesten 110 Quadratmeter haben. Unter 2000 Euro monatlich ist in Prenzlauer Berg nichts zu bekommen. Für die Familie ist die Miethöhe ein entscheidender Faktor, weiterhin freiberuflich arbeiten zu können. Zu bedenken ist, dass das Schreiben für Zeitungen schwieriger wird. Die Zukunft der „analogen“ Zeitung ist ungewiss. Thomas hat durch das Musikmachen viele jüngere Freunde, die gar keine Zeitung mehr lesen. Wütend ist er noch heute auf den früheren Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und die SPD, die 65.000 Sozialbau-Wohnungen an einen amerikanischen Investor verkauft haben.

Thomas und seine Frau beschließen Prenzlauer Berg zu verlassen und nach Neukölln zu ziehen. Wie Freunde und Verwandte darauf reagieren, erzählen die beiden in ihrem Buch. Es gibt fast nur negative und mit Vorurteilen behaftete Kommentare. Vor allem die befreundeten Eltern in der Schule ihrer Kinder warnen sie. Es handelt sich um die Humboldt-Schule, eine neue Gemeinschaftsschule mit besonderem pädagogischen Konzept, die fast nur von Kindern gut gestellter Deutscher besucht wird, wie Journalisten, Fotografen, Schauspieler, Designer und Künstler.

Sie finden eine passende Wohnung mit sechs relativ kleinen Zimmern nahe der S-Bahn-Station Hermannstraße, im Körnerkiez, die der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewobag gehört. Beim Besichtigungstermin bewerben sich sogar Singles für diese Wohnung. Solche Leute sind beliebt bei den Wohnungsbesitzern, weil sie deren Immobilie nicht so abnutzen wie eine kinderreiche Familie. Thomas ist erzürnt und sehr besorgt. Kurzentschlossen fährt er in das Vermietungsbüro der Gewobag, um noch einmal vorzusprechen. Die zuständige Dame ist zwar zunächst nicht sehr über diesen spontanen Termin begeistert, zeigt sich aber dann aufgeschlossen für Thomas Anliegen, nachdem er ihr seine Geschichte erzählt hat über die Schwierigkeit, eine bezahlbare Wohnung für seine große Familie zu finden. Mit dem Hinweis auf den Sozialauftrag der Wohnungsbaugesellschaft verspricht sie ihm die Wohnung.

Natürlich zieht Thomas nicht blauäugig nach Neukölln. Der Bezirk, das heißt Nord-Neukölln, ist schon länger als Ausgehort beliebt, auch seine Freund aus Mitte oder Prenzlauer Berg fahren manchmal in die Weser Straße, um in einer Bar einen Cocktail zu trinken, den sie auf Englisch bestellt haben und dann gemeinsam mit den jungen australischen und amerikanischen Gästen genießen. Doch wer dann wieder nach Hause zurückfährt, hat Neukölln nicht wirklich gesehen. Noch als Bewohner aus Prenzlauer Berg macht Thomas der FAZ den Vorschlag, auf der Reiseseite einen Artikel über „Urlaub in Neukölln“ zu bringen. Es sollte ein Scherz sein, aber der Redakteur springt darauf an. So mietet sich Thomas mit einem Freund für eine Woche ein Zimmer im Schillerkiez und entdeckt in diesem inspirierenden Stadtteil Neuköllns besonderen Klang. Fast jede Kneipe hat eine Bühne, junge Punkbands spielen, in Läden gibt es Kunst, in der Hermannstraße dominieren die Türken, aber es gibt noch genug Platz für die Betrunkenen, die Bettler, die Hunde und arabischen Großfamilien. Dass sich in Neukölln kulturell so viel entwickelt fasziniert ihn. Dort entsteht, was in Prenzlauer Berg verlorengegangen ist.

Wird aber Neukölln auch in schulischer Hinsicht das ersetzen, was die Kinder in Prenzlauer Berg gewöhnt sind? In der Humboldt-Schule muss man schon früh viel können: Englisch sprechen, den Computer bedienen, unter den vielen angebotenen Kursen wählen - wie in einer Kinder-Uni. In Neukölln dagegen gibt es Schulen, deren Schüler zu 90 Prozent einen Migrationshintergrund aufweisen. Es gibt arabische Gangs, die Leute tyrannisieren und mit Drogen handeln, die großen Kinder bedrohen die Kleinen. Werden Thomas Kinder in Neukölln eine gute Schulbildung erhalten können? Thomas und seine Frau geben zu, dass sie nicht ganz frei von bildungsbürgerlichen Vorstellungen sind. Bei der Suche nach einer Schule für die beiden Söhne - sie sind 9 und 7 Jahre alt, die Tochter ist erst 3 – dürfen sie in einer Klasse hospitieren. Sobald sie sich entschieden haben, können die Jungen in die Schule aufgenommen werden, auch wenn es der nächste Tag sein soll, sagt die Schulleiterin. Das ist ein gutes Angebot und nicht die Regel. Aber in der Klasse gibt es kein einziges deutsches Kind, und nicht alle Kinder können Deutsch. Sicher würden ihre Söhne mit den Kindern sprechen und ihnen helfen ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Aber sollen die Eltern ihnen, die verhätschelt aus einer Prenzlauer Berger Schule kommen, das zumuten? Es würde für alle besser sein, wenn mindestens acht deutsche Schülerinnen und Schüler in die Klasse kämen. Dann entdecken Thomas und seine Frau die nahe der Wohnung gelegene Peter-Petersen-Grundschule, eine Reformschule, in der etwa 40 Prozent der Kinder Deutsche sind, und erreichen, dass ihre Kinder dort einen Platz bekommen. Mit dieser Lösung sind sie sehr zufrieden.

Im Rahmen der Recherchen für sein Buch hat Thomas eine (deutsche) Familiengemeinschaft getroffen, die sich zusammen ein großes Auto für den einzigen Zweck gekauft haben, ihre insgesamt sechs Kinder in eine der „besseren“ Schulen mit niedrigem Ausländeranteil im Süden Neuköllns fahren zu können und sie auch wieder abzuholen. Allerdings sei das ein extremes Beispiel, betont Thomas. In der Übergangszeit muss auch er seine Kinder täglich von Neukölln nach Prenzlauer Berg zur Schule begleiten, um das Schuljahr dort noch abzuschließen; allerdings mit der S-Bahn. Der Wecker klingelt jeden Morgen um 5:30 Uhr. Als dann der erste Schultag in der Peter-Petersen-Schule anbricht, wollen die Söhne nicht hingehen. Doch es dauert nicht lange bis die ersten Freundschaften geschlossen sind. Am leichtesten tut sich der 7-Jährige, der schon in der ersten Stunde einen Freund findet und sofort auf die kurz bevorstehende Klassenfahrt eingeladen wird. Dass man seinen Kindern so offen begegnen würde, hätte Thomas nicht vermutet. Auch auf dem Spielplatz und innerhalb des Hauses freunden sich die Kinder schnell untereinander an.

Anders sieht es bei den Erwachsenen aus. Es ist gut, dass der Förderverein der Schule ein grünes Klassenzimmer auf dem Tempelhofer Feld aufgebaut hat. Dort können die Eltern beim Gärtnern und Gießen so ganz nebenbei miteinander ins Gespräch kommen. Innerhalb seines Wohnhauses grüßt man sich oder wechselt ein paar Worte im Treppenhaus. Doch die Sprachbarrieren sind offensichtlich. Von den ausländischen Mitbewohnern sprechen viele nur schlecht Deutsch und kaum Englisch. Nach einem längeren Gespräch mit der Nachbarin weiß Thomas nicht so genau, was sie ihm sagen wollte. Auch mit Mitgliedern von arabischen Großfamilien gibt es keinen engeren Kontakt. Wenn man viele Geschwister und 10 Cousins und Cousinen hat, ist man vermutlich ausgelastet und braucht nicht noch zusätzliche Freundschaften. Andererseits erlebt Thomas, dass sich durchaus tiefere Gespräche mit Migranten ergeben können. Zum Beispiel im Bruchberg in der Okerstraße, wo er am Tresen einen kurdischen Künstler trifft und sich lange mit ihm unterhält. Oder im Klunkerkranich auf dem Dach der Neukölln-Arkaden, wo sogar Frauen mit Kopftuch gern zu einer Plauderei bereit sind. Man muss sich nur trauen die Menschen anzusprechen.

Es gibt aber auch Momente, die Thomas ratlos machen. Einmal werden Thomas Söhne von fünf etwas älteren türkischen Jungen überfallen. Sie schreien: „Geld her!“ und nehmen ihnen das Taschengeld ab. Später erkennt der große Sohn einen aus der Kinderbande, und Thomas rennt ihm hinterher, um ihn zur Rede zu stellen. Doch der junge Türke ist schneller, und Thomas fühlt sich schlecht. Diese Jungen verteilen auch Tritte gegen andere Kinder. Die Reaktion seiner Söhne: „Türken sind doof“. Wie soll er als engagierter Vater antworten? „Aber was ist mit deinem Freund Bylan?“ „Na, der natürlich nicht“, antwortet sein Sohn. Leider muss er auch solche Diskussionen führen, meint Thomas.

Beim Einzug in die neue Wohnung wird der Familie ein Gepäckstück geklaut, weil die Sachen für ein paar Minuten unbeaufsichtigt herumstanden. Auch das gehört zu Neukölln. Die arabische Familie aus dem Erdgeschoss aber bietet an ein Auge auf die Umzugskisten zu werfen. Diese Freundlichkeit entschädigt Thomas, obwohl sie nicht tiefer geht. Für sein Buch hat Thomas mit vielen Menschen unterschiedlicher Volksgruppen gesprochen und er gewinnt den Eindruck, einige sind mit sich selbst beschäftigt und möchten unter sich bleiben. Als besonders offen erfährt er die kurdische Gemeinschaft, und mit den Roma kann man gut Tischtennis spielen. Im Arabischen Zentrum hat er ein gutes Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Auf ein Interview in der Al Nur-Moschee muss er ungewöhnlich lange warten, bis ihn nach Wochen ein freundlicher Imam empfängt. Die Stadtteilmütter interviewt seine Frau, die ebenfalls feststellt, dass sie sehr belastet sind und keine Kraft mehr haben, sich auch mit den (deutschen) Nachbarn zu beschäftigen. Thomas hat auch keinen türkischen Unternehmer gefunden, der bereit gewesen wäre, ein Interview zu geben und über seine Rolle in der Gemeinschaft des Stadtteils zu sprechen. Aber er hat andererseits für sein Buch den Kneipenwirt Orhan aus der Weichselstraße getroffen, der aus seinem Trödelladen vor ein paar Jahren einfach eine Szenebar gemacht hat („Kachellounge“) und heute oft angeregt mit dem jungen Partypublikum plaudert.   

Die Entscheidung nach Neukölln zu ziehen hat Thomas nicht bereut. Ihn begeistert das Leben im Bezirk. Für seine Familie mag er allerdings nicht sprechen. Er weiß, dass seine Frau einige kritische Fragen hat. Thomas würde gern mit seiner Band an einem der sommerlichen Sonntage im Körnerpark auftreten. Dann wäre er wohl endgültig angekommen.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen