Thomas Lindemann - Neu-Neuköllner und Buchautor
Thomas Lindemann hat
ein paarmal das Erzählcafé besucht. Daher kenne ich ihn flüchtig. Ich habe
mitbekommen, dass er an einem Buch über Neukölln arbeitet, aber nicht, über
welches Thema er schreibt. Bei der Buchvorstellung im Valentin Stüberl war ich
schließlich dabei. Es ist eine Sozialreportage und heißt: „Keine Angst, hier
gibt’s auch Deutsche! Unser neues Leben im Problemkiez“ (Berlin-Verlag). Er
beschreibt, wie das Leben in Prenzlauer Berg für seine wachsende Familie immer
teurer wird; eine geeignete Wohnung ist für sie unbezahlbar geworden. Deshalb
zieht er zum Entsetzen seiner gut situierten Freunde in das als Problembezirk
verschrieene Neukölln. Trotz aller
Warnungen und unguten Voraussagungen lebt sich die Familie in der so ganz
anderen Welt gut ein und entdeckt den Wert von Vielfalt und Lebendigkeit.
Ich lade ihn ein, im
Erzählcafé über sich und den Hintergrund des Buches zu berichten.
Thomas Lindemann ist Mitte 40 und stammt aus Hamburg. Dort
hat er Psychologie studiert. Er schreibt für verschiedene Zeitungen, macht
Musik, lebt in einer günstigen Zweizimmer-Wohnung in Eppendorf und fühlt sich
rundum wohl. Ein interessanter Job als vertretender Kulturredakteur bei der
Welt am Sonntag in Berlin ist der einzige Grund Hamburg im Jahr 2001 zu
verlassen. Berlin gefällt ihm, besonders das vielfältige Kulturleben mit Musik,
neuen Büchern und interessanten Kunstausstellungen. Er ist überrascht über die
Weltoffenheit und Internationalität dieser Stadt, die ihm immer wieder andere
Aspekte eröffnen. Deshalb beschließt er, nach Ablauf des Jobs und einem
halbjährigen Amerikaaufenthalt nach Berlin zurückzukehren und sich dort
niederzulassen. Im Jahr 2002 mietet sich Thomas in der Neuköllner
Hobrechtstraße ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Neukölln ist noch nicht so
angesagt wie heute, es gibt keine besonderen Bars oder Restaurant. Seine
kulturinteressierten Freunde meiden die Gegend um die Hobrechtstraße und schlagen
ihm bei jeder Verabredung vor sich in Mitte zu treffen: „Steig doch schnell in
die U8“. Thomas Wohnung liegt über einem türkischen Café, wo die Musik bis tief
in die Nacht in voller Lautstärke dudelt und die einzigen drei männlichen Gäste
Kette rauchen. Heute befindet sich an demselben Ort eine schicke Szenekneipe,
in der exotische Cocktails gereicht werden.
Thomas bleibt nur zwei Monate in der Hobrechtstraße. Dann
zieht er mit seiner Frau nach Prenzlauer Berg. Sie finden eine schöne,
bezahlbare Wohnung und bekommen im Lauf der Zeit drei Kinder. Thomas arbeitet
als freiberuflicher Journalist und Autor, seine Frau ist Kunsthistorikerin und
leitet eine Buchhandlung. Als sie Mutter wird und mit ihrem Chef über die
Möglichkeit einer Teilzeitanstellung spricht, lehnt er ab. So arbeiten beide
als freie Autoren und teilen sich die Kinderarbeit. Sie veröffentlichen mehrere
Bücher über Kinderziehung, eines wird überraschenderweise ein Bestseller. (Julia Heilmann, Thomas Lindemann:
Kinderkacke. Das ehrliche Elternbuch, Berlin 2010) Thomas schreibt auch
über die kulturellen Aktivitäten in Prenzlauer Berg und spielt Keyboard in der
Band „Leather Report“. Er besucht die Festivals und erfreut sich an einer
gemischten Künstler-Szene, deren Mitglieder teilweise noch aus der DDR und
Ost-Berlin stammen. Es gibt viele Lesungen und Kunstausstellungen an
originellen, nicht etablierten Orten; für viele Musikclubs reichen einfache
Keller aus. Künstler und kulturinteressiertes Publikum treffen sich in
schlichten Kneipen zum Bier. Aber er beobachtet auch, wie schnell sich die
Szene verändert. Innerhalb weniger Jahre sind auch die letzten Ost-Künstler
verschwunden. Dann können auch später hinzugezogene Künstler nicht mehr
überleben. Das große Clubsterben im Jahr 2011 bedeutet schließlich das
unwiederbringliche Ende des Künstlerviertels Prenzlauer Berg, das zu DDR- und
den Wende-Zeiten in den 1990er-Jahren vielen Künstlerinnen und Künstlern
Wohnung und Wirkungsstätte bot. Schuld daran sind Investoren, die die Häuser
aufkaufen, sie aufwendig modernisieren und dann teuer verkaufen oder vermieten.
Das neue Klientel, häufig gut situierte Zugereiste aus Westdeutschland, möchte
zum Beispiel nachts nicht von lauter Musik gestört werden. Die alteingesessenen
Kunstschaffenden können ihre Mieten nicht mehr bezahlen und ziehen weg.
Thomas ist erschrocken über das Tempo, mit dem sich dieser
Prozess vollzogen hat. Auch äußerlich hat sich Prenzlauer Berg verändert, nicht
nur die vielen Bio-Läden, sondern auch edel renovierte Fassaden und neue
Luxusgeschäfte prägen das Bild eines immer reicher werdenden Stadtteils.
„Plötzlich sieht man in den Schaufenstern so merkwürdige römische Säulen, auf
die man Blumen stellen kann“, beschreibt Thomas seinen Eindruck vom luxuriösen,
aber überflüssigen Warenangebot und beginnt sich zu fragen, ob diese Umgebung
ihm wirklich noch gefällt. Nach dem dritten Kind im Jahr 2013 wird die alte
Wohnung zu klein und die Familie versucht in demselben Bezirk eine etwas
größere Wohnung zu finden: unmöglich! Innerhalb von zehn Jahren hat sich das
Mietniveau verdoppelt. Der Höhepunkt ist eine langweilige Neubauwohnung in der
Stargarder Straße, deren Quadratmeterpreis 18,50 € (nettokalt!) beträgt. Die
neue Wohnung müsste mindesten 110 Quadratmeter haben. Unter 2000 Euro monatlich
ist in Prenzlauer Berg nichts zu bekommen. Für die Familie ist die Miethöhe ein
entscheidender Faktor, weiterhin freiberuflich arbeiten zu können. Zu bedenken
ist, dass das Schreiben für Zeitungen schwieriger wird. Die Zukunft der
„analogen“ Zeitung ist ungewiss. Thomas hat durch das Musikmachen viele jüngere
Freunde, die gar keine Zeitung mehr lesen. Wütend ist er noch heute auf den
früheren Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit und die SPD, die 65.000
Sozialbau-Wohnungen an einen amerikanischen Investor verkauft haben.
Thomas und seine Frau beschließen Prenzlauer Berg zu
verlassen und nach Neukölln zu ziehen. Wie Freunde und Verwandte darauf
reagieren, erzählen die beiden in ihrem Buch. Es gibt fast nur negative und mit
Vorurteilen behaftete Kommentare. Vor allem die befreundeten Eltern in der
Schule ihrer Kinder warnen sie. Es handelt sich um die Humboldt-Schule, eine
neue Gemeinschaftsschule mit besonderem pädagogischen Konzept, die fast nur von
Kindern gut gestellter Deutscher besucht wird, wie Journalisten, Fotografen,
Schauspieler, Designer und Künstler.
Sie finden eine passende Wohnung mit sechs relativ kleinen
Zimmern nahe der S-Bahn-Station Hermannstraße, im Körnerkiez, die der
städtischen Wohnungsbaugesellschaft Gewobag gehört. Beim Besichtigungstermin
bewerben sich sogar Singles für diese Wohnung. Solche Leute sind beliebt bei
den Wohnungsbesitzern, weil sie deren Immobilie nicht so abnutzen wie eine
kinderreiche Familie. Thomas ist erzürnt und sehr besorgt. Kurzentschlossen
fährt er in das Vermietungsbüro der Gewobag, um noch einmal vorzusprechen. Die
zuständige Dame ist zwar zunächst nicht sehr über diesen spontanen Termin
begeistert, zeigt sich aber dann aufgeschlossen für Thomas Anliegen, nachdem er
ihr seine Geschichte erzählt hat über die Schwierigkeit, eine bezahlbare
Wohnung für seine große Familie zu finden. Mit dem Hinweis auf den
Sozialauftrag der Wohnungsbaugesellschaft verspricht sie ihm die Wohnung.
Natürlich zieht Thomas nicht blauäugig nach Neukölln. Der
Bezirk, das heißt Nord-Neukölln, ist schon länger als Ausgehort beliebt, auch
seine Freund aus Mitte oder Prenzlauer Berg fahren manchmal in die Weser
Straße, um in einer Bar einen Cocktail zu trinken, den sie auf Englisch
bestellt haben und dann gemeinsam mit den jungen australischen und
amerikanischen Gästen genießen. Doch wer dann wieder nach Hause zurückfährt,
hat Neukölln nicht wirklich gesehen. Noch als Bewohner aus Prenzlauer Berg
macht Thomas der FAZ den Vorschlag, auf der Reiseseite einen Artikel über
„Urlaub in Neukölln“ zu bringen. Es sollte ein Scherz sein, aber der Redakteur
springt darauf an. So mietet sich Thomas mit einem Freund für eine Woche ein
Zimmer im Schillerkiez und entdeckt in diesem inspirierenden Stadtteil
Neuköllns besonderen Klang. Fast jede Kneipe hat eine Bühne, junge Punkbands
spielen, in Läden gibt es Kunst, in der Hermannstraße dominieren die Türken,
aber es gibt noch genug Platz für die Betrunkenen, die Bettler, die Hunde und
arabischen Großfamilien. Dass sich in Neukölln kulturell so viel entwickelt fasziniert
ihn. Dort entsteht, was in Prenzlauer Berg verlorengegangen ist.
Wird aber Neukölln auch in schulischer Hinsicht das
ersetzen, was die Kinder in Prenzlauer Berg gewöhnt sind? In der
Humboldt-Schule muss man schon früh viel können: Englisch sprechen, den
Computer bedienen, unter den vielen angebotenen Kursen wählen - wie in einer
Kinder-Uni. In Neukölln dagegen gibt es Schulen, deren Schüler zu 90 Prozent
einen Migrationshintergrund aufweisen. Es gibt arabische Gangs, die Leute
tyrannisieren und mit Drogen handeln, die großen Kinder bedrohen die Kleinen.
Werden Thomas Kinder in Neukölln eine gute Schulbildung erhalten können? Thomas
und seine Frau geben zu, dass sie nicht ganz frei von bildungsbürgerlichen
Vorstellungen sind. Bei der Suche nach einer Schule für die beiden Söhne - sie
sind 9 und 7 Jahre alt, die Tochter ist erst 3 – dürfen sie in einer Klasse
hospitieren. Sobald sie sich entschieden haben, können die Jungen in die Schule
aufgenommen werden, auch wenn es der nächste Tag sein soll, sagt die
Schulleiterin. Das ist ein gutes Angebot und nicht die Regel. Aber in der
Klasse gibt es kein einziges deutsches Kind, und nicht alle Kinder können
Deutsch. Sicher würden ihre Söhne mit den Kindern sprechen und ihnen helfen
ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Aber sollen die Eltern ihnen, die
verhätschelt aus einer Prenzlauer Berger Schule kommen, das zumuten? Es würde
für alle besser sein, wenn mindestens acht deutsche Schülerinnen und Schüler in
die Klasse kämen. Dann entdecken Thomas und seine Frau die nahe der Wohnung
gelegene Peter-Petersen-Grundschule, eine Reformschule, in der etwa 40 Prozent
der Kinder Deutsche sind, und erreichen, dass ihre Kinder dort einen Platz
bekommen. Mit dieser Lösung sind sie sehr zufrieden.
Im Rahmen der Recherchen für sein Buch hat Thomas eine
(deutsche) Familiengemeinschaft getroffen, die sich zusammen ein großes Auto
für den einzigen Zweck gekauft haben, ihre insgesamt sechs Kinder in eine der
„besseren“ Schulen mit niedrigem Ausländeranteil im Süden Neuköllns fahren zu
können und sie auch wieder abzuholen. Allerdings sei das ein extremes Beispiel,
betont Thomas. In der Übergangszeit muss auch er seine Kinder täglich von
Neukölln nach Prenzlauer Berg zur Schule begleiten, um das Schuljahr dort noch
abzuschließen; allerdings mit der S-Bahn. Der Wecker klingelt jeden Morgen um
5:30 Uhr. Als dann der erste Schultag in der Peter-Petersen-Schule anbricht,
wollen die Söhne nicht hingehen. Doch es dauert nicht lange bis die ersten
Freundschaften geschlossen sind. Am leichtesten tut sich der 7-Jährige, der
schon in der ersten Stunde einen Freund findet und sofort auf die kurz
bevorstehende Klassenfahrt eingeladen wird. Dass man seinen Kindern so offen
begegnen würde, hätte Thomas nicht vermutet. Auch auf dem Spielplatz und innerhalb
des Hauses freunden sich die Kinder schnell untereinander an.
Anders sieht es bei den Erwachsenen aus. Es ist gut, dass
der Förderverein der Schule ein grünes Klassenzimmer auf dem Tempelhofer Feld
aufgebaut hat. Dort können die Eltern beim Gärtnern und Gießen so ganz nebenbei
miteinander ins Gespräch kommen. Innerhalb seines Wohnhauses grüßt man sich
oder wechselt ein paar Worte im Treppenhaus. Doch die Sprachbarrieren sind
offensichtlich. Von den ausländischen Mitbewohnern sprechen viele nur schlecht
Deutsch und kaum Englisch. Nach einem längeren Gespräch mit der Nachbarin weiß
Thomas nicht so genau, was sie ihm sagen wollte. Auch mit Mitgliedern von
arabischen Großfamilien gibt es keinen engeren Kontakt. Wenn man viele
Geschwister und 10 Cousins und Cousinen hat, ist man vermutlich ausgelastet und
braucht nicht noch zusätzliche Freundschaften. Andererseits erlebt Thomas, dass
sich durchaus tiefere Gespräche mit Migranten ergeben können. Zum Beispiel im
Bruchberg in der Okerstraße, wo er am Tresen einen kurdischen Künstler trifft
und sich lange mit ihm unterhält. Oder im Klunkerkranich auf dem Dach der
Neukölln-Arkaden, wo sogar Frauen mit Kopftuch gern zu einer Plauderei bereit
sind. Man muss sich nur trauen die Menschen anzusprechen.
Es gibt aber auch Momente, die Thomas ratlos machen. Einmal
werden Thomas Söhne von fünf etwas älteren türkischen Jungen überfallen. Sie
schreien: „Geld her!“ und nehmen ihnen das Taschengeld ab. Später erkennt der
große Sohn einen aus der Kinderbande, und Thomas rennt ihm hinterher, um ihn
zur Rede zu stellen. Doch der junge Türke ist schneller, und Thomas fühlt sich
schlecht. Diese Jungen verteilen auch Tritte gegen andere Kinder. Die Reaktion
seiner Söhne: „Türken sind doof“. Wie soll er als engagierter Vater antworten?
„Aber was ist mit deinem Freund Bylan?“ „Na, der natürlich nicht“, antwortet
sein Sohn. Leider muss er auch solche Diskussionen führen, meint Thomas.
Beim Einzug in die neue Wohnung wird der Familie ein
Gepäckstück geklaut, weil die Sachen für ein paar Minuten unbeaufsichtigt
herumstanden. Auch das gehört zu Neukölln. Die arabische Familie aus dem
Erdgeschoss aber bietet an ein Auge auf die Umzugskisten zu werfen. Diese
Freundlichkeit entschädigt Thomas, obwohl sie nicht tiefer geht. Für sein Buch
hat Thomas mit vielen Menschen unterschiedlicher Volksgruppen gesprochen und er
gewinnt den Eindruck, einige sind mit sich selbst beschäftigt und möchten unter
sich bleiben. Als besonders offen erfährt er die kurdische Gemeinschaft, und
mit den Roma kann man gut Tischtennis spielen. Im Arabischen Zentrum hat er ein
gutes Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Auf ein Interview in der Al
Nur-Moschee muss er ungewöhnlich lange warten, bis ihn nach Wochen ein
freundlicher Imam empfängt. Die Stadtteilmütter interviewt seine Frau, die
ebenfalls feststellt, dass sie sehr belastet sind und keine Kraft mehr haben,
sich auch mit den (deutschen) Nachbarn zu beschäftigen. Thomas hat auch keinen
türkischen Unternehmer gefunden, der bereit gewesen wäre, ein Interview zu
geben und über seine Rolle in der Gemeinschaft des Stadtteils zu sprechen. Aber
er hat andererseits für sein Buch den Kneipenwirt Orhan aus der Weichselstraße
getroffen, der aus seinem Trödelladen vor ein paar Jahren einfach eine Szenebar
gemacht hat („Kachellounge“) und heute oft angeregt mit dem jungen
Partypublikum plaudert.
Die Entscheidung nach Neukölln zu ziehen hat Thomas nicht
bereut. Ihn begeistert das Leben im Bezirk. Für seine Familie mag er allerdings
nicht sprechen. Er weiß, dass seine Frau einige kritische Fragen hat. Thomas
würde gern mit seiner Band an einem der sommerlichen Sonntage im Körnerpark
auftreten. Dann wäre er wohl endgültig angekommen.
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