Freitag, 2. September 2016 im Kreativraum
am Körnerpark
Gudrun Parnitzke, Autorin
Die Großen Ferien
gehen zu Ende, und wir starten unsere neue Erzählcafé-Reihe an einem herrlichen
Spätsommertag im Körnerpark. Diese Veranstaltung ist dem Körnerpark-Jubiläum
gewidmet. Das Kulturamt hat Gudrun Parnitzke eingeladen. Sie ist Autorin des soeben
erschienenen Buches „Café Messerschmidt ist weggezogen – Was bleibt übrig von
Neukölln“ und wird über sich und den Hintergrund des Buches berichten. Begleitet
von ihrem Mann trifft sie guten Mutes im Kreativraum ein. Sie kommt aus dem Landkreis
Lüneburg und schimpft ein wenig über den Großstadtverkehr, den sie seit fast 30
Jahren nicht mehr gewöhnt ist. Dann aber legt sie los und erzählt von einem
Neukölln, in dem sie aufwuchs und das es so nicht mehr gibt.
Gudrun Müller (verheiratet Parnitzke), Jahrgang 1949,
verlebt ihre Kindheit im Neuköllner Körnerkiez. Mit ihrem älteren Bruder, den
Eltern und einer Großmutter wohnt sie in einer Wohnung in der Kirchhofstraße,
Ecke Emser Straße, die ihnen nach dem Krieg vom Wohnungsamt zugewiesen worden
ist. Die Emser Straße verläuft direkt unter der Einflugschneise nach Tempelhof,
und die Geräusche der Flugzeuge zählen zu den prägenden Eindrücken der
Kindheit. Sie besucht die Evangelische Schule Neukölln, eine Privatschule, auf
die auch einige Kinder aus dem benachbarten Ostteil der Stadt gehen. 1966 findet
ihre Familie endlich eine Neubauwohnung in Buckow, dem grünen Süden Neuköllns, in
der Gropiusstadt, und sie zieht um. Die Oberstufe absolviert Gudrun im nahegelegenen
Britzer Albert-Einstein-Gymnasium, wo als zweite Fremdsprache Französisch gelehrt
wird und sie das Abitur ablegt. In Britz genießt Gudrun die grüne Umgebung und
die Nähe des Gutsparks. Sie sehnt sich nicht in ihren Kiez zurück und ist froh,
die beengten Verhältnisse in der Wohnung mit Ofenheizung zurückzulassen und
nicht mehr durch Schmutz und Lärm des Mietshausviertels belastet zu sein. An
der Technischen Universität Berlin studiert sie Deutsche Literatur und Musikwissenschaften
und arbeitet 30 Jahre lang als Musikautorin unter dem Namen Gudrun Müller-Sabe für
den Radiosender RIAS Berlin – später Deutschlandradio Kultur; außerdem verfasst
sie Programmhefttexte für das Berliner Philharmonische Orchester und die
Berliner Festwochen. Sie heiratet einen Gärtner und bekommt zwei Kinder. 1989
wird es ihr und ihrem Mann zu eng in Berlin; die junge Familie siedelt in den
Landkreis Lüneburg über, ihr Mann betreibt eine biologische Freilandgärtnerei und beide
widmen sich dem Naturschutz. Neben ihrer Arbeit als Autorin gibt Gudrun
Unterricht als Kursleiterin für Qigong, später auch als Lehrkraft für Deutsch
in den amtlichen Integrationskursen. Die Kinder zieht es zum Studieren wieder
nach Berlin. Gudrun verfasst in ihrer neuen Heimat neben ihren musikgeschichtlichen
Texten Kurzgeschichten, einen historischen Roman über die böhmischen Glaubensflüchtlinge in Rixdorf und eine Fantastische Erzählung. Ihr neuestes Buch –
„Café Messerschmidt ist weggezogen“ – ist eine Erinnerung an ihre Kindheit in
Neukölln.
Wie schreibt man ein Buch mit Erinnerungen? Muss es die
Ich-Form haben? Gudrun Parnitzke
entscheidet sich für eine Darstellung in der Dritten Person. Ihre Protagonistin
nennt sie Uli. Das Mädchen Uli ist ihr Alter ego. So hat Gudrun die Möglichkeit,
auch Situationen zu gestalten, die für das Neukölln ihrer Jugend typisch sind, die
sie aber so wie dargestellt nicht unbedingt erlebt haben muss. Wertvolle
Informationen und Anregungen liefern auch die umfangreichen Aufzeichnungen
ihrer Mutter, die sie in den Neuköllner Geschichten verarbeitet. Um den Leser
besser mitnehmen zu können, schreibt sie in der Gegenwart. Aber warum überhaupt
Neukölln? Geliebt hat Gudrun ihren Kiez wohl nicht, dafür fühlte sie sich in grüner
Umgebung und später auf dem Land viel zu wohl. Doch der Ort der Kindheit hat
immer eine herausragende Bedeutung. Und ihr Neukölln der Nachkriegszeit, das
direkt an Ost-Berlin grenzte, war tatsächlich etwas Besonderes, meint Gudrun.
Das könne sie nach dem inzwischen gewonnenen Abstand und der intensiven Erinnerungsarbeit
sagen. Darin liegt die Motivation für ihr Buch.
Das Café Messerschmidt befand sich an der Ecke Schierker-
und Kirchhofstraße. Dort traf man sich zur Buttercremetorte, und der Kaffee
wurde in silbernen Kännchen serviert. Die Grenze zu Ost-Berlin verlief nicht
weit vom Bahnhof Neukölln entfernt. Viele Menschen aus dem Ostsektor besuchten
das benachbarte Neukölln, viele auch aus der „Sowjetzone“, um dort „West-Ware“
zu erstehen, bei Verwandten vorbeizuschauen oder auch im Westen zu arbeiten.
Das war bis zum Mauerbau 1961 weitgehend problemlos möglich. Die Wechselstube
lag gegenüber dem Bahnhofsgebäude. Das Café Messerschmidt war ein Treffpunkt
für die Menschen aus Ost und West. Nach dem Mauerbau musste es schließen, weil die
Kundschaft ausblieb.
Gudruns Vater war Grafiker und fuhr täglich nach Ost-Berlin
zur Fachschule für angewandte Kunst in Oberschöneweide, um zu unterrichten. Als
Grenzgänger verdiente er Ostgeld, das nur zum Teil von der Lohnausgleichskasse
ohne Kursabschläge in Westgeld umgetauscht
wurde. Deshalb kaufte er in den Ost-Berliner HO-Läden ein. Das Warenangebot war
begrenzt, und er musste sich jede Ware abstempeln lassen. Von dem relativ knappen
Budget ernährte er seine Familie. Der Aufstand der Bauarbeiter in Ost-Berlin am
17. Juni 1953 ließ ihn um seinen Arbeitsplatz bangen, aber auch andere
Neuköllner sahen ihre kleinen Vorteile schwinden, wenn der Grenzverkehr
gestoppt werden würde. Doch es sollte noch acht Jahre so weiter gehen.
Gudrun Parnitzke lässt ihre Hauptperson, das Kind Uli, durch
den Kiez um den Bahnhof Neukölln streifen. Uli betrachtet die vielen Geschäfte:
das Kaufhaus Kepa und Hertie, den Feinkostladen Grothmann mit nie erreichbaren
Angeboten, wo ihre Mutter nur gelegentlich eine Delikatesse ersteht, der
Miederwarenladen mit einem Apparat, der Laufmaschen in Nylonstrümpfen wieder
aufnimmt. Im Süßwarenladen kann man neben edlen Schokoladen auch Brausepulver
und amerikanische Bubble Gums kaufen. Im Kino sehen sich Uli und ihr Bruder ihre
ersten Filme an, Märchen, aber auch die atemberaubenden „Zehn Gebote“, und die
Wochenschau im AKI (Aktualitätenkino). Ulis Schulweg führt durchs
Rollbergviertel, dessen baufällige Mietshäuser und Bewohner ihr unheimlich
sind. Sie trifft in ihrem Kiez Damen in Pelzmänteln und Rentnerinnen in schäbigen
Kleidern, Putzfrauen aus Ost-Berlin, die in Neukölln arbeiten und Neuköllner
mit schweren Rucksäcken, die in der Ostzone gehamstert haben. Sie spielt mit
Freundinnen im Körnerpark und schwärmt für die Schlagersängerin Conny Froboess.
Ihre Filme darf sie sich nicht anschauen, aber ihren sehnlichen Wunsch auch einen
Latzrock aus Jeansstoff zu besitzen, wie die Sängerin ihn trägt, versucht die
Mutter ihr zu erfüllen. Sie näht ihr einen Latzrock. Der Stoff allerdings hat
ein Blaudruckmuster, und Uli ist tief enttäuscht. Überhaupt legt man in den
1950er-Jahren sehr großen Wert auf gute, elegante Kleidung, die geschont und
lange getragen wird. Die Bäckerstochter heiratet den einen Kopf kleineren
Gesellen in einem Georgette-Kleid mit Perlenstickerei und einem zwei Meter
langen Tüllschleier. In manchen Höfen
gibt es Kuhställe, und die Milch wird im Vorderhaus verkauft. Die Hausfrauen
lassen sie in ihre Henkelkannen aus Aluminium füllen. Ulis Wohnhaus liegt in der Umgebung von vier Kneipen, der
Lärm der Betrunkenen und der Lärm der ständig landenden Flugzeuge verfolgen sie
bis in den Traum. Zu den schönen Erlebnissen gehört das Spielen im etwas
ramponierten und dennoch zauberhaften Körnerpark und der Besuch des
Weihnachtsgottesdienstes in der überfüllten Magdalenenkirche, den der in der
Gemeinde hoch angesehene Superindendent leitet. Uli ist verzückt von hundert
leuchtenden Kerzen und vom Krippenspiel.
Nach dem Bau der Mauer im August 1961 wurde es still um den
Bahnhof Neukölln. Viele Geschäfte, Cafés und Vergnügungsstätten mussten
schließen. Die besser gestellten Bewohner verließen Neukölln, um in einem
komfortableren Bezirk zu wohnen. Mit dem Zuzug der Gastarbeiter begann ein
neues Kapitel im Körnerkiez.
Gudrun Parnitzke setzt
ihr Buch wie ein Puzzle zusammen. Sie lässt liebevoll und mit Humor die vielen
Eindrücke und Begegnungen Revue passieren, die sie mit den Augen des Kindes Uli
betrachtet. Das pulsierende Leben rund um den Bahnhof Neukölln war verbunden
mit der Sehnsucht der Menschen nach Frieden und mehr Wohlstand angesichts der immer
noch nachwirkenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs.