Freitag, 16. September 2016

19. Erzählcafé im Körnerkiez

Freitag, 2. September 2016 im Kreativraum am Körnerpark

Gudrun Parnitzke, Autorin

Die Großen Ferien gehen zu Ende, und wir starten unsere neue Erzählcafé-Reihe an einem herrlichen Spätsommertag im Körnerpark. Diese Veranstaltung ist dem Körnerpark-Jubiläum gewidmet. Das Kulturamt hat Gudrun Parnitzke eingeladen. Sie ist Autorin des soeben erschienenen Buches „Café Messerschmidt ist weggezogen – Was bleibt übrig von Neukölln“ und wird über sich und den Hintergrund des Buches berichten. Begleitet von ihrem Mann trifft sie guten Mutes im Kreativraum ein. Sie kommt aus dem Landkreis Lüneburg und schimpft ein wenig über den Großstadtverkehr, den sie seit fast 30 Jahren nicht mehr gewöhnt ist. Dann aber legt sie los und erzählt von einem Neukölln, in dem sie aufwuchs und das es so nicht mehr gibt.

Gudrun Müller (verheiratet Parnitzke), Jahrgang 1949, verlebt ihre Kindheit im Neuköllner Körnerkiez. Mit ihrem älteren Bruder, den Eltern und einer Großmutter wohnt sie in einer Wohnung in der Kirchhofstraße, Ecke Emser Straße, die ihnen nach dem Krieg vom Wohnungsamt zugewiesen worden ist. Die Emser Straße verläuft direkt unter der Einflugschneise nach Tempelhof, und die Geräusche der Flugzeuge zählen zu den prägenden Eindrücken der Kindheit. Sie besucht die Evangelische Schule Neukölln, eine Privatschule, auf die auch einige Kinder aus dem benachbarten Ostteil der Stadt gehen. 1966 findet ihre Familie endlich eine Neubauwohnung in Buckow, dem grünen Süden Neuköllns, in der Gropiusstadt, und sie zieht um. Die Oberstufe absolviert Gudrun im nahegelegenen Britzer Albert-Einstein-Gymnasium, wo als zweite Fremdsprache Französisch gelehrt wird und sie das Abitur ablegt. In Britz genießt Gudrun die grüne Umgebung und die Nähe des Gutsparks. Sie sehnt sich nicht in ihren Kiez zurück und ist froh, die beengten Verhältnisse in der Wohnung mit Ofenheizung zurückzulassen und nicht mehr durch Schmutz und Lärm des Mietshausviertels belastet zu sein. An der Technischen Universität Berlin studiert sie Deutsche Literatur und Musikwissenschaften und arbeitet 30 Jahre lang als Musikautorin unter dem Namen Gudrun Müller-Sabe für den Radiosender RIAS Berlin – später Deutschlandradio Kultur; außerdem verfasst sie Programmhefttexte für das Berliner Philharmonische Orchester und die Berliner Festwochen. Sie heiratet einen Gärtner und bekommt zwei Kinder. 1989 wird es ihr und ihrem Mann zu eng in Berlin; die junge Familie siedelt in den Landkreis Lüneburg über, ihr Mann betreibt eine biologische Freilandgärtnerei und beide widmen sich dem Naturschutz. Neben ihrer Arbeit als Autorin gibt Gudrun Unterricht als Kursleiterin für Qigong, später auch als Lehrkraft für Deutsch in den amtlichen Integrationskursen. Die Kinder zieht es zum Studieren wieder nach Berlin. Gudrun verfasst in ihrer neuen Heimat neben ihren musikgeschichtlichen Texten Kurzgeschichten, einen historischen Roman über die böhmischen Glaubensflüchtlinge in Rixdorf und eine Fantastische Erzählung. Ihr neuestes Buch – „Café Messerschmidt ist weggezogen“ – ist eine Erinnerung an ihre Kindheit in Neukölln.

Wie schreibt man ein Buch mit Erinnerungen? Muss es die Ich-Form haben?  Gudrun Parnitzke entscheidet sich für eine Darstellung in der Dritten Person. Ihre Protagonistin nennt sie Uli. Das Mädchen Uli ist ihr Alter ego. So hat Gudrun die Möglichkeit, auch Situationen zu gestalten, die für das Neukölln ihrer Jugend typisch sind, die sie aber so wie dargestellt nicht unbedingt erlebt haben muss. Wertvolle Informationen und Anregungen liefern auch die umfangreichen Aufzeichnungen ihrer Mutter, die sie in den Neuköllner Geschichten verarbeitet. Um den Leser besser mitnehmen zu können, schreibt sie in der Gegenwart. Aber warum überhaupt Neukölln? Geliebt hat Gudrun ihren Kiez wohl nicht, dafür fühlte sie sich in grüner Umgebung und später auf dem Land viel zu wohl. Doch der Ort der Kindheit hat immer eine herausragende Bedeutung. Und ihr Neukölln der Nachkriegszeit, das direkt an Ost-Berlin grenzte, war tatsächlich etwas Besonderes, meint Gudrun. Das könne sie nach dem inzwischen gewonnenen Abstand und der intensiven Erinnerungsarbeit sagen. Darin liegt die Motivation für ihr Buch.

Das Café Messerschmidt befand sich an der Ecke Schierker- und Kirchhofstraße. Dort traf man sich zur Buttercremetorte, und der Kaffee wurde in silbernen Kännchen serviert. Die Grenze zu Ost-Berlin verlief nicht weit vom Bahnhof Neukölln entfernt. Viele Menschen aus dem Ostsektor besuchten das benachbarte Neukölln, viele auch aus der „Sowjetzone“, um dort „West-Ware“ zu erstehen, bei Verwandten vorbeizuschauen oder auch im Westen zu arbeiten. Das war bis zum Mauerbau 1961 weitgehend problemlos möglich. Die Wechselstube lag gegenüber dem Bahnhofsgebäude. Das Café Messerschmidt war ein Treffpunkt für die Menschen aus Ost und West. Nach dem Mauerbau musste es schließen, weil die Kundschaft ausblieb.

Gudruns Vater war Grafiker und fuhr täglich nach Ost-Berlin zur Fachschule für angewandte Kunst in Oberschöneweide, um zu unterrichten. Als Grenzgänger verdiente er Ostgeld, das nur zum Teil von der Lohnausgleichskasse ohne Kursabschläge in Westgeld  umgetauscht wurde. Deshalb kaufte er in den Ost-Berliner HO-Läden ein. Das Warenangebot war begrenzt, und er musste sich jede Ware abstempeln lassen. Von dem relativ knappen Budget ernährte er seine Familie. Der Aufstand der Bauarbeiter in Ost-Berlin am 17. Juni 1953 ließ ihn um seinen Arbeitsplatz bangen, aber auch andere Neuköllner sahen ihre kleinen Vorteile schwinden, wenn der Grenzverkehr gestoppt werden würde. Doch es sollte noch acht Jahre so weiter gehen.

Gudrun Parnitzke lässt ihre Hauptperson, das Kind Uli, durch den Kiez um den Bahnhof Neukölln streifen. Uli betrachtet die vielen Geschäfte: das Kaufhaus Kepa und Hertie, den Feinkostladen Grothmann mit nie erreichbaren Angeboten, wo ihre Mutter nur gelegentlich eine Delikatesse ersteht, der Miederwarenladen mit einem Apparat, der Laufmaschen in Nylonstrümpfen wieder aufnimmt. Im Süßwarenladen kann man neben edlen Schokoladen auch Brausepulver und amerikanische Bubble Gums kaufen. Im Kino sehen sich Uli und ihr Bruder ihre ersten Filme an, Märchen, aber auch die atemberaubenden „Zehn Gebote“, und die Wochenschau im AKI (Aktualitätenkino). Ulis Schulweg führt durchs Rollbergviertel, dessen baufällige Mietshäuser und Bewohner ihr unheimlich sind. Sie trifft in ihrem Kiez Damen in Pelzmänteln und Rentnerinnen in schäbigen Kleidern, Putzfrauen aus Ost-Berlin, die in Neukölln arbeiten und Neuköllner mit schweren Rucksäcken, die in der Ostzone gehamstert haben. Sie spielt mit Freundinnen im Körnerpark und schwärmt für die Schlagersängerin Conny Froboess. Ihre Filme darf sie sich nicht anschauen, aber ihren sehnlichen Wunsch auch einen Latzrock aus Jeansstoff zu besitzen, wie die Sängerin ihn trägt, versucht die Mutter ihr zu erfüllen. Sie näht ihr einen Latzrock. Der Stoff allerdings hat ein Blaudruckmuster, und Uli ist tief enttäuscht. Überhaupt legt man in den 1950er-Jahren sehr großen Wert auf gute, elegante Kleidung, die geschont und lange getragen wird. Die Bäckerstochter heiratet den einen Kopf kleineren Gesellen in einem Georgette-Kleid mit Perlenstickerei und einem zwei Meter langen Tüllschleier.  In manchen Höfen gibt es Kuhställe, und die Milch wird im Vorderhaus verkauft. Die Hausfrauen lassen sie in ihre Henkelkannen aus Aluminium füllen. Ulis Wohnhaus liegt in der Umgebung von vier Kneipen, der Lärm der Betrunkenen und der Lärm der ständig landenden Flugzeuge verfolgen sie bis in den Traum. Zu den schönen Erlebnissen gehört das Spielen im etwas ramponierten und dennoch zauberhaften Körnerpark und der Besuch des Weihnachtsgottesdienstes in der überfüllten Magdalenenkirche, den der in der Gemeinde hoch angesehene Superindendent leitet. Uli ist verzückt von hundert leuchtenden Kerzen und vom Krippenspiel.

Nach dem Bau der Mauer im August 1961 wurde es still um den Bahnhof Neukölln. Viele Geschäfte, Cafés und Vergnügungsstätten mussten schließen. Die besser gestellten Bewohner verließen Neukölln, um in einem komfortableren Bezirk zu wohnen. Mit dem Zuzug der Gastarbeiter begann ein neues Kapitel im Körnerkiez.


Gudrun Parnitzke setzt ihr Buch wie ein Puzzle zusammen. Sie lässt liebevoll und mit Humor die vielen Eindrücke und Begegnungen Revue passieren, die sie mit den Augen des Kindes Uli betrachtet. Das pulsierende Leben rund um den Bahnhof Neukölln war verbunden mit der Sehnsucht der Menschen nach Frieden und mehr Wohlstand angesichts der immer noch nachwirkenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs.







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