Freitag, 5. August 2016

18. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 7. Juli 2016


Erika Rammonat, Kiezbewohnerin seit 1929

Dass Erika Rammonat heute im Erzählcafé zu Gast ist, verdanken wir ihrem Nachbarn Walter G., der regelmäßig das Erzählcafé besucht. Er hat die Verbindung hergestellt. Für ein Vorgespräch empfing mich Frau Rammonat eine Woche zuvor in ihrer Wohnung in der Jonasstraße. Dort zeigte sie mir auch die alten Ställe im Hinterhof, in denen noch bis Ende der 1960er Jahre Kühe gestanden haben. Die Milch wurde in den umliegenden Milchläden verkauft. Auf dem Nachbargrundstück befinden sich im Hinterhaus die ehemaligen Räume der Tanzschule Meisel, in der sie ihre ersten Tanzschritte versucht hat. Die beiden blauen Bärenfiguren stehen noch rechts und links an der großen gläsernen Eingangstür des Hofgebäudes. Sie sind angekratzt und verwittert; vor Jahren sollten sie sicher zu einer erhabenen Atmosphäre beitragen.


Erika Schmiel, (verheiratet Rammonat) wird 1929 zu Hause in der Thomasstraße 27 (heute Nr. 55) geboren. Ihr Vater, der im Ersten Weltkrieg gedient hat, ist Straßenbahnschaffner bei der BVG, später wird er Busfahrer, die Mutter ist Hausfrau. Erika ist das einzige Kind. Die drei haben ein harmonisches Familienleben; sie respektieren einander. Erika wird von den Eltern nicht geschlagen, ganz anders als es viele andere Kinder ihrer Generation erleben. Es ist die Basis für eine unbeschwerte Kindheit in Neukölln, trotz schwieriger Zeiten. Erika spielt mit den Nachbarskindern auf der Straße Hopse, Triesel, Murmeln, oder sie malen mit Kreide Bilder auf den Bürgersteig. Im Körnerpark werden die Puppenwagen ausgefahren. Die Eltern schenken ihr einen Wellensittich, für den sie sorgt. Seitdem ist immer wieder ein Wellensittich ihr ständiger Begleiter, auch als sie schon längst erwachsen ist. Mit 9 Jahren bekommt sie ihr erstes Taschengeld, dazu ein Notizheft, in das sie ihre Ausgaben sorgfältig einträgt.

Im Wohnhaus Thomasstraße wohnen auf jeder Etage fünf Mietparteien jeweils in kleinen Stube-Küche Wohnungen. Sie teilen sich eine Toilette auf halber Treppe, die sie gemeinsam in wöchentlich wechselnden Diensten sauber halten. In den beiden Parterrewohnungen leben zwei Ehepaare. Das eine Paar handelt mit Käse, das andere mit Gemüse und Kartoffeln. Die Waren lagern sie im Hof, um die zahlreichen Läden in der näheren Umgebung zu beliefern. Auch werden Schweine im Hof gehalten. Das Zusammenleben funktioniert gut bis in die 1970er-Jahre, dann wird das Haus vernachlässigt; plötzlich ziehen Gastarbeiter ein; die alte Ordnung gilt nicht mehr, und die gemeinsamen Toiletten werden nicht genügend sauber gehalten. Erika und ihre Mutter ziehen 1975 um in die Jonasstraße.

1935 besucht Erika im ersten Jahr die Mädchenschule in der Thomasstraße, dann wechselt sie in die Lessingschule, da die Klassen geteilt werden müssen. Die Lehrerin, Frau Böhmer, ist streng. Sie verteilt Backpfeifen, schlägt mit dem Rohrstock auf die Hände, wenn diese schmutzig sind oder man kein sauberes Taschentuch vorweisen kann. Sie verbannt auch die Mädchen in die Ecke oder vor die Tür. Aber Erika ist eine brave Schülerin. Nur einmal, als sie im Musiksaal mit der Bank kippelt, muss sie vor die Tür. Erika wird nicht religiös erzogen, deshalb auch nicht konfirmiert. Nach der Volksschule, die sie 1943 als 14-Jährige verlässt, kommt sie zur Hitlerjugend und kann wählen, ob sie das folgende Jahr als Pflichtjahr im Haushalt oder auf dem Land verbringen möchte. Seit 1939 ist Krieg, und in den letzten Jahren nehmen die Bombardierungen auf Berlin zu. Deshalb entscheidet sich Erika für das Landjahr. Sie wird mit anderen jungen Leuten der Hitlerjugend in ein Zeltlager in die Nähe von Hannover geschickt. Von dort aus werden sie als Hilfskräfte auf verschiedene Bauernhöfe verteilt. Aber auch dort können sie die Detonationen der Bomben spüren, die auf Hannover fallen. Trotzdem ist es eine lehrreiche Zeit für Erika, vor allem aber bekommt sie gut zu essen. Als die älteste Tochter des Bauern heiratet, darf sie auf der Hochzeit helfen die Gäste zu bedienen.

Dann muss sie zurück nach Berlin-Neukölln, um ihre Lehrstelle bei einem Zwischenmeister anzutreten. Die Situation ist angesichts zunehmender Luftangriffe unerträglich. Bei Fliegeralarm retten sich die Menschen entweder im Luftschutzkeller ihres Mietshauses oder in gemeinschaftlichen Bunkern. Ein großer Bunker liegt an der Hermannstraße nahe den S-Bahngleisen. Dorthin laufen die meisten Menschen aus dem Stadtviertel, weil sie sich im Bunker sicherer fühlen. Auch Erikas Mutter sucht dort Schutz. Erika aber bleibt bei Fliegeralarm in der Wohnung. Das ist zwar verboten, und der Luftschutzwart ermahnt sie. Aber Erika bleibt stur. Für sie ist es viel schlimmer, den Bombenangriff im Bunker zu ertragen, wo sie nichts hören kann. Das versetzt sie in Panik. Zu Hause fürchtet sie sich nicht.

Das Atelier des Zwischenmeisters liegt am Gesundbrunnen und Erika muss mit der S-Bahn dorthin fahren. Auf dem Rückweg muss sie oft zu Fuß gehen. Denn nach den Bombenangriffen steht der Verkehr still. Es ist Stromsperre und die Straßen sind nicht erleuchtet. Dann läuft die 15-Jährige vier Stunden durch die an vielen Ecken brennende Stadt, um nach Hause zu kommen.

Dass sie das Schneiderhandwerk erlernen soll, wurde ihr beim Arbeitsamt empfohlen. Dort hatte sie sich mit ihren Handarbeiten vorgestellt. Man bescheinigte ihr gute handwerkliche Fähigkeiten und vermittelte den Ausbildungsplatz. Viel Auswahl gibt es nicht in dieser Zeit. Erika verbringt vier Lehrjahre am Gesundbrunnen. Eigentlich sind nur drei Lehrjahre vorgeschrieben, aber das letzte Kriegsjahr muss mitgerechnet werden. Nach der bestandenen Prüfung im Jahr 1948 ist es schwer Arbeit zu finden. Erika bekommt nur kurzfristige Anstellungen und ist immer wieder arbeitslos.

Aber Erika hat Glück. 1953 macht sie das erste Mal in ihrem Leben Urlaub und verbringt ihn am Bodensee. Dort lernt sie Frau Hagedorn kennen, eine Schneidermeisterin aus Berlin-Lichterfelde, die ihr eine Anstellung anbietet. Lichterfelde liegt im Amerikanischen Sektor, und nahe der Finckensteinallee sind viele amerikanische Soldaten mit ihren Familien in eigens für sie gebauten Siedlungen untergebracht. Die amerikanischen Damen sind modebewusst und zählen zum wichtigsten Kundenstamm der Schneiderei Hagedorn. Für Erika beginnt eine befriedigende berufliche Zeit. In der Schneiderei arbeiten neben Erika noch fünf weitere Angestellte. Die Chefin fährt zu den Kundinnen, nimmt Maß und macht die Anproben. Im Atelier werden die Bestellungen auf die angestellten Schneiderinnen verteilt, die sie selbstständig ausführen. Sie arbeiten an mechanischen Nähmaschinen, müssen auch manchmal Ziernähte mit der Hand ausführen, wie Hohlsaum, oder sticken. Die Arbeit ist abwechslungsreich und anspruchsvoll; Erika fühlt sich wohl im Atelier. Nach 7 Jahren endet die schöne Zeit, denn die Tochter der Chefin heiratet einen Amerikaner und wandert in die USA aus. Frau Hagedorn nimmt dies zum Anlass ihr Atelier zu schließen, denn angesichts zunehmender preiswerter Modewaren in den Kaufhäusern nimmt der Kundenstamm ab. Die Damenschneiderei ist nicht mehr wirtschaftlich.

Erneut sucht Erika Arbeit. Gelegentlich findet sie kurzfristige Anstellungen bei Industrieschneidereien. Doch es ist kein Vergleich mit der Arbeit in der Konfektion. Erika sitzt an elektrisch angetriebenen Industrienähmaschinen, die wie von selbst lossausen, und muss den ganzen Tag lang dieselben Handgriffe machen. Zwischendurch ist sie immer wieder arbeitslos.

Aber Erika ist eine fröhliche junge Frau, die sich durch das „Stempeln gehen“ nicht verdrießen lässt. An den Wochenenden vergnügt sie sich beim Tanzen in der Tanzschule Meisel in der Jonasstraße. Eine andere Möglichkeit, zum Beispiel ein öffentliches Tanzlokal zu besuchen, kommt für sie als Frau allein nicht in Frage. Die Tanzschule liegt im Hinterhaus und wird von Frau Ilse Meisel-Karras und ihrem Mann geführt. Frau Meisel-Karras sieht immer elegant und wie aus dem Ei gepellt aus. Streng wacht sie über die tanzenden jungen Leute, dass sie sich gut benehmen und die richtigen Schritte machen. Sie ist die Nichte des bekannten Berliner Operettenkomponisten Will Meisel. In der Tanzschule trifft Erika ihre erste Liebe.

Erika wohnt noch bei ihren Eltern in der engen Stube-Küche-Wohnung in der Thomasstraße. Eine eigene Wohnung ist schwer zu bekommen, erst recht nicht für Alleinstehende. Wieder hat sie Glück, als die Nachbarwohnung plötzlich frei wird und das Wohnungsamt ihr diese kleine Wohnung zubilligt. So kann sie den Eltern immer zur Seite stehen. In ihrem Freundeskreis gibt es einen Mann, den Erika besonders gern hat, aber er hat eine Partnerin. 15 Jahre sind sie eng befreundet, bis die Partnerin des Mannes stirbt. 1965 heiraten sie. Ihr Mann zieht zu ihr, und ihre Eltern nehmen ihn wie einen eigenen Sohn auf. Da ihr Mann als Verseiler im Kabelwerk an der Sonnenallee im Schichtdienst arbeitet, hört Erika auf zu arbeiten. „Sonst hätten wir ja gar nichts voneinander gehabt,“ sagt sie. Seitdem versorgt sie ihn liebevoll und kümmert sich auch um ihre Eltern. Die schönsten Erinnerungen hat Erika an die sommerlichen Wochenenden und Urlaube, die sie mit ihrem Mann beim Angeln in Wannsee verbringt, wo ihr kleines Boot liegt. Die unbeschwerte Freude währt nur wenige Jahre. 1971 stirbt ihr Mann an einer Erbkrankheit, 16 Monate später folgt ihm der Vater. Von nun an betreut Erika nur noch ihre Mutter. Da inzwischen das Haus zunehmend an Gastarbeiter vermietet wird, fühlen sich die beiden dort nicht mehr wohl und mieten 1975 eine Wohnung in der Jonasstraße 21, direkt neben der Tanzschule Meisel. Sie richten sich dort gemütlich ein, lassen sogar eine Etagenheizung installieren und verbringen dort noch 10 gemeinsame Jahre, bis auch die pflegebedürftige Mutter stirbt.

Aber Erika legt nicht die Hände in den Schoß. Sie ist noch nicht 60 Jahre alt und möchte weiter Verantwortung übernehmen. Über das Bezirksamt erhält sie die Pflegschaft für einen Jungen. Später übernimmt sie ehrenamtlich Betreuungsdienste im Auftrag des Sozialamts. 14 Jahre lang besucht sie im Quartier zwischen Hermann- und Karl-Marx-Straße mit einer Kollegin Jubilare, Menschen die ihren 80. Geburtstag und darüber feiern, denen sie mit einem kleinen Geschenk – Blumen oder ein Päckchen Kaffee – eine kleine Freude machen kann. So erhält sie einen Einblick in die sozialen Verhältnisse des Neuköllner Nordens, wo die Armut überwiegt.

Dann wird Erika schwer krank und muss diesen Dienst aufgeben. Heute ist die 87-Jährige geheilt, braucht aber Unterstützung durch den Pflegedienst. Sie ist glücklich, in der schönen Wohnung leben zu können, aus der sie „einmal herausgetragen werden“ möchte. Im Haus Jonasstraße hat sie sich immer wohl gefühlt. Früher gab es eine solidarische Hausgemeinschaft, die sich aber durch den Zuzug junger Leute aufgelöst hat. Aber in dem kleinen Kramladen im Vorderhaus treffen manchmal die Nachbarn zusammen, um bei einer Tasse Kaffee ein wenig zu klatschen. „Man muss doch auf dem Laufenden bleiben“, meint Erika. Auch hat Erika noch einige wenige Freundinnen, um die sie sich kümmert. „Aber die lassen sich inzwischen gehen. Sie sitzen nur noch vor dem Fernseher“, sagt sie kritisch. „Früher haben wir gemeinsam Tagesfahrten unternommen. Jetzt haben sie keinen Lebenswillen mehr.“ Das enttäuscht sie: „Wenn es Probleme gibt, muss man sie doch anpacken!“ Das ist noch immer ihre Devise.




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