Erika Rammonat, Kiezbewohnerin seit 1929
Dass Erika Rammonat
heute im Erzählcafé zu Gast ist, verdanken wir ihrem Nachbarn Walter G., der
regelmäßig das Erzählcafé besucht. Er hat die Verbindung hergestellt. Für ein
Vorgespräch empfing mich Frau Rammonat eine Woche zuvor in ihrer Wohnung in der
Jonasstraße. Dort zeigte sie mir auch die alten Ställe im Hinterhof, in denen
noch bis Ende der 1960er Jahre Kühe gestanden haben. Die Milch wurde in den
umliegenden Milchläden verkauft. Auf dem Nachbargrundstück befinden sich im
Hinterhaus die ehemaligen Räume der Tanzschule Meisel, in der sie ihre ersten
Tanzschritte versucht hat. Die beiden blauen Bärenfiguren stehen noch rechts
und links an der großen gläsernen Eingangstür des Hofgebäudes. Sie sind
angekratzt und verwittert; vor Jahren sollten sie sicher zu einer erhabenen
Atmosphäre beitragen.
Erika Schmiel, (verheiratet Rammonat) wird 1929 zu Hause in
der Thomasstraße 27 (heute Nr. 55) geboren. Ihr Vater, der im Ersten Weltkrieg
gedient hat, ist Straßenbahnschaffner bei der BVG, später wird er Busfahrer,
die Mutter ist Hausfrau. Erika ist das einzige Kind. Die drei haben ein
harmonisches Familienleben; sie respektieren einander. Erika wird von den
Eltern nicht geschlagen, ganz anders als es viele andere Kinder ihrer
Generation erleben. Es ist die Basis für eine unbeschwerte Kindheit in
Neukölln, trotz schwieriger Zeiten. Erika spielt mit den Nachbarskindern auf
der Straße Hopse, Triesel, Murmeln, oder sie malen mit Kreide Bilder auf den
Bürgersteig. Im Körnerpark werden die Puppenwagen ausgefahren. Die Eltern
schenken ihr einen Wellensittich, für den sie sorgt. Seitdem ist immer wieder
ein Wellensittich ihr ständiger Begleiter, auch als sie schon längst erwachsen
ist. Mit 9 Jahren bekommt sie ihr erstes Taschengeld, dazu ein Notizheft, in
das sie ihre Ausgaben sorgfältig einträgt.
Im Wohnhaus Thomasstraße wohnen auf jeder Etage fünf
Mietparteien jeweils in kleinen Stube-Küche Wohnungen. Sie teilen sich eine
Toilette auf halber Treppe, die sie gemeinsam in wöchentlich wechselnden
Diensten sauber halten. In den beiden Parterrewohnungen leben zwei Ehepaare.
Das eine Paar handelt mit Käse, das andere mit Gemüse und Kartoffeln. Die Waren
lagern sie im Hof, um die zahlreichen Läden in der näheren Umgebung zu
beliefern. Auch werden Schweine im Hof gehalten. Das Zusammenleben funktioniert
gut bis in die 1970er-Jahre, dann wird das Haus vernachlässigt; plötzlich
ziehen Gastarbeiter ein; die alte Ordnung gilt nicht mehr, und die gemeinsamen
Toiletten werden nicht genügend sauber gehalten. Erika und ihre Mutter ziehen
1975 um in die Jonasstraße.
1935 besucht Erika im ersten Jahr die Mädchenschule in der
Thomasstraße, dann wechselt sie in die Lessingschule, da die Klassen geteilt
werden müssen. Die Lehrerin, Frau Böhmer, ist streng. Sie verteilt Backpfeifen,
schlägt mit dem Rohrstock auf die Hände, wenn diese schmutzig sind oder man
kein sauberes Taschentuch vorweisen kann. Sie verbannt auch die Mädchen in die
Ecke oder vor die Tür. Aber Erika ist eine brave Schülerin. Nur einmal, als sie
im Musiksaal mit der Bank kippelt, muss sie vor die Tür. Erika wird nicht
religiös erzogen, deshalb auch nicht konfirmiert. Nach der Volksschule, die sie
1943 als 14-Jährige verlässt, kommt sie zur Hitlerjugend und kann wählen, ob
sie das folgende Jahr als Pflichtjahr im Haushalt oder auf dem Land verbringen
möchte. Seit 1939 ist Krieg, und in den letzten Jahren nehmen die
Bombardierungen auf Berlin zu. Deshalb entscheidet sich Erika für das Landjahr.
Sie wird mit anderen jungen Leuten der Hitlerjugend in ein Zeltlager in die
Nähe von Hannover geschickt. Von dort aus werden sie als Hilfskräfte auf
verschiedene Bauernhöfe verteilt. Aber auch dort können sie die Detonationen
der Bomben spüren, die auf Hannover fallen. Trotzdem ist es eine lehrreiche
Zeit für Erika, vor allem aber bekommt sie gut zu essen. Als die älteste
Tochter des Bauern heiratet, darf sie auf der Hochzeit helfen die Gäste zu
bedienen.
Dann muss sie zurück nach Berlin-Neukölln, um ihre
Lehrstelle bei einem Zwischenmeister anzutreten. Die Situation ist angesichts
zunehmender Luftangriffe unerträglich. Bei Fliegeralarm retten sich die
Menschen entweder im Luftschutzkeller ihres Mietshauses oder in
gemeinschaftlichen Bunkern. Ein großer Bunker liegt an der Hermannstraße nahe
den S-Bahngleisen. Dorthin laufen die meisten Menschen aus dem Stadtviertel,
weil sie sich im Bunker sicherer fühlen. Auch Erikas Mutter sucht dort Schutz.
Erika aber bleibt bei Fliegeralarm in der Wohnung. Das ist zwar verboten, und
der Luftschutzwart ermahnt sie. Aber Erika bleibt stur. Für sie ist es viel
schlimmer, den Bombenangriff im Bunker zu ertragen, wo sie nichts hören kann.
Das versetzt sie in Panik. Zu Hause fürchtet sie sich nicht.
Das Atelier des Zwischenmeisters liegt am Gesundbrunnen und
Erika muss mit der S-Bahn dorthin fahren. Auf dem Rückweg muss sie oft zu Fuß
gehen. Denn nach den Bombenangriffen steht der Verkehr still. Es ist
Stromsperre und die Straßen sind nicht erleuchtet. Dann läuft die 15-Jährige
vier Stunden durch die an vielen Ecken brennende Stadt, um nach Hause zu
kommen.
Dass sie das Schneiderhandwerk erlernen soll, wurde ihr beim
Arbeitsamt empfohlen. Dort hatte sie sich mit ihren Handarbeiten vorgestellt.
Man bescheinigte ihr gute handwerkliche Fähigkeiten und vermittelte den
Ausbildungsplatz. Viel Auswahl gibt es nicht in dieser Zeit. Erika verbringt
vier Lehrjahre am Gesundbrunnen. Eigentlich sind nur drei Lehrjahre
vorgeschrieben, aber das letzte Kriegsjahr muss mitgerechnet werden. Nach der
bestandenen Prüfung im Jahr 1948 ist es schwer Arbeit zu finden. Erika bekommt
nur kurzfristige Anstellungen und ist immer wieder arbeitslos.
Aber Erika hat Glück. 1953 macht sie das erste Mal in ihrem
Leben Urlaub und verbringt ihn am Bodensee. Dort lernt sie Frau Hagedorn
kennen, eine Schneidermeisterin aus Berlin-Lichterfelde, die ihr eine
Anstellung anbietet. Lichterfelde liegt im Amerikanischen Sektor, und nahe der
Finckensteinallee sind viele amerikanische Soldaten mit ihren Familien in eigens
für sie gebauten Siedlungen untergebracht. Die amerikanischen Damen sind
modebewusst und zählen zum wichtigsten Kundenstamm der Schneiderei Hagedorn.
Für Erika beginnt eine befriedigende berufliche Zeit. In der Schneiderei
arbeiten neben Erika noch fünf weitere Angestellte. Die Chefin fährt zu den
Kundinnen, nimmt Maß und macht die Anproben. Im Atelier werden die Bestellungen
auf die angestellten Schneiderinnen verteilt, die sie selbstständig ausführen.
Sie arbeiten an mechanischen Nähmaschinen, müssen auch manchmal Ziernähte mit
der Hand ausführen, wie Hohlsaum, oder sticken. Die Arbeit ist abwechslungsreich
und anspruchsvoll; Erika fühlt sich wohl im Atelier. Nach 7 Jahren endet die
schöne Zeit, denn die Tochter der Chefin heiratet einen Amerikaner und wandert
in die USA aus. Frau Hagedorn nimmt dies zum Anlass ihr Atelier zu schließen,
denn angesichts zunehmender preiswerter Modewaren in den Kaufhäusern nimmt der
Kundenstamm ab. Die Damenschneiderei ist nicht mehr wirtschaftlich.
Erneut sucht Erika Arbeit. Gelegentlich findet sie
kurzfristige Anstellungen bei Industrieschneidereien. Doch es ist kein
Vergleich mit der Arbeit in der Konfektion. Erika sitzt an elektrisch
angetriebenen Industrienähmaschinen, die wie von selbst lossausen, und muss den
ganzen Tag lang dieselben Handgriffe machen. Zwischendurch ist sie immer wieder
arbeitslos.
Aber Erika ist eine fröhliche junge Frau, die sich durch das
„Stempeln gehen“ nicht verdrießen lässt. An den Wochenenden vergnügt sie sich
beim Tanzen in der Tanzschule Meisel in der Jonasstraße. Eine andere
Möglichkeit, zum Beispiel ein öffentliches Tanzlokal zu besuchen, kommt für sie
als Frau allein nicht in Frage. Die Tanzschule liegt im Hinterhaus und wird von
Frau Ilse Meisel-Karras und ihrem Mann geführt. Frau Meisel-Karras sieht immer
elegant und wie aus dem Ei gepellt aus. Streng wacht sie über die tanzenden
jungen Leute, dass sie sich gut benehmen und die richtigen Schritte machen. Sie
ist die Nichte des bekannten Berliner Operettenkomponisten Will Meisel. In der
Tanzschule trifft Erika ihre erste Liebe.
Erika wohnt noch bei ihren Eltern in der engen
Stube-Küche-Wohnung in der Thomasstraße. Eine eigene Wohnung ist schwer zu
bekommen, erst recht nicht für Alleinstehende. Wieder hat sie Glück, als die
Nachbarwohnung plötzlich frei wird und das Wohnungsamt ihr diese kleine Wohnung
zubilligt. So kann sie den Eltern immer zur Seite stehen. In ihrem
Freundeskreis gibt es einen Mann, den Erika besonders gern hat, aber er hat
eine Partnerin. 15 Jahre sind sie eng befreundet, bis die Partnerin des Mannes
stirbt. 1965 heiraten sie. Ihr Mann zieht zu ihr, und ihre Eltern nehmen ihn
wie einen eigenen Sohn auf. Da ihr Mann als Verseiler im Kabelwerk an der
Sonnenallee im Schichtdienst arbeitet, hört Erika auf zu arbeiten. „Sonst
hätten wir ja gar nichts voneinander gehabt,“ sagt sie. Seitdem versorgt sie
ihn liebevoll und kümmert sich auch um ihre Eltern. Die schönsten Erinnerungen
hat Erika an die sommerlichen Wochenenden und Urlaube, die sie mit ihrem Mann
beim Angeln in Wannsee verbringt, wo ihr kleines Boot liegt. Die unbeschwerte
Freude währt nur wenige Jahre. 1971 stirbt ihr Mann an einer Erbkrankheit, 16
Monate später folgt ihm der Vater. Von nun an betreut Erika nur noch ihre
Mutter. Da inzwischen das Haus zunehmend an Gastarbeiter vermietet wird, fühlen
sich die beiden dort nicht mehr wohl und mieten 1975 eine Wohnung in der
Jonasstraße 21, direkt neben der Tanzschule Meisel. Sie richten sich dort
gemütlich ein, lassen sogar eine Etagenheizung installieren und verbringen dort
noch 10 gemeinsame Jahre, bis auch die pflegebedürftige Mutter stirbt.
Aber Erika legt nicht die Hände in den Schoß. Sie ist noch
nicht 60 Jahre alt und möchte weiter Verantwortung übernehmen. Über das
Bezirksamt erhält sie die Pflegschaft für einen Jungen. Später übernimmt sie ehrenamtlich
Betreuungsdienste im Auftrag des Sozialamts. 14 Jahre lang besucht sie im
Quartier zwischen Hermann- und Karl-Marx-Straße mit einer Kollegin Jubilare,
Menschen die ihren 80. Geburtstag und darüber feiern, denen sie mit einem
kleinen Geschenk – Blumen oder ein Päckchen Kaffee – eine kleine Freude machen
kann. So erhält sie einen Einblick in die sozialen Verhältnisse des Neuköllner
Nordens, wo die Armut überwiegt.
Dann wird Erika schwer krank und muss diesen Dienst
aufgeben. Heute ist die 87-Jährige geheilt, braucht aber Unterstützung durch
den Pflegedienst. Sie ist glücklich, in der schönen Wohnung leben zu können,
aus der sie „einmal herausgetragen werden“ möchte. Im Haus Jonasstraße hat sie
sich immer wohl gefühlt. Früher gab es eine solidarische Hausgemeinschaft, die
sich aber durch den Zuzug junger Leute aufgelöst hat. Aber in dem kleinen
Kramladen im Vorderhaus treffen manchmal die Nachbarn zusammen, um bei einer
Tasse Kaffee ein wenig zu klatschen. „Man muss doch auf dem Laufenden bleiben“,
meint Erika. Auch hat Erika noch einige wenige Freundinnen, um die sie sich
kümmert. „Aber die lassen sich inzwischen gehen. Sie sitzen nur noch vor dem
Fernseher“, sagt sie kritisch. „Früher haben wir gemeinsam Tagesfahrten
unternommen. Jetzt haben sie keinen Lebenswillen mehr.“ Das enttäuscht sie:
„Wenn es Probleme gibt, muss man sie doch anpacken!“ Das ist noch immer ihre
Devise.
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