Kazim Erdogan: Wir
müssen reden
Nie ist das Erzählcafé
so gefüllt, wie an dem Tag, an dem Kazim Erdogan auftritt. Erstmals sind mehrere
Migranten dabei, Stadtteilmütter, Freunde von Kazim, seine Frau und die beiden
Töchter. Kazim ist wegen seiner türkischen Männergruppe berühmt geworden, die
er 2007 gegründet hat. Inzwischen gibt es den Verein Aufbruch Neukölln e.V.,
der sich um das Zusammenleben im Kiez kümmert und in dem zahlreiche
ehrenamtlich betreute Gruppen organisiert sind (siehe auch den Bericht von
Sayima Kutluer, Seite X). Kazim gehört zum Vorstand. Für seine ehrenamtliche Arbeit
wurde der Psychologe und Familienberater mehrfach ausgezeichnet, der
Bundespräsident verlieh ihm 2012 das Bundesverdienstkreuz. Geduldig wartet der
64-Jährige während der Vorstellungsrunde auf sein Stichwort. Als ich mit den
Worten ..er kümmert sich um die Integration“ zu ihm überleiten will,
interveniert er. Das Wort „Integration“ gehöre zu den Begriffen, die er aus
seinem Vokabularium gestrichen habe.
„Ich werde Ihnen das gleich erklären“, sagt er und berichtet
zunächst, wie er 1974 aus der Türkei nach Deutschland kommt und am Bahnhof in München
ohne ein Wort Deutsch zu sprechen eine Fahrkarte nach Berlin kaufen möchte.
Schließlich wendet er sich an einen Mann mit schwarzem Schnurrbart, den er für
einen Türken hält, und bittet ihn den Fahrschein für ihn zu lösen. Gemeinsam am
Schalter lauscht Kazim bewundernd den deutschen Worten seines Helfers. „Wie gut
er diese Sprache spricht!“, denkt er und nimmt sich vor immer hilfsbereit zu
sein, wenn andere ihn brauchen. „Das war die Geburtsstunde meiner
ehrenamtlichen Arbeit, die nun seit 43 Jahren währt“, sagt Kazim und fügt noch
hinzu, dass der Münchner Türke in Wirklichkeit nur gebrochen Deutsch sprach,
wie er es im Nachhinein bemerkte.
Kazim stammt aus einem kleinen Dorf in Anatolien. Dort
wächst er mit sieben Geschwistern auf. Sein Vater arbeitet tagsüber bei der
Eisenbahngesellschaft, anschließend noch auf den Feldern. „Ich habe nie
gesehen, dass mein Vater die Hände in den Schoß legt. Er arbeitete 20 Stunden
am Tag.“ Seine Eltern wissen, dass Bildung helfen kann Armut zu überwinden und
ermöglichen es ihren ältesten Sohn Kazim weit weg in ein Internat zu schicken.
Einen Teil der Kosten übernimmt die Eisenbahngesellschaft. Dort macht Kazim
Abitur, wobei er sich für gesellschaftspolitische Fragen interessiert. Er ist
der erste im Dorf, der ein Abitur vorweisen kann. Zum Studieren möchte er nach
Deutschland. Nachdem er sich das Geld für die Reise bei verschiedenen Jobs
verdient hat, macht er sich auf den Weg. Viele Menschen verlassen in dieser
Zeit das Dorf. Sie gehen entweder in die Städte, um einen Beruf ausüben zu
können oder als Gastarbeiter nach Deutschland. So stirbt das Dorf allmählich
aus. Die Gastarbeiter versprechen zurückzukommen; doch die meisten bleiben in
Deutschland. Den anderen Geschwistern ist es nicht vergönnt Abitur zu machen.
Bis auf einen Bruder leben alle in der Türkei. Die Brüder stehen in Lohn und
Brot; die Schwestern sind in Anatolien geblieben.
Den jüngsten Bruder Hassan holt Kazim später nach Berlin,
nachdem der Vater gestorben ist. Hassan lebt fünf Jahre bei ihm. Dann wirft die
Ausländerpolizei Hassan vor, er habe sich seinen Aufenthaltsstatus erschlichen,
denn die Mutter lebe nicht mit ihm in Deutschland, sondern in der Türkei. Man
entzieht ihm die Aufenthaltserlaubnis und fordert ihn auf auszureisen. Kazim
ist längst Lehrer und in der Gewerkschaft (GEW) organisiert, die sich
solidarisch erklärt und Flugblattaktionen für Hassans Verbleib in Deutschland
unterstützt. Schließlich erhält Hassan Kirchenasyl, das er nutzt, um seinen
Hauptschulabschluss zu machen. Nach sechs Monaten reist er freiwillig aus. Das
alles geschieht unter dem Berliner Innensenator Heinrich Lummer, dem „harten
Hund der CDU“.
Sieben Monate nach seiner Ankunft in Berlin wird Kazim von
der Polizei ohne gültige Papiere erwischt. Er kommt in Abschiebehaft und soll
per Gerichtsbeschluss der Türkei ausgeliefert werden. Da erreicht ihn ein
Schreiben von der Freien Universität, dass er einen der begehrten Plätze in
einem Deutschkurs bekommen würde. Das ist die Rettung. Noch heute ist Kazim
diesem Beamten, der das Schreiben verfasst hat, unendlich dankbar.
Kazim studiert Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften,
daneben lernt er die deutsche Sprache. Doch im ersten Jahr geht er nicht zur
Universität, sondern verdient sich seinen Lebensunterhalt in einer Cafeteria.
In der Türkei hat ihm ein Onkel erzählt, dass in Deutschland das Geld auf der
Straße liegen würde... Kazim hat auch gehört, dass man in Deutschland
gleichzeitig Geld verdienen und studieren könne. Ohne Unterstützung und
Stipendium bleibt Kazim auch gar nichts anderes übrig. Er hält sich an die
Regelstudienzeiten und zieht das Studium durch trotz der Notwendigkeit arbeiten
zu müssen. Kazim arbeitet nachts, hat in dieser Zeit etwa 150 verschiedene
Jobs, verteilt bei Wiener Wald Hähnchen, schleppt Kisten für Coca Cola; bei
Quelle transportiert er Waschmaschinen. Tagsüber dann das Studium. So schnell
wie möglich will er damit fertig werden, um wieder einmal nachts schlafen zu
können.
Nach fünf Jahren erhält Kazim eine Stelle als Lehrer an
einer Moabiter Hauptschule. Er unterrichtet alle Fächer außer Chemie und
Physik, ist Klassenlehrer. „Ich habe gern unterrichtet, sogar mit den Kindern
gesungen. Aber der Unterricht war nicht so hart wie heute.“ Kazim erinnert sich
an eine Begegnung mit einem ehemaligen Schüler, dem er Mathematik beigebracht
haben soll. „Was, Sie haben von mir Mathe gelernt? Ich kann es bis heute
nicht,“ sagt Kazim. Der junge Mann reicht ihm seine Visitenkarte. Sein Beruf
ist Ingenieur. „Das sind die kleinen Erfolgserlebnisse, die einen glücklich
machen.“
Seine Frau lernt Kazim durch eine gemeinsame Freundin
kennen. Sie ist Verkäuferin bei Woolworth und stammt aus demselben anatolischen
Dorf. Er würde gern ihre Bekanntschaft machen, sagt er der Freundin, doch bis
er Gülsen aufsucht vergehen zwei Jahre. Endlich spricht er sie an. Sie gehen
zusammen aus. Dann zieht seine Mitbewohnerin aus und Gülsen zieht zu ihm. Sie
heiraten. Das alles gefällt Gülsens Vater nicht. Kazim hätte ordnungsgemäß bei
ihm um Gülsens Hand anhalten müssen. Eineinhalb Jahre lang unterbricht er den
Kontakt, bis Kazim ankündigt, dass die beiden ihn besuchen wollen. Seine
Antwort: „Ich werde meine Tochter nicht in mein Haus lassen.“ Die beiden fahren
trotzdem hin, und Gülsens Vater gibt schließlich nach. Es hat allerdings eine
Weile gedauert.
Nach zehn Jahren an der Hauptschule wechselt Kazim in die
Verwaltung und wird Schulpsychologe im Bezirksamt Schöneberg. 14 Jahre arbeitet
er dort; dann wird die Stelle gestrichen, und Kazim muss sich – „nach 23 Jahren
im öffentlichen Dienst!“ – nach einer neuen Arbeit umsehen und sich erneut
bewerben. Er hat Glück, schlägt seine acht Konkurrenten und bekommt 2003 die
freie Stelle beim Psychosozialen Dienst des Jugendamtes Neukölln, die er bis zu
seinem Ruhestand 2017 innehat. Jetzt befindet sich Kazim im „Unruhestand“ und
hat viel mehr Zeit für seine ehrenamtlichen Projekte, die er seit vielen Jahren
neben seiner Arbeit in der Verwaltung betreibt.
Sein Leben widmet Kazim dem Zusammenleben und der besseren
Verständigung zwischen Deutschen und Türken (sowie anderen Migranten). Berühmt
wird er mit der ersten türkischen Vätergruppe, die er 2007 in Neukölln gründet.
Die Idee hatte er aber schon als Hauptschullehrer in den 1980er-Jahren. Bei den
Elternversammlungen sah er nur Mütter. Die meisten Lehrer und Erzieher sind
Frauen. Wo sind die Väter? Im Teehaus? Interessieren sie sich nicht für die
Zukunft ihrer Kinder? Für Kazim ist klar: „Wir müssen die Väter und Männer mit
ins Boot holen, egal wie, mit Druck oder Überzeugung, denn sie gehören zur
Erziehung dazu.“ Inzwischen gibt es in ganz Berlin sechs türkische bzw.
internationale Vätergruppen, eine siebente wird gerade in Kreuzberg gegründet.
Kazim gibt den Männern eine Chance aus der Isolation in die Familien
zurückzukehren und Verantwortung zu übernehmen. Wer mehr kommuniziert, kann
auch besser verstanden werden, ist seine Devise. In den Gruppen, die von
Sozialarbeitern aus Kazims Team betreut werden, sprechen die Männer über ihr
Frauenbild, Ehe, Sex, Gewalt, Scheidung. Es sind Themen, über die sie noch nie
geredet haben.
„90 Prozent der Probleme sind Ergebnis der Sprachlosigkeit.
Sie nimmt erschreckend zu. Beobachten Sie doch mal die Leute in der U-Bahn. 70
Prozent von ihnen sind mit ihrem Handy beschäftigt, 10 Prozent lesen Zeitung,
die übrigen starren deprimiert auf den Boden.“ Kazim hat ganz andere
Erfahrungen. Früher, als es noch keine Handys gab und er täglich mit der U-Bahn
bis Thielplatz zur Uni fuhr, kam er des Öfteren mit einem anderen Fahrgast ins
Gespräch. Woher kommen Sie, was studieren Sie, seit wann sind Sie hier? waren
die Fragen, und Kazim konnte sein frisches Deutsch anwenden. „Wenn wir nicht
miteinander reden, brauchen wir uns über die Entfremdung nicht zu wundern. Und
fast beschwörend ruft er, dass jeder von uns etwas tun kann, um das
Zusammenleben zu verbessern. „Wenn wir viele kleine Brötchen backen, haben wir bald
ein großes Brot!“
Kazims zweites wichtiges Projekt ist die „Woche der Sprache
und des Lesens“. Sie dient dazu, die Bildung von Kindern und Jugendlichen sowie
das Gemeinschaftsgefühl der Menschen verschiedener Herkunft und Religion zu
fördern. Sie fand 2006, 2008 und 2010 in Neukölln und 2012 in ganz Berlin
statt. Allein im Jahr 2012 gab es etwa 1.300 Veranstaltungen. Die jungen
Menschen sollen die „Schönheit der Sprache“ für sich entdecken und ihre
Ausdrucksmöglichkeiten weiterentwickeln. Beim gegenseitigen Kennenlernen können
Vorurteile abgebaut und Solidarität entwickelt werden. Kazims Traum ist es in
ganz Deutschland eine solche Woche zu organisieren. „Wir arbeiten daran.“
Sechs Begriffe der deutschen Sprache will Kazim allerdings
nicht mehr akzeptieren, weil sie eher verschleiern als aufklären: 1.
INTEGRATION: Viele seiner in Deutschland lebenden türkischen Freunde leben
verfassungskonform, identifizieren sich mit dem Land, halten sich an Regeln,
aber sie sprechen schlecht oder kein Deutsch. Deshalb wird oft behauptet, sie
seien nicht integriert. Aber Türken der dritten Generation, die akzentfrei
Deutsch sprechen, hält man unkritisch für integriert. 2. MIGRATIONSHINTERGRUND:
Das Wort wird benutzt, um es als Grund für ein Scheitern anzuführen. Ein
Beispiel: Ein Antrag für mehr Geld und Personal in Schulen wird damit
begründet, dass eine bestimmte hohe Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund
in dieser Schule vorhanden ist. 3. BILDUNGSFERN: Kazims Mutter ist
Analphabetin. Aber sie hat sieben Kinder großgezogen und viele herausragende
Fähigkeiten wie Empathie, Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Solidarität.
„Wenn wir einen solchen Menschen als ‚bildungsfern’ abstempeln, kommen wir in
eine Schieflage.“ 4. POSTMIGRANTISCHER MIGRATIONSHINTERGRUND: Damit sind die
Kinder der dritten und vierten Einwanderungsgeneration gemeint. Sie wollen mit
ihren Großeltern nichts mehr zu tun haben. Ihr Theater, ihre Musik und Kunst nennen
sie „postmigrantisch“. Dabei sind sie längst Teil unserer Gesellschaft. 5.
BIODEUTSCH: Diesen Begriff nutzen gern „Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“,
um ihrem deutschen Mitbewohner mitzuteilen, dass sie ihn nicht verstehen
können. „Das ist eine Stigmatisierung in die andere Richtung. Warum soll ich
meine deutschen Landleute als ‚biodeutsch’ bezeichnen? Wir sitzen doch alle in
einem Boot!“ 6. BRENNPUNKT–SCHULE oder –REGION: Dieser Begriff kann
missverstanden werden. Viele türkische Mütter, beispielsweise, kennen nur 50
bis 60 deutsche Wörter. Wenn die Lehrerein auf die schwierige Situation einer
Schule hinweist und sagt: „Frau Ayse, bedenken Sie, Ihr Kind geht auf eine Brennpunkt-Schule.“
Dann könnte Frau Ayse antworten: „Was brennt? Was ist los?“
Deshalb sagt Kazim, wenn ich mit den Menschen spreche, habe
ich immer mein WERKZEUG und meine ERSATZTEILE dabei, fest davon überzeugt, dass
man an der Form unserer Kommunikation drehen und schrauben kann, bis sie
reibungslos funktioniert. Im Werkzeugkasten befinden sich vier Maxime: 1. Gleiche
Augenhöhe, 2. Verständliche Sprache, 3. Menschen dort abholen, wo sie sind, 4. Aufsuchende
Arbeit. Ersatzteile sind: Anerkennung, Akzeptanz, Vertrauen, Toleranz.
Kazim erzählt die Geschichte von einer jungen Frau, die in
der Türkei geheiratet hat, weil der Mann ihr das Paradies auf Erden in
Deutschland versprach. Schon am Flughafen Tegel merkt sie, dass sie wohl eher
in der Hölle gelandet ist. Der Mann ist spielsüchtig, gewalttätig,
drogenabhängig und schlägt sie. Als sie 29 Jahre alt ist, hat sie drei Kinder
und kann nicht mehr zurück in die Türkei. Sie trennt sich, lebt von Hartz IV
und spricht 30 Wörter Deutsch. Nie geht sie zu den Elternversammlungen in die
Schule. Die Lehrerin vermerkt: bildungsfern. Kazim: „Dabei sollte sie diese
Mutter lieber aufsuchen und ihr sagen: Liebe Frau Ayse, wie gut Sie Ihre Kinder
erziehen. Sie kommen immer pünktlich, tragen saubere Kleidung und haben immer
etwas zu essen dabei. Toll, wie Sie das schaffen. Wollen Sie nicht bei unserem
Schulfest dabei sein? Könnten Sie auch etwas zum Essen mitbringen? – Das würde
Frau Ayse dann sicher tun. Das Essen würde allen schmecken und man würde es
loben. Später würde sich Frau Ayse vielleicht trauen auch die Elternversammlungen
zu besuchen. Sie braucht sich bald nicht mehr zu schämen.“
Wir müssen miteinander reden, manchmal auch im Klartext.
Dann bewegen wir uns, und wenn es nur einige Millimeter sind. Wir brauchen ein
„Wir-Gefühl“. Das ist Kazims einfache Botschaft, die aber so schwer umzusetzen
ist. Zur Unterstützung gibt es den Werkzeugkasten mit den Ersatzteilen.
Wer noch mehr über
Kazim Erdogan und seine Herzensangelegenheiten erfahren möchte, sollte sich
sein Buch vornehmen, das am 11. September 2017 erscheint: Sonja Hartwig. Kazim,
wie schaffen wir das? Kazim Erdogan und seine türkische Männergruppe – vom
Zusammenleben in Deutschland. DVA