Samstag, 25. Februar 2017

28. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 16. Februar 2017

Kazim Erdogan: Wir müssen reden

Nie ist das Erzählcafé so gefüllt, wie an dem Tag, an dem Kazim Erdogan auftritt. Erstmals sind mehrere Migranten dabei, Stadtteilmütter, Freunde von Kazim, seine Frau und die beiden Töchter. Kazim ist wegen seiner türkischen Männergruppe berühmt geworden, die er 2007 gegründet hat. Inzwischen gibt es den Verein Aufbruch Neukölln e.V., der sich um das Zusammenleben im Kiez kümmert und in dem zahlreiche ehrenamtlich betreute Gruppen organisiert sind (siehe auch den Bericht von Sayima Kutluer, Seite X). Kazim gehört zum Vorstand. Für seine ehrenamtliche Arbeit wurde der Psychologe und Familienberater mehrfach ausgezeichnet, der Bundespräsident verlieh ihm 2012 das Bundesverdienstkreuz. Geduldig wartet der 64-Jährige während der Vorstellungsrunde auf sein Stichwort. Als ich mit den Worten ..er kümmert sich um die Integration“ zu ihm überleiten will, interveniert er. Das Wort „Integration“ gehöre zu den Begriffen, die er aus seinem Vokabularium gestrichen habe.

„Ich werde Ihnen das gleich erklären“, sagt er und berichtet zunächst, wie er 1974 aus der Türkei nach Deutschland kommt und am Bahnhof in München ohne ein Wort Deutsch zu sprechen eine Fahrkarte nach Berlin kaufen möchte. Schließlich wendet er sich an einen Mann mit schwarzem Schnurrbart, den er für einen Türken hält, und bittet ihn den Fahrschein für ihn zu lösen. Gemeinsam am Schalter lauscht Kazim bewundernd den deutschen Worten seines Helfers. „Wie gut er diese Sprache spricht!“, denkt er und nimmt sich vor immer hilfsbereit zu sein, wenn andere ihn brauchen. „Das war die Geburtsstunde meiner ehrenamtlichen Arbeit, die nun seit 43 Jahren währt“, sagt Kazim und fügt noch hinzu, dass der Münchner Türke in Wirklichkeit nur gebrochen Deutsch sprach, wie er es im Nachhinein bemerkte.

Kazim stammt aus einem kleinen Dorf in Anatolien. Dort wächst er mit sieben Geschwistern auf. Sein Vater arbeitet tagsüber bei der Eisenbahngesellschaft, anschließend noch auf den Feldern. „Ich habe nie gesehen, dass mein Vater die Hände in den Schoß legt. Er arbeitete 20 Stunden am Tag.“ Seine Eltern wissen, dass Bildung helfen kann Armut zu überwinden und ermöglichen es ihren ältesten Sohn Kazim weit weg in ein Internat zu schicken. Einen Teil der Kosten übernimmt die Eisenbahngesellschaft. Dort macht Kazim Abitur, wobei er sich für gesellschaftspolitische Fragen interessiert. Er ist der erste im Dorf, der ein Abitur vorweisen kann. Zum Studieren möchte er nach Deutschland. Nachdem er sich das Geld für die Reise bei verschiedenen Jobs verdient hat, macht er sich auf den Weg. Viele Menschen verlassen in dieser Zeit das Dorf. Sie gehen entweder in die Städte, um einen Beruf ausüben zu können oder als Gastarbeiter nach Deutschland. So stirbt das Dorf allmählich aus. Die Gastarbeiter versprechen zurückzukommen; doch die meisten bleiben in Deutschland. Den anderen Geschwistern ist es nicht vergönnt Abitur zu machen. Bis auf einen Bruder leben alle in der Türkei. Die Brüder stehen in Lohn und Brot; die Schwestern sind in Anatolien geblieben.

Den jüngsten Bruder Hassan holt Kazim später nach Berlin, nachdem der Vater gestorben ist. Hassan lebt fünf Jahre bei ihm. Dann wirft die Ausländerpolizei Hassan vor, er habe sich seinen Aufenthaltsstatus erschlichen, denn die Mutter lebe nicht mit ihm in Deutschland, sondern in der Türkei. Man entzieht ihm die Aufenthaltserlaubnis und fordert ihn auf auszureisen. Kazim ist längst Lehrer und in der Gewerkschaft (GEW) organisiert, die sich solidarisch erklärt und Flugblattaktionen für Hassans Verbleib in Deutschland unterstützt. Schließlich erhält Hassan Kirchenasyl, das er nutzt, um seinen Hauptschulabschluss zu machen. Nach sechs Monaten reist er freiwillig aus. Das alles geschieht unter dem Berliner Innensenator Heinrich Lummer, dem „harten Hund der CDU“.

Sieben Monate nach seiner Ankunft in Berlin wird Kazim von der Polizei ohne gültige Papiere erwischt. Er kommt in Abschiebehaft und soll per Gerichtsbeschluss der Türkei ausgeliefert werden. Da erreicht ihn ein Schreiben von der Freien Universität, dass er einen der begehrten Plätze in einem Deutschkurs bekommen würde. Das ist die Rettung. Noch heute ist Kazim diesem Beamten, der das Schreiben verfasst hat, unendlich dankbar.

Kazim studiert Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaften, daneben lernt er die deutsche Sprache. Doch im ersten Jahr geht er nicht zur Universität, sondern verdient sich seinen Lebensunterhalt in einer Cafeteria. In der Türkei hat ihm ein Onkel erzählt, dass in Deutschland das Geld auf der Straße liegen würde... Kazim hat auch gehört, dass man in Deutschland gleichzeitig Geld verdienen und studieren könne. Ohne Unterstützung und Stipendium bleibt Kazim auch gar nichts anderes übrig. Er hält sich an die Regelstudienzeiten und zieht das Studium durch trotz der Notwendigkeit arbeiten zu müssen. Kazim arbeitet nachts, hat in dieser Zeit etwa 150 verschiedene Jobs, verteilt bei Wiener Wald Hähnchen, schleppt Kisten für Coca Cola; bei Quelle transportiert er Waschmaschinen. Tagsüber dann das Studium. So schnell wie möglich will er damit fertig werden, um wieder einmal nachts schlafen zu können.

Nach fünf Jahren erhält Kazim eine Stelle als Lehrer an einer Moabiter Hauptschule. Er unterrichtet alle Fächer außer Chemie und Physik, ist Klassenlehrer. „Ich habe gern unterrichtet, sogar mit den Kindern gesungen. Aber der Unterricht war nicht so hart wie heute.“ Kazim erinnert sich an eine Begegnung mit einem ehemaligen Schüler, dem er Mathematik beigebracht haben soll. „Was, Sie haben von mir Mathe gelernt? Ich kann es bis heute nicht,“ sagt Kazim. Der junge Mann reicht ihm seine Visitenkarte. Sein Beruf ist Ingenieur. „Das sind die kleinen Erfolgserlebnisse, die einen glücklich machen.“

Seine Frau lernt Kazim durch eine gemeinsame Freundin kennen. Sie ist Verkäuferin bei Woolworth und stammt aus demselben anatolischen Dorf. Er würde gern ihre Bekanntschaft machen, sagt er der Freundin, doch bis er Gülsen aufsucht vergehen zwei Jahre. Endlich spricht er sie an. Sie gehen zusammen aus. Dann zieht seine Mitbewohnerin aus und Gülsen zieht zu ihm. Sie heiraten. Das alles gefällt Gülsens Vater nicht. Kazim hätte ordnungsgemäß bei ihm um Gülsens Hand anhalten müssen. Eineinhalb Jahre lang unterbricht er den Kontakt, bis Kazim ankündigt, dass die beiden ihn besuchen wollen. Seine Antwort: „Ich werde meine Tochter nicht in mein Haus lassen.“ Die beiden fahren trotzdem hin, und Gülsens Vater gibt schließlich nach. Es hat allerdings eine Weile gedauert.

Nach zehn Jahren an der Hauptschule wechselt Kazim in die Verwaltung und wird Schulpsychologe im Bezirksamt Schöneberg. 14 Jahre arbeitet er dort; dann wird die Stelle gestrichen, und Kazim muss sich – „nach 23 Jahren im öffentlichen Dienst!“ – nach einer neuen Arbeit umsehen und sich erneut bewerben. Er hat Glück, schlägt seine acht Konkurrenten und bekommt 2003 die freie Stelle beim Psychosozialen Dienst des Jugendamtes Neukölln, die er bis zu seinem Ruhestand 2017 innehat. Jetzt befindet sich Kazim im „Unruhestand“ und hat viel mehr Zeit für seine ehrenamtlichen Projekte, die er seit vielen Jahren neben seiner Arbeit in der Verwaltung betreibt.

Sein Leben widmet Kazim dem Zusammenleben und der besseren Verständigung zwischen Deutschen und Türken (sowie anderen Migranten). Berühmt wird er mit der ersten türkischen Vätergruppe, die er 2007 in Neukölln gründet. Die Idee hatte er aber schon als Hauptschullehrer in den 1980er-Jahren. Bei den Elternversammlungen sah er nur Mütter. Die meisten Lehrer und Erzieher sind Frauen. Wo sind die Väter? Im Teehaus? Interessieren sie sich nicht für die Zukunft ihrer Kinder? Für Kazim ist klar: „Wir müssen die Väter und Männer mit ins Boot holen, egal wie, mit Druck oder Überzeugung, denn sie gehören zur Erziehung dazu.“ Inzwischen gibt es in ganz Berlin sechs türkische bzw. internationale Vätergruppen, eine siebente wird gerade in Kreuzberg gegründet. Kazim gibt den Männern eine Chance aus der Isolation in die Familien zurückzukehren und Verantwortung zu übernehmen. Wer mehr kommuniziert, kann auch besser verstanden werden, ist seine Devise. In den Gruppen, die von Sozialarbeitern aus Kazims Team betreut werden, sprechen die Männer über ihr Frauenbild, Ehe, Sex, Gewalt, Scheidung. Es sind Themen, über die sie noch nie geredet haben.

„90 Prozent der Probleme sind Ergebnis der Sprachlosigkeit. Sie nimmt erschreckend zu. Beobachten Sie doch mal die Leute in der U-Bahn. 70 Prozent von ihnen sind mit ihrem Handy beschäftigt, 10 Prozent lesen Zeitung, die übrigen starren deprimiert auf den Boden.“ Kazim hat ganz andere Erfahrungen. Früher, als es noch keine Handys gab und er täglich mit der U-Bahn bis Thielplatz zur Uni fuhr, kam er des Öfteren mit einem anderen Fahrgast ins Gespräch. Woher kommen Sie, was studieren Sie, seit wann sind Sie hier? waren die Fragen, und Kazim konnte sein frisches Deutsch anwenden. „Wenn wir nicht miteinander reden, brauchen wir uns über die Entfremdung nicht zu wundern. Und fast beschwörend ruft er, dass jeder von uns etwas tun kann, um das Zusammenleben zu verbessern. „Wenn wir viele kleine Brötchen backen, haben wir bald ein großes Brot!“

Kazims zweites wichtiges Projekt ist die „Woche der Sprache und des Lesens“. Sie dient dazu, die Bildung von Kindern und Jugendlichen sowie das Gemeinschaftsgefühl der Menschen verschiedener Herkunft und Religion zu fördern. Sie fand 2006, 2008 und 2010 in Neukölln und 2012 in ganz Berlin statt. Allein im Jahr 2012 gab es etwa 1.300 Veranstaltungen. Die jungen Menschen sollen die „Schönheit der Sprache“ für sich entdecken und ihre Ausdrucksmöglichkeiten weiterentwickeln. Beim gegenseitigen Kennenlernen können Vorurteile abgebaut und Solidarität entwickelt werden. Kazims Traum ist es in ganz Deutschland eine solche Woche zu organisieren. „Wir arbeiten daran.“

Sechs Begriffe der deutschen Sprache will Kazim allerdings nicht mehr akzeptieren, weil sie eher verschleiern als aufklären: 1. INTEGRATION: Viele seiner in Deutschland lebenden türkischen Freunde leben verfassungskonform, identifizieren sich mit dem Land, halten sich an Regeln, aber sie sprechen schlecht oder kein Deutsch. Deshalb wird oft behauptet, sie seien nicht integriert. Aber Türken der dritten Generation, die akzentfrei Deutsch sprechen, hält man unkritisch für integriert. 2. MIGRATIONSHINTERGRUND: Das Wort wird benutzt, um es als Grund für ein Scheitern anzuführen. Ein Beispiel: Ein Antrag für mehr Geld und Personal in Schulen wird damit begründet, dass eine bestimmte hohe Anzahl von Kindern mit Migrationshintergrund in dieser Schule vorhanden ist. 3. BILDUNGSFERN: Kazims Mutter ist Analphabetin. Aber sie hat sieben Kinder großgezogen und viele herausragende Fähigkeiten wie Empathie, Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Solidarität. „Wenn wir einen solchen Menschen als ‚bildungsfern’ abstempeln, kommen wir in eine Schieflage.“ 4. POSTMIGRANTISCHER MIGRATIONSHINTERGRUND: Damit sind die Kinder der dritten und vierten Einwanderungsgeneration gemeint. Sie wollen mit ihren Großeltern nichts mehr zu tun haben. Ihr Theater, ihre Musik und Kunst nennen sie „postmigrantisch“. Dabei sind sie längst Teil unserer Gesellschaft. 5. BIODEUTSCH: Diesen Begriff nutzen gern „Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“, um ihrem deutschen Mitbewohner mitzuteilen, dass sie ihn nicht verstehen können. „Das ist eine Stigmatisierung in die andere Richtung. Warum soll ich meine deutschen Landleute als ‚biodeutsch’ bezeichnen? Wir sitzen doch alle in einem Boot!“ 6. BRENNPUNKT–SCHULE oder –REGION: Dieser Begriff kann missverstanden werden. Viele türkische Mütter, beispielsweise, kennen nur 50 bis 60 deutsche Wörter. Wenn die Lehrerein auf die schwierige Situation einer Schule hinweist und sagt: „Frau Ayse, bedenken Sie, Ihr Kind geht auf eine Brennpunkt-Schule.“ Dann könnte Frau Ayse antworten: „Was brennt? Was ist los?“

Deshalb sagt Kazim, wenn ich mit den Menschen spreche, habe ich immer mein WERKZEUG und meine ERSATZTEILE dabei, fest davon überzeugt, dass man an der Form unserer Kommunikation drehen und schrauben kann, bis sie reibungslos funktioniert. Im Werkzeugkasten befinden sich vier Maxime: 1. Gleiche Augenhöhe, 2. Verständliche Sprache, 3. Menschen dort abholen, wo sie sind, 4. Aufsuchende Arbeit. Ersatzteile sind: Anerkennung, Akzeptanz, Vertrauen, Toleranz.

Kazim erzählt die Geschichte von einer jungen Frau, die in der Türkei geheiratet hat, weil der Mann ihr das Paradies auf Erden in Deutschland versprach. Schon am Flughafen Tegel merkt sie, dass sie wohl eher in der Hölle gelandet ist. Der Mann ist spielsüchtig, gewalttätig, drogenabhängig und schlägt sie. Als sie 29 Jahre alt ist, hat sie drei Kinder und kann nicht mehr zurück in die Türkei. Sie trennt sich, lebt von Hartz IV und spricht 30 Wörter Deutsch. Nie geht sie zu den Elternversammlungen in die Schule. Die Lehrerin vermerkt: bildungsfern. Kazim: „Dabei sollte sie diese Mutter lieber aufsuchen und ihr sagen: Liebe Frau Ayse, wie gut Sie Ihre Kinder erziehen. Sie kommen immer pünktlich, tragen saubere Kleidung und haben immer etwas zu essen dabei. Toll, wie Sie das schaffen. Wollen Sie nicht bei unserem Schulfest dabei sein? Könnten Sie auch etwas zum Essen mitbringen? – Das würde Frau Ayse dann sicher tun. Das Essen würde allen schmecken und man würde es loben. Später würde sich Frau Ayse vielleicht trauen auch die Elternversammlungen zu besuchen. Sie braucht sich bald nicht mehr zu schämen.“

Wir müssen miteinander reden, manchmal auch im Klartext. Dann bewegen wir uns, und wenn es nur einige Millimeter sind. Wir brauchen ein „Wir-Gefühl“. Das ist Kazims einfache Botschaft, die aber so schwer umzusetzen ist. Zur Unterstützung gibt es den Werkzeugkasten mit den Ersatzteilen.


Wer noch mehr über Kazim Erdogan und seine Herzensangelegenheiten erfahren möchte, sollte sich sein Buch vornehmen, das am 11. September 2017 erscheint: Sonja Hartwig. Kazim, wie schaffen wir das? Kazim Erdogan und seine türkische Männergruppe – vom Zusammenleben in Deutschland. DVA

27. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 2. Februar 2017

Heimat

Die Künstlerin Liane Stellmacher hat absagen müssen. Deshalb nutzten wir das Erzählcafé zu einem Gespräch über das Thema Heimat. Zum Einstimmen lass ich ein Interview eines sizilianischen Gastronomen vor, der seit vielen Jahren in Berlin-Hermsdorf ein italienisches Restaurant als Familienbetrieb betreibt. Wir erfuhren, mit welchen Vorstellungen er als junger Mann nach Deutschland kam, wie er sich durchbiss und schließlich den sozialen Aufstieg als Restaurantbesitzer geschafft hat. Er fühlt sich absolut wohl und betrachtet Hermsdorf als seine zweite Heimat.
Das war genug Stoff für eine ausführliche Diskussion. Ist Heimat der Ort, wo man herkommt? Oder der Ort, wo man sich wohlfühlt? Wir waren uns nicht ganz einig und landeten zum Schluss wieder bei Neukölln, wo die meisten gerne leben, wenn nicht der Müll überall herumliegen würde....

26. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 19. Januar 2017

Deborah S. Phillips – Kunst in Kommunikation

Es war nicht ganz einfach, einen festen Termin mit Deborah S. Phillips auszumachen, denn sie hat viele Eisen im Feuer, zum Beispiel für bevorstehende Reisen in die weite Welt, wo Menschen zusammenkommen, um künstlerisch zu arbeiten. Doch sie kann unsere Verabredung einhalten. Deborah berichtet aus ihrem Leben als Künstlerin, das so ganz anders zu verlaufen scheint, als das der meisten anwesenden Zuhörer. Sie hat einige ihrer Werke, Arbeiten auf Papier, mitgebracht, die sie uns zeigt. Nach diesem Termin habe ich noch viele Fragen und wünsche mir, mich intensiver mit ihrer Kunst auseinandersetzen zu können.

Über ihre Kindheit erzählt Deborah nichts, nur, dass sie jüdische Wurzeln hat. In Perugia studiert sie Malerei und geht dann, mit Zwischenstationen, nach Braunschweig, wo sie 1988 im Künstlerkollektiv „Laboratorium für Kunstexperimente“ mitwirkt. Dort hat sie Platz zu malen, hilft sie ihren Kollegen bei der Produktion experimenteller Filme und arbeitet sich in verschiedene Techniken ein, u.a. in die Lithographie. Die Zusammenarbeit im Kollektiv gibt Deborah wichtige Impulse. Wichtig ist ihr der Umgang mit handfestem Werkzeug, wie beispielweise einer analogen Bolex oder Crass-Kamera. In der Kombination mit Geräuschen, Gesprochenem und Musik können (und sollen) ihre Filme den Betrachter in eine bestimmte Atmosphäre versetzen.

In Deborahs künstlerischer Arbeit fließen Licht, Farben, Formen, Klänge, Texte, Gegenstände, Bilder zusammen. Film ist ein geeignetes Medium, durch Überlagerungen verschiedener Bilder neuen Ausdruck zu schaffen und diesen in Bewegung zu setzen. Deborah malt, stellt Lithografien (im Steindruck) her und macht Collagen aus Teilen ihrer Produktion. Ihre Künstlerbücher sind Zeugnisse der intensiven Beschäftigung mit einzelnen Themen. So widmet sie den drei „Lichtfarben“ Rot, Blau und Grün viele Forschungsjahre. Ein zu jedem Farb-Thema produziertes Buch enthält Lithographien, Monotypen, mit Bleisatz gedruckten Text, Stempeldruck und kleine Collagen.

„Ich bin ab und zu international unterwegs und habe viele Kontakte in allen Teilen der Welt“, sagt Deborah und erzählt von einem längeren Aufenthalt in Indien, wo sie 2002 in Gujarat mit befreundeten Künstlern in einem Projekt arbeiten konnte, aber auch in eine schwierige politische Situation geriet. Dass sie gern „etwas mit Kollegen vor Ort“ machen möchte, gehört zu ihrer Lebensphilosophie. Sie sucht den direkten, intensiven Austausch und die unmittelbare Konfrontation. Sie reist, wie es kommt, mit Einladungen von staatlichen oder privaten Institutionen zu Seminaren, Ausstellungen, Filmfestivals oder Arbeitsaufenthalten. Manchmal erhält sie ein befristetes Arbeitsstipendium. Oder die Künstlerinnen und Künstler unterstützen sich gegenseitig. So spannend und vielfältig Deborahs Leben auch erscheint, „es ist auch sehr anstrengend“, und viel Geld verdient man nicht. Viele internationale Kunstinstitutionen sind nicht so ausgestattet, dass sie den Künstlern zusätzlich zu den Reisekosten und den Spesen ein Honorar bezahlen können. Deborah erinnert sich an eine Einladung nach Rumänien, bei der sie gebeten wurde, die Reisekosten vorzustrecken. Das war ihr zu jenem Zeitpunkt nicht möglich, so dass sie diese Einladung nicht annehmen konnte.

Seit ca. 30 Jahren arbeitet Deborah als freischaffende bildende Künstlerin, und sie wird noch immer in viele Orte der Welt eingeladen. Die Kommunikation mit den internationalen Freunden, Kollegen und Institutionen kostet viel Zeit. „Manchmal führe ich drei Tage hintereinander nur Telefonate und schreibe Bewerbungsbriefe. Ich schlafe dann sehr wenig.“ Es ist nicht immer leicht, als nicht mehr ganz junge Künstlerin eine Einladung zu Ausstellungen zu erhalten. Die jungen Leute drängen nach, und die Galerien wollen etwas „Zeitgemäßes“. Man muss bedenken, dass allein in Berlin rund 80.000 Kunstschaffende leben und arbeiten wollen.

In Deborahs Leben gibt es keine „Freizeit“, keinen „Urlaub“, keine „Konsumgüter“, stellt sie fest, ohne das zu beklagen. Deborah ist flexibel und reagiert spontan auf Angebote. Aber es ist eine erzwungene Flexibilität. Manchmal wünscht sie sich eine feste Anstellung, eine Professur zum Beispiel. Gelehrt hat sie viel in zahllosen Seminaren, aber nie in einer finanziell gesicherten Situation.

Deborah lebt seit 2001 in Neukölln. Die erste Wohnung liegt in der Nähe des Hermannplatzes, der für sie bis heute in seiner großstädtischen Vielfalt das „Zentrum des Universums“ darstellt. Einer ihrer Filme mit dem Titel „Herman(n)“ nimmt Motive des Platzes auf und erinnert auch an Deborahs Mutter, die Herman hieß. Als Deborah diese Wohnung aufgeben muss, hilft ihr die Neuköllner Kulturamtsleiterin Dr. Dorothea Kolland weiter (s. deren Geschichte in dieser Broschüre). Sie gibt ihr den Tipp, den Eigentümer des Leuchtturms anzurufen. Dieser hat sein Haus in der Emser Straße gerade renoviert und beschlossen, die Wohnungen an Kunstschaffende zu vermieten (s. Bernhard Thiess in dieser Broschüre). Deborah hat Glück und kann ihn überzeugen.

Deborah hat sich viele Jahre im Kunstverein Neukölln engagiert, als dieser noch seinen Sitz in der Thomasstraße hatte. Bevor er nach einer Räumungsklage ausziehen muss, organisiert sie die Ausstellung „Weiterreichung“ mit druckgrafischen Arbeiten zahlreicher Kunstschaffender. Seitdem hat der Verein seinen Sitz in der etwas kleineren Galerie in der Mainzer Straße, wo er gerade sein 10-jähriges Bestehen feierte. Auch in der Bewohner*innenjury des Quartiersmanagements Körnerpark war Deborah aktiv. Häufig beteiligt sie sich mit Installationen oder Bildern beim Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“ (s. Dr. Martin Steffens in dieser Broschüre), und sie kooperiert auch mit dem Weddinger Künstlerkollektiv „LaborBerlin“. Die meiste Zeit verbringt Deborah aber im Kreuzberger Kunstquartier Bethanien, um ihre Lithografien herzustellen. Wenn sie produzieren kann, geht es ihr gut, und sie ist froh, dass sie gerade nicht verreisen muss.

Ein Blick auf Deborahs Webseite lohnt sich: https://deborahsp.wordpress.com