Mittwoch, 29. November 2017

42. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 23. November 2017


Paul Schwingenschlögl – Musiker für den Kiez und in der Welt

Wenn der Musiker Paul Schwingenschlögl nicht gerade auf Tournee ist, trifft man ihn häufig im Körnerkiez, denn er sorgt für die Musik im Körnerpark. Das Neuköllner Kulturamt hat vor Jahren die Konzertreihen „Sommer im Park“ und „Salonmusik“ in seine Hände gelegt. Im Hauptberuf ist er Musiker und Komponist, hat diverse eigene Bands im Bereich Jazz und Weltmusik, spielt Trompete, Flügelhorn und Klavier in unterschiedlichsten Ensembles. Seine Trompete begleitet auch seine Geschichte, die er uns im Leuchtturm erzählt. Paul, dessen Dialekt seine österreichische Herkunft verrät, berichtet eher zurückhaltend aus seinem Leben. Aber wenn er spielt, ist er leidenschaftlich. Deshalb muss man ihn unbedingt musizierend erleben. Am darauffolgenden Sonntag gibt Paul Schwingenschlögl mit dem Pianisten Stefan Fischer als „Duo Cinema“ ein beeindruckendes Konzert, bei dem wir (einige Besucher*innen des Erzählcafés) ihn als charismatischen Musiker kennenlernen. Zur Einstimmung in seine Geschichte spielt Paul eine schmeichelnde Melodie auf der Trompete, die wir zu kennen glauben.

„Das war die großartige Komposition von Nino Rota für Fellinis Film ‚La Strada’. Der Film kam 1954 ins Kino, vier Jahre vor meiner Geburt in Wien“, erklärt Paul. Als Paul drei Jahre alt ist, zieht die Familie von Wien in die Wachau, eine bedeutende Kulturlandschaft im Tal der Donau zwischen Melk und Krems. Im Jahr 2000 wurde diese Landschaft in die Liste der UNESCO als Weltkultur- und -naturerbe aufgenommen „Nicht zu Unrecht, denn die Wachau ist eines der bezauberndsten Flusstäler Europas. An den Hängen wachsen hervorragende Weine. Die kann man vor Ort genießen bei einem der vielen Heurigen, in denen die Weinbauern ihre Weine ausschenken und zu günstigen Preisen einen kleinen Imbiss anbieten. Das ist etwas, was ich bis heute in Berlin vermisse. Mein erster Weg, wenn ich wieder mal in der Wachau bin, führt zum Heurigen“, schwärmt Paul. Er wächst in der kleinen Stadt Mautern auf. Sie liegt an der Donau gegenüber der Bezirksstadt Krems, wo sein Vater als Bankangestellter arbeitet wie auch schon in Wien, doch nun ist er leitender Angestellter in der kleinen Filiale in Krems.

Paul besucht in Mautern die Volksschule. Nach eher widerwilligen Versuchen auf der Blockflöte darf er sich mit acht Jahren endlich ans Klavier setzen und geht regelmäßig zum Klavierunterricht. Da er drei jüngere Schwestern hat und gerne mit Jungen zusammen ist, findet er Gefallen am Plan seiner Eltern, ihn ins Sängerknabenkonvikt in Stift Zwettl zu schicken, das etwa 50 Kilometer von Mautern entfernt ist. Aber der Alltag im Stift mit den strengen Klostersitten ist alles andere als rosig. Trotzdem hält er vier Jahre durch. Der Musiklehrer bestätigt ihm zwar ein gutes Hörvermögen, als Sänger tauge er aber nichts. Einmal die Woche gibt es auch Trompeten- und Klavierunterricht. Nach der  Zeit im Konvikt kommt er nach Mautern zurück.

In der Nachbarstadt Krems besucht er das Gymnasium und findet schnell neue Freunde. Mit ihnen gründet er seine erste Rockband, in der er Schlagzeug spielt, anfangs auf leeren Waschpulvertrommeln. Obwohl sein Vater nichts für Rockmusik übrig hat, kauft er ihm ein Jahr später ein richtiges Schlagzeug. Paul freundet sich mit dem zwei Jahre älteren Ronnie Iraschek an, ebenfalls Schlagzeuger, der später als Ronnie Rocket Urini in Österreich als Sänger und Songwriter Karriere machen wird. Mit 16 entdeckt er den Jazz und geht so oft wie möglich zu Konzerten in den Kremser Jazzclub. Im Gegensatz zum Musikunterricht in der Schule, bei dem auf die Musikgeschichte Wert gelegt wird, erlebt er im Jazzclub die Kreativität der Musiker beim Zusammenspiel, ihre Hingabe und ihr technisches Können. Schon jetzt pendelt er zwischen drei Musikrichtungen. Am Klavier spielt er klassische Musik von Mozart, Beethoven, Mussorgski, Bach und Chopin, bei der Band "Cinnamon Broughhams Revival" spielt er am Schlagzeug Rockklassiker und in der Big Band des Jazzclubs Trompete. 

Nach dem Abitur 1976 verbringt er im Rahmen des Schüleraustauschprogramms AFS (American Field Service) ein Jahr in den USA. In Bethesda, Maryland, besucht er die Walt Whitman High School. Anders als in Österreich werden die Schüler dort nicht im Klassenverband unterrichtet, sondern sie bewegen sich von einem Kurs zum nächsten. Angesichts der großen Anzahl verschiedener Kurse kann man sich schon früh nach seinen Neigungen ausbilden und spezialisieren. Das Schüleraustauschprogramm AFS hat gewisse Bedingungen: jeder AFS-Schüler soll je einen Kurs in Englisch, Geschichte und Sport belegen. Für Paul sind daneben natürlich die Musikkurse am interessantesten. Dazu gehört auch das Mitwirken in einer Big Band. Er steigt dort mit seiner Trompete ein, obwohl eigentlich das Klavier sein Instrument ist. Aber im Haus seiner Gastfamilie, einem weltoffenen Diplomatenhaushalt, gibt es leider kein Klavier zum Üben. In der Big Band darf er zwar hin und wieder das Piano spielen, meistens jedoch wird er mit seiner Trompete eingesetzt und  macht durch das tägliche Üben große Fortschritte auf dem Instrument „Das Spielen in der Big Band war für mich ein musikalischer Durchbruch“, sagt Paul.  Er besucht die Clubs und Konzertsäle, wo er ausgezeichnete Jazzmusiker erlebt wie Dizzy Gillespie, Stan Kenton, Buddy Rich, Joe Zawinul und Stanley Clarke.

Nach diesem einschneidendem Jahr in den USA kehrt Paul nach Österreich zurück und lässt sich in Wien nieder. Wie nun weiter? Welche Berufsausbildung ist die beste für mich? Musik oder Sprachen? Bin ich wirklich so begabt, dass ich eines Tages vom Musikmachen leben kann? Oder gehe ich auf Nummer sicher und lasse mich zum Übersetzer ausbilden? Paul kann außer Englisch auch gut Französisch. Journalismus wäre ebenfalls eine Option. In Wien gibt es aber nicht für alle angedachten Richtungen gute Entwicklungsmöglichkeiten. Das einzige Jazzinstitut in dieser Zeit (Ende der 1970er-Jahre) ist ihm zu verschult. Beiträge für österreichische Boulevardzeitungen zu verfassen, erscheint ihm wenig attraktiv, und bei den wenigen seriösen Zeitungen sind die Jobs rar und begehrt. Hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Berufsoptionen entscheidet er sich für das Dolmetscher- und Übersetzerstudium in den Sprachen Englisch und Französisch.

Die Musik lässt ihn aber nicht los. Neben seinem Sprachstudium nimmt er Privatunterricht bei Franz Koglmann, einem anerkannten Trompeter und Komponisten, und taucht weiter in die Musikszene ein, indem er an Workshops teilnimmt, die erfahrene Musiker anbieten (wie Mike Mantler, Bill Dixon, George Russell und Gil Evans). Mit dem Bassklarinettisten Hans Steiner und dem Posaunisten Jacques Nobili gründet er das  Bläserensemble TRANS. Jeder der drei schreibt Kompositionen, die sich zwischen Jazz und europäischer Moderne bewegen.

Noch während des Studiums sucht sich Paul Arbeit als Übersetzer. Allerdings verdient er bei Auftritten mit einer Tanzmusik-Band wesentlich mehr Geld als mit dem Übersetzen. Er entwickelt sich musikalisch rasch weiter und spielt in den verschiedensten Gruppen und Formationen. Er tritt auf in Jazz-Clubs, spielt Punk-Rock mit der Band seines Kremser Freundes Ronnie Urini, aber auch Tanzmusik. Die klassische Musik lässt er beiseite. So, wie sie landläufig dargeboten wird, findet er sie langweilig. Paul meint zu der Zeit, die klassischen Musiker seien wie Beamte, die zu vorgegebenen Dienstzeiten exakt das spielen, was auf dem Notenblatt steht und am Monatsende ein gutes Gehalt kassieren. Das möge und könne er nicht. „Heute sehe ich das ein wenig anders“, sagt Paul schmunzelnd und ergänzt: „Die jungen klassischen Musiker interessieren sich durchaus für Jazz und machen oft beides."

Nachdem er das Übersetzerstudium abgeschlossen hat, soll er zum Militärdienst eingezogen werden. Paul will aber den Zivildienst absolvieren. Dafür muss er sich einer Kommission stellen, die ihn befragt und anschließend über seinen Antrag entscheidet. Er fällt durch, weil er seine Wehrdienstverweigerung mit politischen Argumenten begründet hat. Bei der Wiederholung argumentiert er mit der Bibel. Das kommt in diesem erzkatholischen Land besser an. Man stellt ihm eine Fangfrage: Die Trompete ist doch ein kriegerisches Instrument, nicht wahr? Schon die Bibel erwähnt die Trompeten von Jericho... Verzeihung, sagt Paul, Sie meinen sicher die Posaunen von Jericho! Auch andere Bibelstellen zitiert er ohne Probleme und ist damit für den Zivildienst, der acht Monate dauert, qualifiziert.

Von den vielen Konzerten, die Paul in dieser Zeit gibt, bleibt ihm eines unvergessen: der Auftritt mit der Gil Evans Band beim Jazzfest Wien 1986 an der Seite von Jazzgrößen wie Lew Soloff, George Adams und John Surman. Paul wird auch in Berlin (West) engagiert, wo er wieder neue Musiker kennenlernt – und sich verliebt. Er muss aber nach Wien zurück, um seinen Zivildienst zu leisten. Wenig später kommt seine Berliner Freundin nach Wien und wohnt bei ihm. Nach Beendigung des Zivildienstes verlangt sie von ihm eine Entscheidung: künftig Wien oder Berlin. Paul sagt: Ich probier’ es mal für ein paar Monate mit Berlin.

Ende 1987 zieht er nach West-Berlin und bekommt einiges mit von der legendären West-Berliner Zeit, in der dank großzügiger Subventionen die Kultur zum Blühen gebracht wurde. „Für Musiker gab es viele Möglichkeiten aufzutreten, mehr als heute“, sagt Paul. Durch Vermittlung seines Wiener Trompetenlehrers Franz Koglmann hat Paul gute Verbindungen zu Musikern in der DDR, die er oft besucht und mit denen er  gemeinsam auftritt. Darunter sind Johannes Bauer, Ernst-Ludwig Petrowsky, Helmut Forsthoff, Joe Sachse, Klaus Koch, Uli Gumpert, Manfred Hering, Steffen Hübner, Heiner Reinhardt. Anders als im Westen haben Jazzmusiker in der DDR kaum Probleme, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Mieten sind billig und auch vieles andere, das man zum Leben braucht. Da reichen schon einige wenige Konzerte im Monat, um gut leben zu können und keinen Nebenjob ausüben zu müssen wie viele der Musikerkollegen im Westen. Schwierig ist nur, eine Ausreisegenehmigung zu bekommen. Einige wenige schaffen es und treten bei Festivals im Westen auf. Sie werden von Veranstaltern gerne gebucht, da ihre Musik, die wegen der Abschottung der DDR weitgehend unbekannt ist, ganz anders klingt: eigenständiger und mit viel Raum zur freien Improvisation.

Im November 1989 öffnet sich die Mauer, die DDR gibt es noch fast ein Jahr. Der Konzertveranstalter Jimi Metag organisiert im Januar 1990 für Paul eine zweiwöchige Tournee durch die DDR mit dem Wiener Gitarristen und Komponisten Alfred Polansky, mit dem er auch in Österreich schon öfters konzertierte. Sie treten in vielen Städten auf wie Leipzig, Dresden, Cottbus, Rostock, Hoyerswerda. Für Paul ist es die bisher am besten honorierte Tournee, allerdings in Ostmark. Mit dem Geld kann er nicht viel anfangen, da der Kurs täglich schlechter wird. Bis zur Währungsunion kauft er sich in Ost-Berlin Schallplatten und Bücher und kann dort gut essen gehen.

In Berlin kommt Paul auch mit Musikern aus anderen Kontinenten zusammen. Es gibt eine große afrikanische Musiker-Community, und Paul tritt mit Musikern aus dem Senegal, aus Ghana, der Elfenbeinküste, Zaire und Südafrika auf,  auch mit Musikern aus Südamerika und aus Indienspielt er. Der Bassist Ramani Krishna macht ihn mit einer indischen Bluesband bekannt, die ihn 2013 zu einem Festival nach Südindien einlädt. Mit der ägyptischen Band "Salamat" tritt er bei Festivals in ganz Europa auf und nimmt sogar eine CD in einem Studio in Kairo auf. Mit seiner eigenen Band „African Chase Experience“ gastiert er bei Jazzfestivals in Chemnitz, Glauchau, Ilmenau, Rostock und Leipzig. „Es war eine spannende Zeit, und die Kontakte pflege ich bis heute“, sagt Paul. Die Erfahrungen mit Musikern aus anderen Kulturkreisen bereichern sein Musikverständnis und beeinflussen seine Kompositionen. „Beim Jazz sah ich einen gewissen Stillstand. Es wurde vieles, das die alten Meister geschaffen hatten, unreflektiert nachgespielt. Und auch in der freien Improvisation hatten Klischees Einzug gehalten. Deshalb empfand ich die Begegnungen mit den afrikanischen Musikern als anregende Auffrischung.“

Paul wohnt seit 1987 in Schöneberg. 1996 trennt er sich von seiner Freundin und sucht eine eigene Wohnung. Er findet sie in Neukölln. Seine Freunde erklären ihn für verrückt, in den damals verrufenen Bezirk zu ziehen. Der Grund der Trennung ist eine neue Liebe in Paris. Das passt, denn Paris und die dortige Musikerszene haben ihn schon immer fasziniert. So verbringt er immer wieder einige Wochen in der französischen Hauptstadt. Trotz einiger Auftritte beim französischen Rundfunk und bei Festivals gelingt es ihm nicht, dort Fuß zu fassen. Es leben viele gute Musiker in Paris, die alle um Engagements kämpfen. Er lernt den berühmten Saxofonisten David Murray kennen. Der spielt bei Festivals weltweit und verdient damit  gutes Geld. Doch in Paris hat sogar ein David Murray kaum Auftritte. "Eine wunderschöne Stadt, aber nur für Musiker geeignet, die anderswo, meistens bei weltweiten Tourneen, ihr Geld verdienen", so Pauls Fazit. Da ist das Leben in Berlin schon einfacher, außerdem hat Paul hier mittlerweile ein gutes Netzwerk aus Veranstaltern und Musikerkollegen.

Im Jahr 1996 erhält er ein Kompositionsstipendium für das Projekt "African Chase Experience". Damit kann er seinen Traum verwirklichen, einige der besten Musiker der (ehemaligen) DDR, aus Berlin sowie afrikanische Musiker aus dem Senegal und Ghana in einer einzigen Band zu vereinen. Nach der Präsentation seines Werks wird die Band zu bedeutenden Festivals eingeladen. Sie bringt eine CD heraus, aufgenommen im legendären Hansa-Studio – ein weiterer Grund dafür, dass die Aufenthalte in Paris zunehmend seltener und kürzer werden .

In dieser Zeit bekommt er ein Engagement am Landestheater Neustrelitz für das Musical "Black Rider". Mit der Off-Theatergruppe ZATA war er an verschiedenen Produktionen beteiligt und 1991 sogar zum Theaterfestival in Taschkent in Usbekistan eingeladen. Mit dem Theater hatte er sich seit den Neunzigern beschäftigt.

Nach seinem Umzug nach  Neukölln sucht er nach lokalen Fördermöglichkeiten für Musiker. Er bewirbt sich für die dezentrale Kulturförderung und reicht ein Projekt mit Musikern ein, die ihren Wohnsitz in Neukölln haben, aber aus anderen europäischen und außereuropäischen Ländern stammen. Er bekommt den Zuschlag und erarbeitet mit ausgewählten Musikern ein erfolgreiches Konzertprogramm, das an zwei Tagen in der Werkstatt der Kulturen präsentiert wird. „Doch, wie es mit solchen Projekten oft geschieht, fand es nur einmal statt. Dann wurde es nicht mehr gefördert“, bedauert Paul. Trotzdem hat es sein Gutes, denn Paul lernt die engagierte Kunstamtsleiterin Dr. Dorothea Kolland kennen. Mit ihrer Hilfe kann er das internationale Festival "Transglobal Counterblast" mit Musikern aus vier Kontinenten verwirklichen, das an vier Tagen im Kulturhaus Treptow stattfindet und ein Jahr später auf einer großen Open-Air-Bühne in Potsdam.

Außerdem bittet ihn Frau Kolland um Unterstützung bei der Durchführung der seit vielen Jahren eingeführten Konzertreihe „Sommer im Park“ (gemeint ist der Körnerpark). Bald wird er in die Programmplanung einbezogen und hat die Verbindungen zu den Musikern herzustellen. Dann entsteht die Idee, unter dem Titel „Salonmusik“ ein oder zweimal im Monat Konzerte auch im Herbst und Winter anzubieten, die im Café in der ehemaligen Orangerie stattfinden sollen. Unter der neuen Leiterin, Dr. Katharina Bieler, die seit September 2013 im Amt ist, findet diese zweite Konzertreihe durchgängig jeden Sonntag in der kalten Jahreszeit statt, von Anfang Oktober bis Ostern. Paul organisiert seitdem die beiden Veranstaltungsreihen in Abstimmung mit Bettina Busse vom Fachbereich Kultur.
Auch wenn er immer wieder in Berlin und Neukölln zu hören ist, nimmt seine internationale Konzerttätigkeit zunehmend mehr Raum ein. Aus der Begegnung mit der New Yorker Minimal Music Komponistin Catherine Christer Hennix im Jahr 2012 entsteht eine intensive Zusammenarbeit. Mit ihrem Ensemble „CC Hennix and the Chora(s)san Time-Court Mirage“ konzertiert er bei Musikfestivals in New York, Amsterdam und Berlin. Mit dem New Yorker Trompeter Amir ElSaffar entwickelt sich eine enge Freundschaft. Dieser engagiert ihn für die Uraufführung seiner Auftragskomposition für das Jazzfest Berlin, die westliche und östliche Musik vereint. „Das Konzert im November 2017 war Wochen vorher ausverkauft, und am Ende gab es tosenden Applaus“, erzählt Paul.
„Umso schwieriger ist es, Auftritte in meiner alten Heimat Österreich zu bekommen.“ Alle ein bis zwei Jahre gelingt es aber doch. Dazu zählen Konzerte mit Trio Cinema: Duo Cinema, erweitert um seinen alten und engen Freund, den Sänger Ronnie Rocket Urini – unter anderem im legendären Wiener Jazzclub "Porgy & Bess"; ein Auftritt mit CC Hennix' Ensemble beim Kontraste-Festival 2013 in Krems, und die neuerliche Zusammenarbeit mit Alfred Polansky bei der Produktion und Präsentation seines Albums ”The Malcolm Lowry Project - Songs Between Heaven and Hell" im Herbst 2017.
Paul lässt sich nicht auf eine Musikrichtung festlegen. Der Jazz hat ihn zwar beeinflusst und  fasziniert, weil er erlaubt, sich stilistisch zu öffnen und andere Elemente einzubinden, aber er sieht sich nicht als Jazzmusiker. Er liebt es, die Genregrenzen zu überschreiten, indem er Soul, Funk, Blues, Psychedelic Rock, Weltmusik, zeitgenössische Musik und freie Improvisation gleichberechtigt spielt und darbietet. Formale Festlegungen sind für ihn nur im konkreten Zusammenhang eines Projekts oder Ensembles sinnvoll. Diese Haltung spiegelt sich in der Vielfalt seiner Alben, die musikalisch einen weiten Bogen spannen – von festgelegten Kompositionen für seine größeren Ensembles „Counterblast“ und „African Chase Experience“ – bis zu völlig freier Improvisation und Klangexperimenten mit der Band „Trialogues“ mit dem Kontrabassisten Udo Betz und dem Gitarristen Jan Weber. Und man erfährt es auch durch einen Blick in den Programmkalender auf seiner Website (www. paul-schwingenschloegl.de), in dem all seine Konzerte aufgeführt sind. Seine Auftritte sind immer gut für Neues und Überraschungen.

Das Interesse am Journalismus hat Paul übrigens nicht verloren. Seit sieben Jahren schreibt er in der Neuköllner Monatszeitschrift "Kiez und Kneipe" Artikel über Musik, Theater, Sport, neue Kneipen und Cafés – ein weiteres Feld für Pauls vielfältige Beiträge zur Kulturentwicklung Neuköllns.






41. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 9. November 2017

Lydia Reining - In Gottes Hand

Lydia Reining spricht aus eigener Erfahrung, wenn es um „Kinderarbeit“ geht. Sie ist Musikerin und wird ihre Biografische Erzählung musikalisch begleiten. Lydia erscheint eine Stunde früher im Leuchtturm, um sich einzusingen. Während ich mit den Vorbereitungen beschäftigt bin, vernehme ich ihre warme Stimme. Wie geschaffen für diese Lieder, denke ich, als sie „Sind so kleine Hände“  anstimmt.

Lydia Reining stammt aus Nordrhein-Westfalen. 1957 wird sie in Gütersloh geboren, wo sie mit vier Geschwistern aufwächst. Der Vater betreibt als Werkzeugmacher eine kleine Fabrik, während die Mutter zunächst im Abstand von zwei Jahren ihre fünf Kinder zur Welt bringt. Später arbeitet sie trotz des großen Haushalts im Betrieb mit. Lydia ist nach ihrem Bruder die Zweitälteste und hat drei jüngere Schwestern. Der Vater behandelt die Kinder streng. Er hat er seine Prinzipien, die nicht hinterfragt werden dürfen, und von allen Familienmitgliedern, aber auch von allen anderen Menschen, akzeptiert werden müssen. „Wenn er etwas wollte, mussten wir uns sputen. Wir hatten uns darauf eingerichtet und gaben meistens keine Widerworte“, sagt Lydia. Die Mutter ist das Gegenteil, liebevoll, den Kindern zugewandt und will ihnen alles geben, aber sie selbst ist überlastet.

Die Fabrik besteht aus einer großen Halle mit verschiedenen Werkbänken und drei Stanzmaschinen. Dort stellt der Vater Siebeinsätze für Volkswagen-Auspuffe und andere Stanzarbeiten her. Er macht alles allein. Arbeiter einzustellen kann er sich nicht leisten. So ist er froh, dass er seinen Sohn bald anlernen kann. Nach dem Schulunterricht soll er mitarbeiten. Ein Jahr später soll auch die neunjährige Lydia im Betrieb mithelfen. Zunächst muss sie alle zwei Wochen die Halle ausfegen. Dann zeigt ihr der Vater, wie eine der Stanz-Maschinen zu bedienen ist und setzt sie täglich nach der Schule dort ein. Das ist harte, anstrengende Arbeit. An der Maschine sind mehrere Arbeitsschritte nötig, die schnell hintereinander durchgeführt werden müssen. Oftmals sind Lydias Finger aufgeschürft von dem scharfkantigen Material. Je flotter sie arbeitet, desto schneller ist sie an der Maschine fertig. Aber dann müssen die Siebeinsätze in Bananenkartons gepackt und zum VW-Bulli geschleppt werden. „Das ging auf die Wirbelsäule und Gelenke und macht mir bis heute Probleme. Ich war ja noch nicht ausgewachsen“, erklärt Lydia.

Seit sie in der Fabrik arbeitet, hat Lydia folgenden Tagesablauf: Schulbesuch am Vormittag, dann ein schnelles Mittagessen, Umziehen, das heißt, die Schulkleidung mit der Arbeits-Jeans tauschen, in die Fabrik fahren und vier Stunden arbeiten. Wieder zu Hause ist an Entspannung nicht zu denken. Lydia muss helfen, Vater, Bruder und Geschwister mit dem Abendessen zu versorgen und danach abwaschen. Dann müssen Lieferscheine und Rechnungen ausgestellt werden. Lydia lernt sehr früh mit der Schreibmaschine zu schreiben und führt alle diese Arbeiten aus. Oft muss sie auch mit anfassen, um Fenster zu putzen, die Wäsche aufzuhängen oder sich um die kleinen Geschwister zu kümmern. Zu ihren Schularbeiten kommt sie selten. Am nächsten Tag pinnt sie die Aufgaben auf dem Schulklo von einer Klassenkameradin ab. Noch heute erscheint es ihr als ein Wunder, dass sie das Klassenziel immer erreichte und versetzt wurde. Trotzdem stellt der Vater auch Ansprüche an ihre schulischen Leistungen. Hat Lydia die Note Drei bekommen, sagt er: Warum ist es keine Zwei. Bei einer Eins minus bemängelt er, dass es keine Eins ist. Auch in den Ferien müssen die Kinder in der Fabrik arbeiten, den ganzen Tag lang. Für einen Urlaub mit der Familie gibt es kein Geld. Nur einmal verbringt Lydia mit ihren Eltern und dem Bruder zwei Wochen in Österreich. Zu dieser Zeit ist sie schon 14 Jahre alt.

Lydia beschreibt ihren Vater als Eigenbrötler, der oft unzufrieden ist. Wenn sie als Kinder gerade ein bestimmtes Programm im Fernsehen anschauen und der Vater etwas anderes sehen will, wird einfach umgeschaltet. „Für den Rest der Familie gab es kein Mitspracherecht.“ Das oftmals laute und aggressive Verhalten des Vaters macht den Kindern Angst. Indem er Lydia mit seinen Sorgen in der Firma konfrontiert, überfordert er das Mädchen. „Er hat seine Probleme bei mir abgeladen“, sagt Lydia. „Auch meine Mutter hat mir ihre Sorgen anvertraut, aber sie war wie eine Freundin für mich. Ich war damals sehr belastet und hatte selbst keine Vertrauensperson, der ich mich mitteilen konnte. Es gab wenig Zeit für tiefere Freundschaften.“

Nachts hat sie Albträume. Lydia ist inzwischen 11 Jahre alt und verzweifelt: Kann das Leben mit diesem Tyrann nicht einmal ein Ende haben? Sie fürchtet um ihre Mutter und die Geschwister. In der Schule versucht Lydia ihre Nöte zu überspielen. Wenn der Lehrer fragt, warum sie keine Schularbeiten gemacht hat, möchte sie am liebsten sagen: Ich hatte keine Zeit, ich muss doch arbeiten gehen! Aber sie weiß inzwischen, dass das Jugendamt davon nichts erfahren darf, andernfalls würde die Familie leiden müssen. Auch Verwandte und Nachbarn schauen weg und schweigen. „Vielleicht konnten sie sich gar nicht vorstellen, wie schlimm es für mich war“, sagt Lydia. Als sie ein Jahr später mitbekommt, dass manche Menschen mit Hilfe von Tabletten ihrem Leben ein Ende setzen, sieht sie darin für sich eine Lösung. Auf dem Nachttisch des Vaters liegt Aspirin. Sie nimmt fünf Tabletten ein, aber nichts passiert.

Wenn Lydia ab und zu ein paar Stunden frei hat, trifft sie sich mit einer Freundin. Sie trinken zusammen ihre erste Flasche Bier. Lydia merkt, dass der Alkohol sie beruhigt. Auch die ersten Joints haben eine entspannende Wirkung. Hier unterbricht Lydia ihren Bericht und singt „Sind so kleine Hände“. „Dieses Lied hat mich fast mein ganzes Leben begleitet, seit es Bettina Wegner veröffentlicht hat“, sagt Lydia und erzählt weiter, dass ab nun Alkohol und Drogen eine immer wichtigere Rolle in ihrem Leben spielen und sich „Traumtänzer-Gedanken“ einschleichen. Mit 15 nimmt sie auch härtere Stoffe zu sich.

Da die beiden älteren Kinder bald erwachsen sind, plant der Vater seinen Familienbetrieb zu professionalisieren. Lydias älterer Bruder hat eine Ausbildung als Werkzeugmacher zu absolvieren, und Lydia soll die Handelsschule besuchen. Die beiden fügen sich, obwohl der Bruder auch eigene Wünsche hat.

1974, Lydia ist 17 Jahre alt, trennt sich die Mutter vom Vater. Der Vater zieht aus. Zu Hause kehrt etwas Ruhe ein. Lydia hat sich immer gewünscht, mit der Mutter und den Geschwistern friedlich zusammenzuleben. Jetzt ist es endlich so weit. Die Handelsschule macht sie weiter, obwohl sie zu dieser Ausbildung keine Lust hat. Doch es ist eine private Schule, für die der Vater viel Geld zahlt. Diese jetzt abzubrechen bringt Lydia nicht fertig. Danach nimmt sie eine Arbeit in einem Büro im Stahlhandel an. Sie hat viel mit Zahlen zu tun. Das Geschäft mit Stahl gleicht etwa dem im Börsenhandel: ständig ändern sich die Preise. Man bietet Lydia eine Ausbildung zur Stahlfachverkäuferin an. Das obligatorische dritte Lehrjahr würde man ihr wegen ihres Abschlusses an der Handelsschule erlassen. Lydia lehnt ab: nicht noch mehr Metall. Es reicht ihr schon, wenn sie nur kurz das Lager betreten muss, um bestimmte Ordner zur Bearbeitung zu holen. Der Stahlgeruch erinnert sie an die furchtbare Arbeit an der väterlichen Stanzmaschine, zu der sie nie wieder zurückkehren will.

Trotz der freundlichen Atmosphäre mit der Mutter und den Geschwistern zu Hause, möchte Lydia auf eigenen Beinen stehen und ausziehen. Mit einer Freundin gründet sie eine Wohngemeinschaft und hat nun endlich ein eigenes Zimmer. Die Mutter unterstützt sie und schenkt ihr schöne, praktische Dinge für den neuen Haushalt. „Jetzt kann das Leben doch richtig losgehen, dachte ich damals“, sagt Lydia. „Doch es kam anders.“

Es vergehen drei Monate, als sie eines Morgens an ihrem Arbeitsplatz aufgefordert wird ins Besucherzimmer zu kommen. Jemand von der Firma Miele, bei der die Mutter seit einiger Zeit arbeitet, möchte sie sprechen. Lydia denkt an ihr Fahrrad, welches ein Arbeitskollege der Mutter für sie reparieren und zurückbringen wollte. Kaum hat Lydia den Besucher-Raum betreten, spürt sie, dass es sich um etwas anderes handeln müsse. Dort sitzt der Personalchef von Miele und bittet sie Platz zu nehmen. Er sagt, dass ihre Mutter bei der Arbeit verstorben ist und fordert sie auf, mit ins Krankenhaus zu kommen und den Leichnam im Sektionssaal zu identifizieren. Dort bietet sich ihr ein schrecklicher Anblick. Da liegt die Mutter halb angezogen auf einer Bahre. Eine Binde ist um das Kinn gewickelt. Seit ungefähr einer Stunde ist sie tot. Ja, das ist meine Mutter, sagt Lydia erstarrt. Der Arzt übergibt Lydia den Schmuck der Mutter und verabschiedet sich. „Da stand ich dann da. Es war der größte Schock meines Lebens“, sagt Lydia. „Dann musste alles geregelt werden. Ich war gerade 19 Jahre alt geworden. Meine Mutter starb mit 41 Jahren. Der Leichnam musste laut Staatsanwaltschaft obduziert werden. Es war ein Horrorgefühl für mich.“

Lydias wichtigste Aufgabe ist es nun, die Geschwister zu trösten. Das Jugendamt erlaubt, dass die drei älteren Kinder allein zusammen wohnen dürfen. Darum entschließt sich Lydia zu den beiden Geschwistern in die elterliche Wohnung zurückzuziehen. Lydia übernimmt die Verantwortung für sie und sorgt dafür, dass die Miete gezahlt wird. Der Bruder ist 21 Jahre alt und bei der Bundeswehr, die jüngere Schwester ist 17. Die beiden jüngsten Schwestern, 11 und 14 Jahre alt, schickt das Jugendamt in die Obhut ihrer Tante, der Zwillingsschwester der Mutter, die in der Pfalz lebt.

Lydia nimmt sich keine Zeit zum Trauern, aber nachts quälen sie die Albträume: Plötzlich erscheint die Mutter. Ich habe gedacht, du bist tot, sagt Lydia zu ihr und ist außer sich vor Wut, weil die Mutter die Familie einfach verlassen hat. Und sie bringt die Mutter um.

Am Tag geht Lydia arbeiten, abends betäubt sie ihren Schmerz mit Alkohol und Drogen. Sie geht auf viele Partys. Nach einigen Männerbekanntschaften wartet sie immer noch auf die eine, wahre Liebesbeziehung.

Sie trifft Michael, mit dem sie fünf Jahre zusammen ist. Er ist ihre Liebe, aber einen Halt kann er ihr nicht geben. Ihre innere Leere ist unerträglich, so dass sie ihrem Leben ein Ende setzen will. Sie hat sich Tabletten besorgt und wird sie einnehmen, wenn niemand zu Hause ist. Zum Sterben will sie sich noch draußen auf eine Bank setzen, um niemanden aus der Familie damit zu belasten, sie tot vorzufinden. Sie schluckt die Tabletten, bekommt noch mit, wie ihr Bruder mit dem Auto vorfährt, und wird bewusstlos. Sie stürzt, reißt den Flurspiegel von der Wand und schlägt blutend auf den Fußboden. Auf der Intensivstation wacht sie nach drei Tagen wieder auf.

Was war geschehen? Ihr Bruder kam unerwartet nach Hause und entdeckte Lydia. Er dachte, sie sei betrunken, deshalb trug er sie ziemlich wütend ins Bett. Einige Zeit später kam Lydias Freundin vorbei, die unbedingt mit ihr ein privates Problem besprechen wollte. Sie wunderte sich, dass Lydia überhaupt nicht reagiert, so dass sie den Bruder bat, den Krankenwagen zu rufen. In letzter Minute wurde Lydia ins Krankenhaus gebracht. Später klärte sich, dass Lydia nicht wusste, wie schnell diese Tabletten wirken.

„Ich habe mich nach Ruhe und Frieden gesehnt, die mir der Tod bringen sollte. Ich fand den Sinn des Lebens nicht. Aber ich habe überlebt“, sagt Lydia und singt: „Sag mir, wo die Blumen sind“.

Nach einigen Tagen wird Lydia aus dem Krankenhaus entlassen. Äußerlich ist sie wiederhergestellt, innerlich noch sehr krank. Aber sie holt sich keine professionelle Hilfe. Sie macht einfach weiter. Neben Alkohol- und Drogenexzessen befasst sie sich nun mit Esoterik, immer mit der Frage nach dem Jenseits, nach einem Gott, nach der unsichtbaren Welt. Sie ist katholisch erzogen worden. Sie selbst bezeichnet sich als „katholischer Namenschrist“ und will damit sagen, dass es nicht ihre Entscheidung war, den katholischen Glauben anzunehmen. Katholizismus bedeutet für sie: mit Verboten leben. Damit will sie nichts mehr zu tun haben. Es muss doch noch etwas anderes geben, als diesen Gott, der all das Leid in der Welt zulässt. Sie studiert Horoskope, legt Tarot-Karten, befasst sich mit Aurafotografie, beschwört die Geister mit dem Ouija-Brett, pendelt und versucht den Kontakt mit einer unsichtbaren Welt aufzunehmen, um „Antworten und Weisungen“ zu bekommen.

Dann beendet sie die Beziehung zu Michael. Und sie macht Schluss mit ihrem Job, Schluss mit „kaltem Stahl“ und der Büroarbeit. Sie sucht nach einem Stoff, der das Gegenteil von Metall ist und findet – Holz. Lydia lässt sich zur Tischlerin ausbilden und macht 1983 die Gesellenprüfung. Sie ist jetzt 26 Jahre alt und gehört zu den ersten Frauen in NRW, die Tischlerinnen geworden sind. Aber sie hat einen schweren Stand unter den Männern, die die ständige Anwesenheit von Frauen nicht gewöhnt sind. Die Männer machen grobe Scherze und eindeutige Angebote. Das neue Leben wirkt sich nicht positiv auf Lydias Seelenheil aus. Sie macht weiter wie bisher mit Partys und Drogen. In der Werkstatt fällt das nicht auf. Damals ist es durchaus üblich, bei der Arbeit zu rauchen und auch mal ein Bier zu trinken. Versuche, mit Männern eine Beziehung aufzubauen, scheitern immer wieder.

Endlich hat Lydia wieder einen Freund. Den mag sie wirklich. Von ihm wird sie schwanger, schneller, als ihr lieb ist. Sie befasst sich gerade mit den Abschlussarbeiten für ihr Gesellenstück. Weil die beiden Liebe zueinander empfinden und sich auf das Kind freuen, bleiben sie zusammen. Heiraten wollen sie später, wenn das Kind da ist, in einer kleinen Kapelle in Frankreich, ganz romantisch und nur zu dritt. Doch kurz vor der Niederkunft wird Lydias Freund zur Bundeswehr einberufen, deshalb verlegen sie die Hochzeit eilig vor. Schon vor Lydias Schwangerschaft erwarben sie ein ausgedientes Schulgebäude, das sie begannen zu modernisieren und auszubauen und bauten einen Handel mit Antiquitäten und gebrauchten Waschmaschinen auf. Die beiden haben viele Ideen und Pläne, die sie umsetzen und dabei sind sie handwerklich geschickt. Lydia glaubt, endlich jemand gefunden zu haben, bei dem sie sich auch mal fallenlassen kann. Aber es zeigt sich, dass nicht alles rund läuft. Ihr Mann, den sie als liebenswerten Chaoten bezeichnet, hat nicht mehr alles im Griff. Sie entdeckt, dass er selbst depressiv ist und ihm alles über den Kopf wächst. Nach sieben Jahren lassen sie sich scheiden. Von dem Wert der Immobilie bekommt Lydia nichts ab, sie war zu naiv, um sich abzusichern. Sie findet sich damit ab, weil sie im Interesse ihrer Tochter keinen Streit anfangen will. Die Tochter soll unbelastet mit ihrem Vater zusammen sein können. So haben Vater und Tochter bis heute ein gutes Verhältnis zueinander.

Lydia fällt in ihr altes Leben zurück. Davon soll ihre kleine Tochter nichts mitbekommen. Dann wird sie krank. Die Ärzte diagnostizieren eine Hüftkopfnekrose, durch Knocheninfarkte ausgelöstes Absterben des Hüftkopfs. „Wahrscheinlich ist das die Konsequenz des Drogen- und Tablettenkonsums“, meint sie. Die nun 35-Jährige bekommt ein künstliches Hüftgelenk. Kaum genesen erfährt Lydia, dass die jüngste Schwester drogenabhängig ist. Schuldgefühle, nach dem Tod der Mutter nicht genügend auf die Schwestern aufgepasst zu haben, plagen sie schwer. So holt sie ihre Schwester aus der Pfalz zurück zu sich nach Gütersloh und besorgt ihr einen Therapie-Platz mit anschließendem Aufenthalt in einer betreuten Wohngruppe. Das Mädchen erholt sich, aber Lydia geht es immer schlechter. Sie vertraut niemandem. Noch immer sucht sie nach der Liebe. Gute Freunde sagen: Du musst an dich denken und härter werden, nicht alles an dich ‘ranlassen.
Das nächste Lied: „Ermutigung...du lass dich nicht verhärten“ von Wolf Biermann

Als Lydia infolge ihrer Depressionen sieben Tage lang keinen Schlaf findet, lässt sie sich in die Psychiatrie einweisen. Doch was die Ärzte ihr sagen, kommt bei ihr nicht an. Sie glaubt, das meiste selbst durchdacht zu haben, und so kann man ihr dort nicht helfen. Nach außen setzt sie eine Maske auf, im Inneren hat sie kapituliert. Die Vorstellung, ihrem Leben endgültig ein Ende zu setzen, beherrscht sie völlig.

Eines Tages sitzt sie wieder mit diesen schweren Gedanken auf einer Bank am Spielplatz und schaut ihrer achtjährigen Tochter zu, als eine jüngere Frau sie anspricht: „Sie sehen so traurig aus, geht es Ihnen nicht gut? – Nee. – Haben Sie es schon einmal mit Gott probiert? In Bielefeld startet heute eine Evangelisation. Ich lade Sie ein. Kommen Sie doch einmal mit. – Lydia kann am Abend ihre Tochter bei Freunden unterbringen und lässt sich abholen. Bielefeld ist 15 Kilometer von Gütersloh entfernt. Als sie sich dem Veranstaltungsort nähern, stutzt sie. Das ist doch keine Kirche, sondern ein schlichtes Bürogebäude! Lydia hat die prunkvollen katholischen Kirchen im Gedächtnis. Die Kanzel ist ein Stehpult, an Stelle der Orgel stehen dort Schlagzeug, Keyboard und Gitarre. Der Prediger trägt einen Anzug, und die Predigt ähnelt eher einem biblischen Vortrag, gespickt mit Witz und Weisheit. Dort erfährt sie zum ersten Mal, warum Jesus am Kreuz gestorben ist: Weil er die Menschen bedingungslos liebt. Er hat sich für die Menschen geopfert und ihnen die Last ihrer Schuld genommen. „Dieser Gedanke ist tief in mein Herz gedrungen“, sagt Lydia. „Ich war überwältigt und musste lange weinen. Dann habe ich gesagt, mit diesem Jesus will ich es probieren.“

Zwei Gemeindefrauen helfen Lydia, ihr Leben neu zu ordnen. Sie sagen, Lydia könne alle Last vor dem Kreuz ablegen, Gott werde ihr ein neues Herz schenken. „Das will ich“, sagt sie. Lydia geht mit ihnen ihr Leben durch, spürt ein letztes Mal die Verletzungen auf und erkennt auch ihre Schuld. „Ich konnte alles in den Rucksack meines Lebens packen und ihn in Gottes Hand legen. Mein Herz wurde geheilt.“ Dass das wahr ist, bemerkt sie, als sie nach vier Jahren Funkstille ihren sterbenden Vater im Krankenhaus besucht. Sie kann ihm sagen: Papa ich vergebe dir, vergib mir ebenfalls. „Bis heute hab’ ich diesen Frieden in meinem Herzen, den nur Gott mir schenken kann“, sagt Lydia. Auch ihrem Ehemann kann sie vergeben. Auf einmal hat sie Verständnis für die beiden. Ihr Vater hat es besonders schwer gehabt im Leben. Er wuchs im Krieg auf. Seine Mutter, Lydias Großmutter, war sehr streng zu ihm und bestrafte ihn bei den kleinsten Vergehen unverhältnismäßig hart. Und deren Mutter wiederum musste in einem Kinderheim ohne die fürsorgliche Liebe von Eltern aufwachsen.

Seit diesem Erlebnis, das mehr als zwanzig Jahre her ist, liest Lydia in der Bibel. „In Gottes Hand, mit seinem Frieden wurde mein Leben wieder lebenswert“, bemerkt sie. Lydia ist musikalisch und hat sich schon in jungen Jahren das Klavier- und Gitarre Spielen selbst beigebracht. Nach ihrer Genesung musiziert sie mit neuer Kraft in Krankenhäusern, Altenheimen und Gefängnissen „ehrenamtlich für Gott“. Bis heute singt, textet und komponiert sie. Von der Alkohol- und Drogensucht ist sie befreit. Auch ihre jüngste Schwester hat den Weg zu Gott gefunden. Vor acht Jahren ist Lydia nach Berlin gezogen, weil sie ihrer alleinerziehenden Tochter zur Seite stehen will. Sie wohnt in der Neuköllner Emser Straße und ist mit den umliegenden Künstlerkreisen gut vernetzt. Lydia bezieht eine kleine Rente. Da die Mieten leider ständig steigen und sie gern weiter im „geliebten Kiez“ wohnen möchte, wünscht sie sich ein Band-Projekt für Auftritte. Jetzt sucht sie interessierte Musiker*innen.

Lydia trägt weitere Lieder vor:
„Wir tragen viele Masken und suchen 1000 Sonnen“
„Ich schaue der Wahrheit ins Auge und stelle mich in dein Licht“ 
„Hab Dank vom Herzen“

„Güld’ne Abendsonne, Abglanz schöner Herrlichkeit“