Herbert Witzel – Der Worttransporteur
Herbert Witzel ist geschmackvoll gekleidet: Zur englischen
Wachsjacke trägt er einen förstergrünen Filzhut mit breiter Krempe, darunter
beige Cordhosen, einen dunkelblauen Pullover mit spitzem Ausschnitt, Schlips
und weißes Leinenhemd. Damit ist er der am besten angezogene Mann im Raum. (Die
Neuköllner legen im Allgemeinen keinen großen Wert auf Eleganz.) Er legt Hut
und Jacke ab und setzt sich still auf einen Stuhl. Seine Gitarre stellt er
neben sich. Er hat viele (angefangene) Berufe und einen Abschluss, wie wir noch
erfahren werden. Heute trägt er seine Dienstkleidung als Liedermacher,
allerdings ohne Hut. Bedeutet das etwas? Ist er nicht doch als „Privatmann“
hier? Mit kräftiger Stimme beginnt Herbert zu erzählen. Erst zurückhaltend,
stockend und ein wenig schüchtern, doch bald kommt er in Fahrt. Er berichtet
assoziativ, hält sich nicht an eine Chronologie, und würzt das Gesagte mit
Kommentaren. Es ist unterhaltsam, ihm zuzuhören. Ich spüre die feine Ironie
hinter seinen Worten, manchmal bitteren Humor. Zum Schluss trägt er zwei selbst
geschriebene Lieder vor. Er vergisst, den Hut aufzusetzen und zeigt er eine weitere
Facette von sich: den Schauspieler und Künstler.
Herbert Witzel wird 1949 in Braunschweig
geboren und wächst dort auf. Schon als Schüler interessiert er sich für
Gedichte. Erste eigene Versuche schickt er an das Feuilleton der Braunschweiger
Zeitung und malt sich aus, was er mit dem Honorar alles anfangen wird. Leider
werden seine Sachen nicht gedruckt. Aber der Redakteur bietet ihm immerhin ein
Gespräch an: „Oder wollen Sie Ihre Texte gleich so zurückhaben?“
Herbert ist beeinflusst von seinem ältesten
Bruder, einem intellektuellen „Bürgerschreck“ und Nietzsche-Fan. Zu ihm schaut
er auf. Sein zweiter Bruder ist in seinen Augen das Gegenteil von dem Ältesten.
Herbert beschreibt ihn als angepasst und wohlstandsorientiert, der Jura
studierte, in der Welt herumgekommen ist, geheiratet, einen Sohn gezeugt und
sich selbstständig gemacht hat. „Zwischen diesen beiden Polen bin ich
aufgewachsen.“ Beide Brüder leben nicht mehr. Der Älteste schrieb als
Abschiedsgruß: „In dieser Welt ist für mich ja doch kein Platz“. Der Zweite starb mit 39 Jahren an einer Allergie
gegen Katzenhaare. „Seiner Frau waren ihre Katzen wichtiger,“; kommentiert
Herbert und macht den Eindruck, dass er die Situation zwischen den beiden
extremen Brüdern bis heute nicht ganz bewältigt hat.
Nach dem Abitur beginnt er ein
Germanistikstudium. 1968/69 wechselt er gemeinsam mit Studienkollegen an die
Braunschweiger Hochschule für bildende Künste, Fachbereich Kunstpädagogik. „Da
gab es einen Gastdozenten, der alle 14 Tage Vorlesungen hielt auf der Grundlage
von Moshe Kagans marxistisch-leninistischer Ästhetik.“ Passende Bilder lieferte
„TENDENZEN – Zeitschrift für engagierte Kunst“.
Doch Herbert hat das Gefühl, in eine
Sackgasse geraten zu sein, und beschließt, nach Berlin zu gehen. Dort lebt auch
sein Jura-Bruder. Er schickt seine Bewerbungsunterlagen an die Hochschule der
Künste und an die Pädagogische Hochschule (PH). An der PH in Lankwitz wird er
angenommen und kann dort Latein und Kunst studieren mit dem damals
obligatorischen Grundkurs zu „DAS KAPITAL“, der auf Seite 50 aufhört, weil
keiner mehr den Unterschied zwischen „relativer Wertform“ und „Äquivalentform“
begreift.
Obwohl er alle Praktika absolviert hat,
schließt er das Studium nicht ab, weil ihn seine „wahnsinnige Prüfungsangst“
daran hindert. „Ich bin auch zweimal durch meine Führerscheinprüfung gefallen“,
ergänzt er. Später lernt er diese Angst zu überwinden, sonst hätte er heute im
Erzählcafé ohne Notizen und Unterrichtsentwurf gar nicht auftreten können,
meint er. „Früher wäre das für mich der Horror gewesen. Man bildet sich ein,
die anderen erwarten von einem etwas, das man nicht kann. Man muss perfekt
sein. Gerade heute habe ich den Spruch gelesen: ‚Gut ist besser als perfekt’“.
„Geschrieben habe ich schon immer, Schreiben
ist mir leichter gefallen als Sprechen“, sagt Herbert und deutet damit an, dass
es trotz aller Wirren um das Studium eine Kontinuität in seinem Leben gibt. Als
er bei der TUSMA (Telefoniere Und Studenten Machen Alles) wieder einmal nach
einem Job schaut, wird ein Nachhilfelehrer in Latein gesucht. Er nimmt den Job
an, denn die Schülerin ist die Tochter von Günter Bruno Fuchs, wie er
feststellt. Von diesem Profi möchte er unbedingt ein Urteil über seine Texte
hören. In Herberts Elternhaus hat niemand mit Schreiben Geld verdient. Nachdem
der Berliner „Malerpoet“ Fuchs eine von seinen Kurzgeschichten gelesen hat,
äußert er sich positiv („Ihre Geschichte ist munter“) und ermutigt ihn, weiter
zu schreiben: „Wenn Sie 60 Manuskriptseiten zusammen haben, dann helfe ich
Ihnen, dass ein Buch daraus wird.“
Begeistert geht Herbert nach Hause, kauft
unterwegs Schreibmaschinenpapier und hämmert seine Ideen in die Tasten. Nachdem
er dem Schriftsteller seinen fertigen Text vorgelegt hat, reagiert dieser
zurückhaltend. „Na ja, es war halt ein Anfängerwerk“, sagt Herbert. Ob er der
Tochter den Nachhilfeunterricht gegeben hat, erzählt er nicht.
Herbert lässt sich durch diese Absage nicht
entmutigen. Er wohnt in Kreuzberg, das damals den Ruf als Künstlerviertel hat.
Die alten Mietshäuser mit ihren ehemaligen Hinterhoffabriken bieten ideale
Werkstätten für Drucker, Maler und Bildhauer. Dort hat sich der „Kreuzberger
Künstlerkreis“ um den Maler Kurt Mühlenhaupt gegründet, und Herbert ist mit einigen
dieser Künstler befreundet. (Günter Bruno Fuchs gehört auch dazu.) Der heute
noch aktive Drucker und Kleinverleger Hugo Hoffmann bietet ihm an, sein erstes
Buch zu veröffentlichen. Es ist das „Gelbbuch“ von Herbert F. Witzel, das 1976
erscheint, mit Illustrationen von Bernhard Verlage. Mit dem Zusatz F.
(Friedrich) hat sich Herbert einen Künstlernamen zugelegt. Im Buch geht es um
folgende Geschichte: Ein junger Mann besetzt das Telefonhäuschen Schlesische
Straße/Ecke Heckmannufer und versieht das Telefonbuch mit seinen
Aufzeichnungen, es wird später gefunden und herausgebracht. „Das Ganze passte
gut zur damaligen Hausbesetzerszene“, erläutert Herbert. „Mein Buch war ein
gewisser Erfolg, aber ich konnte nicht damit umgehen. Ab jetzt fühlte ich mich
wie Alexander der Große, habe mich nicht mehr um mein Studium gekümmert und
weitere Bücher herausgebracht.“ Doch dieser eingeschlagene Weg führt nicht zu
weiteren Erfolgen. Herbert muss Geld verdienen und arbeitet als Korrektor. Einmal
bekommt er ein Arbeitsstipendium vom Senator für Wissenschaft und Kunst zur
Fertigstellung des nächsten 60-Seiten-Manuskripts, das unter dem Titel
„Kreuzberger Dreifaltigkeit“ erscheint.
Dann erhält er bei der evangelischen Kirche einen Job im
Knast. Er arbeitet als Hiwi („Fürsorger“) für das evangelische Pfarramt in
Alt-Moabit 12a, das eine eigene kleine Gefängnisbibliothek unterhält, die er
nun betreut. Obwohl er es jeden Tag mit „diesen Monstern“ im Knast zu tun hat,
möchte er gern eine „Lebensstellung“ daraus machen. Die Pastoren versprechen,
ihn dabei zu unterstützen. Stattdessen drückt ihm am nächsten Tag sein
Briefträger die offizielle Kündigung vom Konsistorium der ev. Landeskirche in
die Hand. „Was tut ein deutscher Mann in so einer Situation? Er geht zu seiner
Ärztin in der Bergmannstraße und lässt sich krankschreiben.“ Später bewirbt er
sich um eine Anstellung im Justizvollzug und wird wegen dieser Krankschreibung
abgelehnt. „Aber die haben mich doch gekündigt“, sagt Herbert. – „Ja, sehen
Sie, Sie sind eben nicht belastbar.“ – „Heute bin ich froh, dass ich dort nicht
länger geblieben bin, obwohl dies ein sicherer Job gewesen wäre. Ein
Gefängniswärter sagte einmal: Die Regierungen kommen und gehen, aber uns
braucht man immer.“
Mit 40 Jahren gerät Herbert in eine Lebenskrise.
„Nach biblischen 40 Jahren in der Wüste landete ich in einer Freikirche und
wurde fromm.“ Durch die kleine Rudower (Pfingst-)Gemeinde findet er eine neue
Orientierung an Jesus Christus und traut sich, doch noch einen Berufsabschluss
zu machen. Das Arbeitsamt fördert eine einjährige Ausbildung zum
Handelsfachpacker. Dabei fällt er der Deutschlehrerin auf, die ihm den Weg in
die Klasse der Speditionskaufleute auf dem gleichen Flur drei Türen weiter
ebnet. Der Unterricht läuft allerdings schon seit einem halben Jahr. Herbert
Witzel wird im Crash-Verfahren zum Spediteur und besteht ein Jahr später die
entsprechende IHK-Prüfung. Danach arbeitet er zwei Jahre in der damaligen
Berliner Speditionsgegend Heidestraße und wird, wie viele andere auch,
arbeitslos, als die Konjunktur nachlässt. Mit zahlreichen Bewerbungen versucht
er eine neue Stelle zu finden. Im Lebenslauf schreibt er: „1989 wurde Jesus Christus
mein Boss.“ Diesen Satz mit Textmarker hervorgehoben, bekommt er seine
Bewerbungsunterlagen „zu unserer Entlastung zurück“.
Herbert hat kein Vertrauen mehr in den Arbeitsmarkt und sucht nach einer sinnvollen
Beschäftigung, die Geld abwirft und die ihm niemand wegnehmen kann. Deshalb
will er es nach 15 Jahren Pause wieder mit dem Schreiben versuchen, denn „ich
hatte doch ganz gute Rückmeldungen“. Und er entwickelt zwei Figuren als
Protagonisten für drei Pilotgeschichten: Kriminalhauptkommissar Müller, der in
der Kreuzberger Friesenstraße im Abschnitt 52 arbeitet, und sein
Kriminalassistentenanwärter, Herr Krahlmann aus Pankow. Der Kommissar geht
jeden Montag in die Therapiegruppe und hat eine liebe Frau, die für ihn gut
kocht, wenn er denn endlich Feierabend hat. „Ich wollte aber nur
weiterschreiben, wenn ich Leute finde, die bereit sind, Geld dafür auszugeben.
Deshalb habe ich diese drei Kurzgeschichten dann in der Medienwelt
herumgeschickt.“ Wochenlang kommt keine Antwort. Kurz vor Weihnachten 1995 steckt
ein großer weißer Briefumschlag in seinem Briefkasten. Absender: Süddeutsche
Zeitung. Er enthält ein Belegexemplar, in dem eine seiner Geschichten
abgedruckt ist. Sein Honorar: 236,20 DM. „Ich fühlte mich wie Onkel Dagobert,
der seinen ersten Kreuzer verdient. Der Kontoauszug hängt immer noch an der Tür
vom Archivschrank.“ Herbert ist gestärkt und motiviert weiterzumachen. „Da habe
ich wieder angefangen, kreativ zu sein und bin dabei geblieben.“ Das erste Buch
erscheint dann zur Jahrtausendwende im Schwarzwälder Johannis-Verlag, ein
zweites mit Weihnachtsgeschichten folgt, das dritte wird dort nicht mehr
gedruckt, weil der 1896 gegründete Traditionsbetrieb Johannis Insolvenz
anmelden muss, sondern erscheint in einem Kleinverlag im Erzgebirge.
Eines Tages klingelt das Telefon, und Herbert
erfährt, dass bei einem Kreuzberger Bildungsträger ein Speditionskaufmann mit
Berufserfahrung gesucht wird. Er bewirbt sich und wird angenommen. Nun soll er
junge Menschen als „Fachkraft für Lagerwirtschaft“ ausbilden. Ein Sprung ins
kalte Wasser. Die Bildungsträger haben damals die Aufgabe, Verbundausbildungen
zu organisieren, um den Schulabgängern eine Berufschance zu bieten. Herbert
bemerkt kritisch, sie sollten auch dazu beitragen, die Jugendlichen aus der
Arbeitslosenstatistik herauszuhalten. „Das Zusatzschuljahr hat nicht mehr gereicht
für diesen Zweck.“ Die Arbeit macht ihm dennoch Spaß. Nach einiger Zeit weiß
Herbert, wie er mit den jungen Leuten umgehen muss, schließlich wollte er mal
Lehrer werden. Er tritt morgens vor seine Azubi-Gruppe und fragt: „Warum sind
wir hier?“ - Antwort aller: „Damit wir die Prüfung bestehen, Herr Witzel!“ Herbert
ist stolz darauf, dass schließlich alle seine Azubis durchgekommen sind. Im
Leistungsdurchschnitt des Bildungsträgers kam sein Fachbereich auf den zweiten
Platz. Allerdings musste sich die Hälfte der Azubis nach bestandener Prüfung
arbeitslos melden.
In der Nachbarschaft des Bildungsträgers gibt
es nahe am Görlitzer Bahnhof einen
türkischen Bäckerladen, wo er sich immer seine „Frühstücksschrippe“ kauft. Als
er erfährt, dass das Geschäft am Monatsende zugemacht werden soll, denkt er:
Eigentlich schade, ist ja ein netter Laden, aus dem könnte man doch was machen,
einen Treffpunkt, wo er seine Bücher ausstellt, wo Künstler aus dem Kiez ihre
Werke präsentieren und wo man auch eine Tasse Kaffee bekommt. Fasziniert von
der Idee eines kleinen Kreuzberger Kulturzentrums übernimmt er kurzentschlossen
den Laden. Einige Freunde helfen ihm, andere raten ihm kopfschüttelnd ab.
„Jeder hat eben seine Macke. Wenn ich mich für eine Sache begeistere, denke ich
nicht an das Finanzielle.“ Er legt seine Bücher in das Schaufenster, dazu ein
großes Schild: HIER SCHREIBT DER CHEF! Später unterhält er sich mit einem
interessierten Nachbarn, der das Schild gelesen hat und nicht wusste, was er
davon halten soll. Dass „der Bäcker“ Bücher schreibt, darauf ist er nicht
gekommen. „Offensichtlich konnte ich mich nicht verständlich machen. Aber ich
habe auch nicht realisiert, dass der Laden für mein Vorhaben ungünstig gelegen
war.“ Notgedrungen schließt er den Laden, weil die Lücke zwischen Ausgaben und
Einnahmen zu groß wird. Die Höhe der Schulden ist zum Glück überschaubar.
Wegen einer Gesetzesänderung verliert Herbert
eine bestimmte Eignungsvoraussetzung als Ausbilder und damit auch seinen
Arbeitsplatz. Herbert braucht dringend eine neue, preiswerte Wohnung, am
liebsten wieder in Kreuzberg. Doch inzwischen (im Jahr 2003) ist Kreuzberg
„angesagt“, und die Mieten sind gestiegen. Deshalb versucht er es in Neukölln
und findet am Wartheplatz eine günstige Wohnung mit Kachelbad und Südbalkon.
„Da bin ich noch immer ganz glücklich.“
Anschließend bekommt er einen Job als
Ausbilder bei einer „Maßnahme zur Berufsvorbereitung“. „Im Grunde wurden die
Jugendlichen nur von der Straße weg und aus der schon erwähnten Statistik
rausgehalten.“ Es gibt ein gesetzliches Recht auf Beschäftigung für
Jugendliche. Wenn sie wegen ihres Verhaltens bei dem einen Bildungsträger
hinausgeworfen werden, dann gehen sie zum nächsten und so weiter. Oder wie es
Herberts Kollege ausdrückt, ein in Ehren ergrauter Handwerksmeister: „Wenn wir
die alten Teufel los sind, dann kriegen wir dafür neue Teufel.“ Möglichkeiten
zur Disziplinierung gibt es so gut wie keine. Entsprechend schwierig ist für ihn
der Einstieg. „Ich kam da hin als Verantwortlicher für die Berufsgruppe ‚Lager
und Logistik’, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer machten, was sie wollten.
Keiner hörte auf mich. Der Sozialpädagoge der Einrichtung sagte mir: Solange
die Jugendlichen nicht rausrennen, können Sie doch ganz zufrieden sein.“ Nach
14 Tagen spricht Herbert mit dem Leiter der Einrichtung und will ihm erklären,
dass er der Falsche für diesen Job sei. Zu seinem Erstaunen stellt sich heraus,
dass dieser an seiner Arbeit gar nichts auszusetzen hat. Ihm ist es nur
wichtig, dass auf dem Flur Ruhe herrscht und dass weder vom Arbeitsamt noch von
den Eltern Beschwerden kommen. Die Arbeit beim Bildungsträger ist auf ein Jahr
befristet, kann aber auf Antrag verlängert werden. Herbert schließt diese
Möglichkeit für sich aus. „Die Jugendlichen wurden in Ton und Umgang immer
ruppiger, und ich wollte mir das nicht länger antun. Andere konnten es besser,
wie ich zugeben muss.“
In Neukölln lebt er sich gut ein. Herbert
konzentriert sich erneut auf das Schreiben. Nicht weit von seiner Wohnung wird
der „Neuköllner Dschungel“ herausgegeben, eine sympathische „Verteilzeitung“,
die sich vor allem um die Kultur Nord-Neuköllns kümmert. Er versteht sich gut
mit der Redaktion in der Emser Straße und schreibt Artikel für die Zeitung. „Es
gibt zwar kein Geld, aber sie drucken das, was ich schreibe.“
Als es bei Amazon die Möglichkeit gibt,
eigene E-Books zu veröffentlichen, ist Herbert dabei und stellt seine Bücher
ins Netz, um sie zu verkaufen. Es kostet ihn nichts, außer ein halbes Jahr lang
Schweiß und schlaflose Nächte, bis er endlich die Dateiformate am Computer
beherrscht. Sehr bald fallen die ersten Euros für ihn ab. Nach ein paar Monaten
sind es einmal sogar mehr als 300 Euro. Ab jetzt geht es aufwärts, glaubt er.
„So war das dann doch nicht. Es ist ein riesengroßer Flohmarkt, da kommt ab und
zu ein kleines Taschengeld herein. Ich verfolge das nicht mehr.“
Herbert beginnt wieder Gitarre zu spielen. Er
braucht dringend eine Abwechslung von den langen Arbeitszeiten am Computer.
Inzwischen sind zahlreiche Texte und auch Gedichte entstanden, die er jetzt
vertont und auf Kleinkunstbühnen in Neukölln und Kreuzberg vorträgt. Meistens
tritt er mit anderen Künstlern auf, zu ihnen gehört auch der Entertainer
Wolfgang Endler (dessen Geschichte ebenfalls in diesem Buch zu lesen ist). „Der
könnte einen ganzen Abend allein bestreiten. Aber ich bin ja nicht bekannt und
tue mich schwer mit Werbung, deshalb lass ich das lieber.“
Bei Amazon kann man inzwischen auch die
E-Bücher ausdrucken lassen, doch das sind dann Bücher von der Stange, so
langweilig wie alle typischen „Plastikbücher“ (wie sie Klaus Wagenbach nennt),
findet Herbert. Er meint, es müsse doch möglich sein, mit der Technik von heute
Bücher in kleinen Serien einzeln am Küchentisch herzustellen, die in hoher
Qualität farbig bebildert sind wie im Offsetdruck. Das lohnt sich aber erst ab
1.000 Exemplaren, die einen Haufen Geld kosten und außerdem eine Menge Platz
wegnehmen. Er erzählt anderen von dieser Idee und findet eine Nachbarin, die
die Geschichten ihrer Mutter gedruckt sehen will. Sie finanziert die erste
Kleinauflage von 20 Büchern. Allerdings reicht der Küchentisch nicht, einen
Campingtisch braucht es auch noch für die Produktion.
Seit vier Jahren ist er nun dabei und erzielt
ästhetisch durchaus befriedigende Ergebnisse, die sich auch verkaufen lassen. Mit
jedem Buch probiert er etwas Neues aus und entwickelt die Qualität weiter, und
er ist stolz auf seine Produkte. „Es ist ja ganz schön, Texte zu verfassen.
Aber wenn so ein Buch fertig ist, das ist was Handfestes!“ Ähnlich hat er das bei
einem anderen Schlüsselerlebnis empfunden: Bei einer Arbeit in einer Zimmerei
hatte er die Aufgabe, im Grunewald Bänke zu bauen. Er setzte einen großen
Baumstamm auf zwei kleine und brachte eine Lehne an. Als die Bank fertig war,
nahm er auf ihr Platz und packte sein Frühstück aus. „Das gefiel mir, denn ich
wusste, was ich getan habe.“
Herbert Witzel ist jetzt Verleger,
Schriftsteller, Buchgestalter und Hersteller. Sein Verlag heißt
worttransport.de. Der Name spielt auf den früheren Beruf des Verlegers an.
Herbert hat den Ehrgeiz, ungewöhnliche Bücher zu machen. Das fängt bei den
Ecken an: die sind abgeschrägt. „Bücher ohne Eselsohren“ sagt er dazu. Für
farbige Abbildungen, Fotos, Gemälde oder Zeichnungen hat er eine besondere
Technik entwickelt, das Giclée, eine Art Probedruck, den er mit seinem
Tintenstrahldrucker herstellen kann. Die Qualität, die er dabei erreicht, ist
besser als bei Massendrucksachen. Da er jedes Buch einzeln herstellt, bietet
sich diese Methode an. Jede Seite ist nur einseitig bedruckt, damit keine
durchscheinende Schrift die Abbildung beeinträchtigt. Das Buch besteht also aus
gefalteten Doppelseiten. Auch die Bindung hat er inzwischen perfektioniert und
verwendet dabei drei verschiedene Klebstoffe, die sein Betriebsgeheimnis
bleiben. Dadurch werden die Bücher gleichzeitig stabil und flexibel, „so wie
sich das gehört“.
Zwei Bücher wurden außer der Reihe im
Offsetdruck mit klassischer Fadenheftung und Hardcover hergestellt, nämlich die
Gedichtsammlung „Fakt ist“ des Berliner Autors Zvonko Piepelić, geboren in
Zagreb, sowie der Nachdruck von Magnus Hirschfeld: „Die Gurgel Berlins“, ein
Großstadt-Dokument über den Alkoholismus von 1905, das Herbert in
Zusammenarbeit mit dem Guttempler Michael Annecke herausgebracht hat.
Weitere Bücher seines wachsenden
Verlagsprogramms schreibt Herbert Witzel unter dem Pseudonym „Hermann Syzygos“.
Unter ihnen sind die Lebensgeschichten von Johnny Cash und von Nikola Tesla,
dem Erfinder des Wechselstroms und des Elektromotors, der die nach ihm
benannten Autos antreibt. Sein neuestes Produkt ist die Geschichte von Mata
Hari („Tänzerin durch die Galaxis“), reichlich versehen mit farbigen
historischen Abbildungen. Da jedes Mata-Hari-Buch ein Unikat (und auch ein
Kunstwerk) ist, wird es einzeln nummeriert und signiert. Demnächst erscheint
„das schönste Buch der Welt“, eine bebilderte Vincent-van-Gogh-Geschichte auf
Spezialpapier mit Leinwandstruktur, passend zu dem Film „Loving Vincent“, der
Ende 2017 in die Kinos kommt.
Vielleicht ist Herbert Witzel jetzt
angekommen bei der Suche nach seiner Bestimmung. „Ich habe ein gewisses
Gottvertrauen.“ Er strahlt Gelassenheit aus, wenn er über seine Bücher spricht.
Glücklich und stolz präsentiert er sie. Mit ihnen und mit seinen musikalischen
Auftritten, bei denen er seine originelle, teilweise satirische Prosa vorträgt
sowie seinen Beiträgen in Stadtteilzeitungen gehört er zu jenen Menschen, die
den Kiez (bzw. Neukölln) mit ihrer Kunst bereichern.
Bildung Wohltätigkeitsorganisationen Der beste Ort, um Geld zu spenden, weil es eine bessere Bildung und ein besseres Leben bietet.
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