Donnerstag, 19. November 2015
Heute sind wir eine Runde mit 13 Gästen, eine angenehme Zahl. Ich habe mich für den kleinen Tisch entschieden. Jetzt geht das Vorbereiten schon wie am Schnürchen, aber ich finde die Thermoskannen nicht. Wir werden improvisieren. Veronika Hitpaß kommt rechtzeitig, um noch einen Moment nach der Schule zu verschnaufen. Dann legt sie in ihrer frischen und temperamentvollen Art los.
Veronika Hitpaß sitzt links auf dem Sofa
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Veronika Hitpaß, evangelische Religionslehrerin an der Peter-Petersen-Schule
Veronika Hitpaß, Jahrgang 1953, wächst in Nordrhein-Westfalen auf, in einem Dorf nahe der holländischen Grenze. Ihr soziales Umfeld ist katholisch geprägt. Die gläubigen Eltern vermitteln Nächstenliebe und sind stets bereit Menschen in Not zu helfen. Der Vater ist Schuhmachermeister, die Mutter Hausfrau. Die Familie lebt bescheiden, empfindet sich aber nicht als arm. Veronika trägt ganz selbstverständlich die Kleider ihrer Cousinen und sogar die Schuhe ihrer älteren Brüder auf. Von den vier Kindern, drei Jungen, ein Mädchen, können die beiden jüngeren das Gymnasium besuchen, weil im Bundesland Nordrhein-Westfalen seit 1965 die Schulbücher kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Alle Kinder sollen die Chance haben das Abitur zu machen, so die offizielle Bildungspolitik. Die im Dorf vorherrschende Frömmigkeit geht einher mit Freundlichkeit und Lebenslust. Veronikas Mutter hat 8 Schwestern und zwei Brüder. Verwandtschaftliche Zusammenkünfte sind große, fröhliche und unbeschwerte Runden; Veronika genießt es dabei zu sein. Sie verlebt eine glückliche, freie Kindheit auf dem Land. Die Kirche besucht sie regelmäßig. Mit 17 Jahren ändert sich ihre Haltung zur Kirche, sie empfindet es nun als Knechtung jeden Sonntag zur Messe zu gehen und auch noch beichten zu müssen. Für den Pfarrer im Beichtstuhl legt sie sich Dinge zurecht, die sich aber nicht wirklich zugetragen haben.
Nach dem Abitur zieht es sie zum Studium nach Berlin, weil dort ein junger Mann auf sie wartet. Auch will sie mehr von der linken Studentenbewegung erfahren. Sie schreibt sich in das Fach Soziologie ein mit der Vorstellung, eines Tages in die Gesellschaft einzugreifen und dafür zu sorgen, dass es kein Unrecht mehr auf der Welt gibt. Sie ergänzt das Studium mit den Fächern Psychologie, Pädagogik und Politologie. Außerdem tritt sie zum Leidwesen ihrer Eltern aus der katholischen Kirche aus und engagiert sich politisch.
Neben dem Studium übernimmt sie eine Aufgabe in der Offenen Jugendarbeit und betreut in einem Reinickendorfer Jugendfreizeitheim schwierige, zum Teil schon vorbestrafte Jugendliche, um die sich sonst niemand kümmert. Zweimal wöchentlich von 18-22 Uhr beschäftigt sie sich mit ihnen; sie spielen Karten, sprechen miteinander oder sehen sich gemeinsam Filme an. Im Film „Die Faust in der Tasche“ von Max Willutzki (1978) haben sogar einige der Jugendlichen als Darsteller mitgespielt. Der Film analysiert die Situation arbeitsloser Jugendlichen und ihre Gewaltbereitschaft. Leider driftet später einer der Jugendlichen völlig ab und bringt einen Menschen um.
Veronika beschließt ihr Studium als Diplom-Soziologin, obwohl sie schon während der Studienzeit, vor allem bei der Arbeit mit den Reinickendorfer Jugendlichen, bemerkt hat, dass ihr die Pädagogik viel mehr liegt. Sie findet eine Stelle im Wedding, wo gerade ein Jugendladen eröffnet wurde, und arbeitet dort eineinhalb Jahre lang als Sozialarbeiterin mit Mädchen und Jungen aus dem Arbeitermilieu.
Dann wird beim evangelischen Kirchenkreis Kreuzberg eine Stelle in der Jugendeinrichtung „Die Wille“ frei, die man Veronika anbietet. Deswegen tritt sie in die evangelische Kirche ein, aber auch aus innerer Überzeugung. „Die Wille“ liegt in einem alten Mietshaus in einer einsamen und unwirtlichen Gegend nahe der Mauer und beherbergt eine Schüleretage und ein Jugendfreizeitzentrum. Veronika betreut Kinder mit Einschränkungen in ihren Lese- und Schreibfähigkeiten und unterstützt sie bei den Schularbeiten. Die Arbeit mit den Kindern macht ihr große Freude, so dass sie es jetzt sogar bereut keinen Pädagogik-Abschluss gemacht zu haben. Damals in der Abiturklasse wählten fast alle den Lehrerberuf; Veronika aber nicht; sie wollte sich wohl von ihren Mitschülern mit einer besonderen Berufswahl absetzen.
Die Arbeit in der „Wille“ prägt Veronika entscheidend. Sie kooperiert mit den engagierten Kollegen und wirkt am umfassenden Bildungsprogramm für die Kinder und Jugendlichen mit. Neben dem Schularbeitszirkel werden Ausflüge unternommen, Feste gefeiert, Diskotheken besucht, sogar Reisen gemacht. Die Jugendlichen wohnen in der näheren Kreuzberger Umgebung. Die meisten stammen aus armen Familien. Selbst ein Ausflug an den Schlachtensee ist ein großes Ereignis, weil viele der Jugendlichen noch nicht einmal bis dorthin gekommen sind. In der „Wille“ werden sie in ihrem Fortkommen unterstützt, zum Beispiel bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Einmal begleitet Veronika die Jugendlichen auf einer Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz, die von der Aktion Sühnezeichen alljährlich organisiert wird. In Auschwitz leisten sie einen einwöchigen Friedensdienst ab, der aus Gartenarbeit am Vormittag sowie Gesprächen und Archivarbeit am Nachmittag besteht. Bei einem Gespräch mit einem ehemaligen Insassen bemerken sie dessen eingravierte Nummer auf dem Arm. Ebenfalls beeindruckend ist die Aufgabe, allein in einer der Baracken, die mit Schuhen ehemaliger Häftlinge vollgestellt ist, zwei Stunden zu verweilen und dort die Schuhe zu reinigen. Plötzlich ist man für sich und kann die Eindrücke sacken lassen. Veronika wird klar, dass man konkret etwas tun muss, damit nie wieder ein solches Unrecht passiert.
Wieder zurück in Kreuzberg denkt Veronika erneut darüber nach, wie sie doch noch Pädagogin werden könnte. Sie trifft eine Freundin, die ihr erzählt, dass sie an einer Ausbildung zur evangelischen Religionslehrerin teilnimmt. Ob das auch etwas für sie wäre? Veronika informiert sich, bewirbt sich, wird genommen und beginnt ein sehr intensives berufsbegleitendes Studium. Sie lernt die Bibel unter kritischen und historischen Aspekten kennen und befasst sich erneut mit Didaktik, Pädagogik und Psychologie. Gleichzeitig gibt sie an der Karl-Weise-Schule Religionsunterricht. Das Studium gibt ihr auch die Möglichkeit über ihre Haltung als Christin nachzudenken. Nach bestandener Prüfung darf sie bis zur 13. Klasse unterrichten.
Veronika zieht die Grundschule vor und wird an der Karl-Weise-Schule in Nord-Neukölln angestellt. Dort herrscht ein Schulleben mit harten Bedingungen. In einer Klasse gibt es höchstens 4 oder 5 Kinder ohne Migrationshintergrund. Die Lehrer versuchen alles, um trotz der schwierigen Situation eine gute Arbeit zu machen. Veronika kann die Kinder nicht disziplinieren, die Kinder kriechen unter die Tische, benutzen schmutzige Schimpfwörter oder rennen aus der Klasse. Die evangelische Seminarleiterin schüttelt nur den Kopf, sie kann es sich einfach nicht vorstellen, mit welchen Verhältnissen Lehrer in Neukölln konfrontiert sind. Veronika lernt, dass man die Ausbildungsinhalte nicht einfach abspulen kann, sondern sich immer wieder neu auf die Kinder beziehen muss.
Nach einigen schwierigen Jahren an der Karl-Weise-Schule wechselt Veronika an die Matthias-Claudius-Schule im Süden Neuköllns und an die Hugo-Heimann-Schule in der Gropiusstadt. Dort ist der Unterricht nicht weniger problematisch. An der Matthias-Claudius-Schule lernen zu dieser Zeit viele Kinder aus der bürgerlichen Mittelschicht in großen Klassen, und manchmal findet auch der Religionsunterricht in großer Besetzung statt. Die Hugo-Heimann-Schule dagegen ist eine harte Kiezschule mit einem allerdings sehr bemühten Kollegium. Doch in beiden Schulen ist jeder Lehrer weitgehend auf sich gestellt. Es gibt weder eine Koordination noch Absprachen im pädagogischen Profil. Veronika hat kaum noch Kraft und trägt sich mit dem Gedanken aufzugeben.
Gelegentlich besucht Veronika andere Religionslehrer in ihrem Unterricht. Begeistert ist sie von den Stunden in der Peter-Petersen-Schule. So also kann auch der Unterricht vonstatten gehen, denkt sie und bittet den Kollegen ihr Bescheid zu sagen, wenn er aus Altersgründen die Schule verlässt. Eines Tages wird sie tatsächlich angerufen: Hast du Interesse an meiner Stelle? Nach einem langen Gespräch mit dem scheidenden Kollegen steht für sie fest, dass sie künftig an der Peter-Petersen-Schule unterrichten möchte. Diese Schule hat ein besonderes pädagogisches Profil: jahrgangsübergreifender Unterricht, Teamarbeit, Projektarbeit, Einbeziehung der Eltern. Manche Interessenten fürchten eine zu große Belastung und nehmen ihre Bewerbung zurück. Der Direktor der Matthias-Claudius-Schule warnt sie, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilt. Aber Veronika, die diese Stelle wirklich bekommt, hat ihren Entschluss bis heute nicht bereut.
Veronika gestaltet den evangelischen Religionsunterricht vielfältig. Man muss bedenken, dass die Kinder nur zwei Stunden Religion in der Woche haben. Auf der Internetseite der Peter-Petersen-Schule hat Veronika den Inhalt ihres Unterrichts dargestellt. Wichtig sind zum Beispiel die „Themen des Lebens“ wie Streit und Versöhnung. Einmal war Ruth Recknagel zu Gast, eine Halbjüdin, die in der nahe gelegenen Emser Straße gewohnt hat. Anschließend konnten die Kinder ihre Eindrücke auf vielfältige Weise bearbeiten, darüber schreiben, ein Bild malen, darüber berichten. Ein Projekt ist die Patenschaft für Stolpersteine. Wenn die Kinder möchten, können sie die Steine putzen, damit sie wieder glänzen und auffallen. Die Peter-Petersen-Schule hat einen Stein vor dem Haus Jonasstraße 66 gestiftet, weil ihr Standort sich in derselben Straße befindet. Dort wohnte Liselotte Ascher, eine Jüdin, die von den Nazis ermordet wurde. Veronika will über die sinnliche Erfahrung mit den Steinen den Kindern die Geschichte nahebringen und bestimmte Fragen vertiefen: Was ist Jude, was ist Christ? Darf ein Staat Menschen umbringen? Wohin führt Gewalt?
Auch schließt der evangelische Religionsunterricht die Beteiligung am schulischen Umwelt-Projekt ein: „Wir halten unseren Kiez sauber“. Zwei- bis dreimal jährlich können die Kinder verantwortungsbewusste „Kehrenbürger“ sein und Straßen und Körnerpark von Schmutz und Abfall befreien. Natürlich gibt es auch eine Zusammenarbeit mit dem katholischen Religionslehrer und den muslimischen Religionslehrerinnen. Einmal im Jahr besuchen alle Schüler gemeinsam die Gotteshäuser der verschiedenen Religionen. Sie besichtigen eine Synagoge, eine Moschee und eine christliche Kirche, entdecken die Unterschiede, stellen Fragen und lernen von ihren Mitschülern, die oft nur wenig wissen, über die jeweils andere Religion. Das übt den anderen zu respektieren. Das Erntedankfest wird ebenfalls gemeinsam gefeiert.
Die Kinder wenden sich oft mit Lebensfragen an Veronika. Manchmal schwingen Vorurteile oder Unkenntnis mit. Veronika steht ihnen Rede und Antwort und muss manche kindlichen Aussagen korrigieren. Darin sieht sie eine wichtige Aufgabe.
Veronika ist jetzt 62 Jahre alt und glücklich darüber, dass sie den letzten Teil ihres beruflichen Weges an der Peter-Petersen-Schule absolvieren kann, wo sie sich angenommen fühlt und miterlebt, wie die Kinder in einer konstruktiven Lernumwelt Fortschritte machen und sich zu freien, solidarischen Menschen entwickeln können.
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