Donnerstag, 5. November 2015

3. Erzählcafé im Körnerkiez

Do, 5. November 2015


Heute werden wohl nicht ganz so viele kommen, einige hatten abgesagt, so dass ich eine kleinere Tischrunde ausprobieren möchte. Dann brauche ich nicht die schweren Holzplatten zu schleppen. Ich stelle vier Couchtische zu einem Quadrat zusammen und umrahme sie mit dem üppigen Ledersofa, dem Sessel und einigen Stühlen. Sieht auch ganz nett aus. Es folgt das zur Routine werdende Kaffeekochen, Geschirr auftragen und Kekse arrangieren.
Wir sind tatsächlich eine kleine Gruppe mit 11 Gästen, eine angenehme Größe für ein Gespräch. Marianne Pyrczek lässt uns zunächst an ihrer Beobachtung des Kiezes und seiner Entwicklung teilhaben, bevor sie über sich berichtet. Zwischendurch gibt es immer wieder Kommentare, die ich manchmal als störend empfinde, weil sie den Redefluss von Marianne Pyrczek unterbrechen. Beim nächsten Mal sollten wir uns mit Zwischenbemerkungen zurückhalten und uns lieber im Anschluss gemeinsam unterhalten. Zum Schluss kehrt noch einmal Ruhe ein, als Christel Lucht eine ihrer kurzen Geschichten vorliest.



Marianne Pyrczek, engagierte Nachbarin

1. Der Körnerkiez im Wandel

Marianne Pyrczek lebt seit ihrer Kindheit - mit einigen Unterbrechungen - im Körnerkiez und dort in ein und demselben Haus. Seitdem beobachtet sie, wie sich der Kiez verändert. Um 1900 kamen viele Arbeitskräfte nach Rixdorf und wohnten meistens beengt in eilig hochgezogenen Mietshäusern, mit Gemeinschaftstoiletten auf halber Treppe und Ofenheizung. So auch Mariannes Vorfahren, die aus Polen kamen. Das Haus von Marianne Pyrczek wurde 1900 erbaut und liegt im östlichen Teil der Jonasstraße, der mit den auffallend geschmackvollen Hausfassaden zu den schönen Ecken des Kiezes zählt. Das benachbarte Gebäude ist das einstige Domizil des Kiesgrubenbesitzers Franz Körner, Urheber des nach ihm benannten kleinen Parks mitten im Quartier. Ursprünglich war das Körnerhaus von einer Kiesgrube umgeben, den Körner in einen großen Garten umwandeln ließ. Ende der 1920er-Jahre verkauften dessen Erben das Gelände an eine Wohnungsbaugesellschaft, die dort Wohnhäuser errichtete. 

Glücklicherweise ist Neukölln im Zweiten Weltkrieg wenig zerstört worden. Die Eigentümer beschädigter Häuser, oft wohlhabende Handwerker oder Gewerbetreibende, konnten Hypotheken aus dem Wiederaufbauprogramm aufnehmen. Mit dem Geld ließen sie häufig den beschädigten Stuck abschlagen und die nun glatten Fassaden mit dem scheußlichen Kratzputz versehen. Da der Wohnraum knapp war, erließ der Senat eine Mietpreisbindung, die den Eigentümern wenig Möglichkeit für eine grundlegende Modernisierung der Gebäude bot. Damals wurden viele Häuser verkauft. 1988 wurde die Mietpreisbindung aufgehoben. Bis zur Wende 1989/90 blieb die Mieterstruktur stabil, dann aber setzte eine riesige Umzugswelle ein. Die Gutverdienenden suchten sich ein Einfamilienhaus im Umland; die Nachziehenden gehörten jedoch zu den unteren sozialen Schichten. Nach Neukölln zog man nur notgedrungen. Neukölln lag in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof, die Bewohner waren eher arm, Teile des Bezirks machten einen vernachlässigten Eindruck. Zogen viele Ausländer in ein Haus, wurde es den Alteingesessenen zu unruhig und sie wechselten die Wohnung. Seitdem Künstler etwa ab 2010 Neukölln entdecken, kommen auch Studenten, die in den großen Altbauwohnungen in Wohngemeinschaften leben. Dadurch steigen jetzt die Mieten, die sich die letzten Alteingesessenen nicht mehr leisten können. Dennoch zeichnen sich auch viele Verbesserungen ab. Neue Galerien und Cafés, aber auch liebevoll hergerichtete Wohnhäuser bereichern das Viertel. 


2. Marianne Pyrczek, ein Leben im Körnerkiez

Marianne und ihr Vater
auf der großen Treppe
zum Körnerpark
Marianne und ihre
Mutter im Körnerpark
1952 zieht Großmutter Pyrczek mit ihrem Sohn von Mitte nach Neukölln. Nahe der Stalinallee (heute Frankfurter Allee) besaßen sie ein Blumengeschäft, das wegen umfangreicher Baumaßnahmen seine Laufkundschaft verlor. In NeukölIn bauen sich die beiden eine neue Existenz auf. In der Hermannstraße eröffnen sie einen neuen, großen Laden mit zwei Schaufenstern und nennen ihn „Blumendienst“. Der Sohn heiratet. Das Paar bekommt zwei Mädchen.

Marianne mit ihrer kleinen
Schwester im Körnerpark
Marianne Pyrczek und ihre Schwester wachsen in der Jonasstraße auf. Marianne besucht den Kindergarten „Kleiner Prinz“ in der Schierker Straße; die erste Klasse absolviert sie in der Peter-Petersen-Schule. Danach wechselt sie auf die evangelische Schule, wo sie 10 Jahre lang eine gute humanistische Ausbildung genießt. Bestimmend in Mariannes Jugend aber ist das Blumengeschäft. Die Arbeit dort hat Vorrang vor allen Vergnügungen und Freundschaften. Im Laden arbeiten die Großmutter, die Eltern und  angestellte Blumenbinderinnen. Nach der Schule helfen die Kinder. Zeit für Schularbeiten findet sich erst am Abend zu Hause. Manchmal geht es danach noch weiter. Das in Kisten bereitstehende Islandmoos muss für die Gestecke vorbereitet und angedrahtet werden. Trotz aller Pflichten ist Marianne eine sehr gute Schülerin. Deshalb wird in der Schule ein Auge zugedrückt, wenn wieder einmal auf dem Entschuldigungszettel zu lesen ist, dass Marianne dem Unterricht fernbleiben muss, weil im Laden so viel zu tun ist. 

Im Kindergarten „Kleiner Prinz“
Eine schwierige Zeit beginnt für Marianne, als sie nach der 10. Klasse das Gymnasium besucht. Dass sie Abitur machen will, hat sie zu Hause durchgesetzt. Ihr Vater hätte es gerne gesehen, wenn sie den Blumenladen übernimmt. Sie könne doch schon alles, betont er. Marianne hat sich für eine Schule in Tiergarten entschieden, die Kunst und Chemie als Leistungskurse anbietet. Die Umstellung ist hart: der weite Weg, das Kurssystem, die angestammten Gymnasiasten. Marianne fühlt sich nicht wohl und bleibt Außenseiterin. Für neue Freundschaften hat sie keine Zeit. 1971 stirbt der Vater und alles wird noch schwerer. Marianne arbeitet weiter im Blumenladen. Aber es zeichnet sich ab, dass Blumen nicht mehr etwas Besonderes bedeuten, sondern zur billigen Massenware werden. Selbst in Supermärkten werden Sträuße angeboten. Der Familie wird klar, dass es so - mit der vielen Arbeit und den schwindenden Einkünften - nicht mehr weitergehen kann. Als sie schließlich noch von ihrer Mitarbeiterin bestohlen wird, steht der Entschluss fest: Der Laden wird verkauft. Zwei Wochen vor der mündlichen Abiturprüfung ist das Geschäft perfekt. Den Laden übernehmen zwei junge Männer. Das Geld wird geteilt, so dass die beiden Schwestern über ein kleines Startkapital verfügen können. Marianne legt ihr Abitur mit mittelmäßigen Noten ab, und ihre Mutter hat noch lange ein schlechtes Gewissen, ihrer Tochter so viel zugemutet zu haben.

Fasching im Nachbarschaftsheim
Marianne hat aber noch nicht genug von Blumen, sie will ihr Wissen festigen und plant den Gesellenbrief abzulegen. Bei „Blumen-Fröhlich“ an der Karl-Marx-Straße bewirbt sie sich, und der Chef lässt sie erst mal ordentlich arbeiten, bis sie schließlich feststellt, dass er längst vorhat sein Geschäft ebenfalls zu verkaufen. Sie kündigt sofort. Wie soll es nun weitergehen? Am liebsten würde sie Zahnmedizin studieren, doch dafür reichen die Abinoten nicht. Sie entscheidet sich für eine Ausbildung als Zahntechnikerin, die ihren handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten entgegenkommt. Die Lehrstelle tritt sie in einem großen Betrieb in Schöneberg an. Im ersten Lehrjahr wird sie Mitglied in der ÖTV, die auch für das Gesundheitswesen zuständig ist, und beginnt mit gewerkschaftlicher Arbeit. Als Jugendvertreterin kümmert sie sich um die Auszubildenden. Später befasst sie sich mit Gesundheitsstudien der Universität Köln und erfährt, dass Zahntechniker, die ständig mit Staub und Asbest in Berührung kommen, mit immensen Gesundheitsschäden rechnen müssen. Marianne nutzt seitdem Maske und Absauganlage bei der Arbeit, und ihre Kollegen machen sich ein wenig lustig darüber. Nach der Lehre nimmt sie eine Stelle bei einem Zahnarzt in Charlottenburg an. Obwohl ihr die Arbeit gefällt, besonders das beglückende Gefühl Menschen wieder zu schönen Zähnen verholfen zu haben, bleibt sie nicht lange. Ihre Gesundheit ist ihr wichtiger.

Marianne liebäugelt mit einem Studium. Da sie in der Gewerkschaft viel mit Juristen zu tun hat, liegt ein Jurastudium nahe. Von der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung erhält sie ein Stipendium. Das Studium, das sie von 1981 bis 1988 absolviert, fällt ihr nicht leicht, denn sie ist das Lernen nicht mehr gewöhnt. Nebenbei beteiligt sie sich an der Ausarbeitung der Studienreform. Die Zeit des 1. Staatsexamens fällt mit der politischen Wende Deutschlands zusammen. Marianne erlebt in Berlin aufregende Momente. Nach dem legendären Fernsehinterview mit Schabowski fährt Marianne mit dem Fahrrad und einem Sixpack Bier an den Grenzübergang Sonnenallee und empfängt begeistert die Menschen aus Ost-Berlin.

Weil sie sich aufgrund der allgemeinen Situation für Juristen wenig Berufschancen ausrechnet, geht Marianne für ein halbes Jahr nach Bochum, um ein Praktikum bei einer Unternehmensberatung zu machen. Doch dann kann sie ein Referendariat beim Berliner Kammergericht durchlaufen und erhält anschließend sofort eine Anstellung im Öffentlichen Dienst, wo sie auch ihre Gewerkschaftsarbeit fortsetzt.

Von dem Mauerfall profitiert Neukölln ganz besonders, findet Marianne. Der Bezirk gerät aus seiner Randlage in ein wunderbares Umfeld mit viel Wasser und Grün. Die Spree ist für die Neuköllner wieder zugänglich. Als begeisterte Fahrradfahrerin erkundet Marianne die neu gewonnene Umgebung. Sie tritt in eine Rudergemeinschaft ein und lernt dort ihren späteren Mann kennen. Er ist Däne. Und weil es viel einfacher ist in Dänemark zu heiraten, richten sie ihre Hochzeit dort aus. Den Brautstrauß aus violetten Orchideen und weißen Rosen bindet Marianne natürlich selbst.

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