Ich eile mich, weil ich rechtzeitig im Leuchtturm sein möchte, um in Ruhe den Tisch aufzubauen und Kaffee zu kochen. Eva Willig hat versprochen den Tisch zu decken. Hoffentlich kommen nicht ganz so viele Gäste wie beim letzten Mal. Es ist intimer, wenn wir eine Tischrunde sind. Man versteht sich besser und kann leichter zuhören.
Das Aufbauen geht fix, ich komme ins Schwitzen. Eva tritt fröhlich herein, schenkt mir ein reizendes Kräutersträußchen und packt mit an. Der Tisch sieht wieder einladend aus, der Kaffee steht bereit. Die Gäste treten nach und nach ein, es sind etwa 20, eine gute Zahl. Die Einleitung der Vorstellungsrunde vergesse ich dummerweise, und Eva Willig beginnt mit ihrem Bericht.
Eva Willig, „Lobbyistin für Arme“
Eva Willig kämpft gegen Armut. Sie beleuchtet Hintergründe, befasst sich mit Hartz IV, der Gesundheits- und Wohnungsversorgung und dem Problem der steigenden Mieten. Auf ihrer Visitenkarte ist zu lesen: „Eva Willig - Lobbyistin für Arme“. Eva Willig wohnt seit 1977 in Neukölln und verleiht all denen ihre Stimme, die sich zu wenig wehren. Wie wird man denn „Lobbyistin für Arme“? In ihrem letzten PR-Kurs habe sie gelernt, dass man „etwas sein muss“, sagt sie ironisch, deshalb wählte sie diese Formulierung.
Eva Willig im Zitronencafé am Körnerpark, 2015
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Eva wird 1948 in Thüringen geboren. Ihre Mutter stammt aus einer kleinstädtischen Handwerkerfamilie. Ihr Großvater, ein begeisterter Radrennfahrer, besaß ein Fahrradgeschäft, das er 1903 eröffnet hatte. Die Großeltern hatten 7 Kinder. Evas Mutter war die Älteste und musste schon früh Verantwortung übernehmen. Diese Verpflichtung überträgt sie später auf Eva, ihr erstgeborenes Kind.
Die Großmutter väterlicherseits brachte nach einem Ostseeurlaub 1907 einen unehelichen Sohn zur Welt, der später Evas Vater wurde. Als Zehnjähriger wurde er vom späteren Ehemann der Großmutter adoptiert. Er lernte den Beruf des Technischen Kaufmanns und konnte Englisch, Französisch und Russisch sprechen. Daneben war er erfolgreicher Gelände-Motorradrennfahrer. Im Krieg diente er anfangs in Frankreich, dann in Russland. Beim Ariernachweis - in der Nazizeit Pflicht - stellte sich heraus, dass er Halbjude war, denn seine Mutter hatte sich an der Ostsee in einen Juden verliebt. Somit war der Krieg 1942 für ihn beendet, denn Juden durften nicht Soldaten sein.
Das Haus der Großeltern
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Zum Ende des Krieges errichtete er in Thüringen eine Vergaserfabrik. Thüringen gehört zur russischen Besatzungszone und ab 1949 zur DDR. Er heiratet Evas Mutter im September 1947, kurz darauf wird Eva geboren. Ein Jahr später kommt der Bruder zur Welt. Um sein Einkommen aufzubessern, handelt er mit West-Reifen und schmuggelt sie in die DDR. Er wird angezeigt und muss wegen Wirtschaftskriminalität ins Gefängnis. Bei den Verhören stellt sich heraus, dass er zahlreiche öffentliche Institutionen der Stadt Gera mit Reifen versorgt hat, auch die Polizei und die Müllabfuhr.
1950 nutzt er einen Hafturlaub, um aus der DDR zu fliehen. Die Familie fährt mit dem Auto nach Berlin (West) und besorgt neue Pässe. Von dort aus geht es mit dem Flugzeug nach Nürnberg. In einem winzigen Dorf finden sie eine Unterkunft, die die Großmutter für sie besorgt hat. Der Vater übernimmt eine Vertretung für eine Motorradfabrik und ist häufig unterwegs. Mit seinem Auto stellt er sich im Dorf gelegentlich als Chauffeur zur Verfügung, denn die Bauern haben nur Traktoren. Der Mutter kommt ihre Qualifikation als Kauffrau zugute, hatte sie doch die Höhere Handelsschule absolviert. Sie ist die einzige im Dorf, die eine Schreibmaschine besitzt und erledigt anfallende Büroarbeiten gegen Brot, Milch, Butter, Wurst und Speck. Eva wächst in dieser ländlichen Gegend auf, darf die Kühe hüten und lernt, was alles im Gemüsegarten blüht und gedeiht.
Die Großeltern |
Das beschauliche Leben endet, als die Familie eine Neubauwohnung in einem Nürnberger Vorort findet. In dem 6-Familienhaus leben Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten zusammen: Fabrikanten, Verkäuferinnen, Neureiche und die Familie Willig. Eva ist jetzt 6 Jahre alt und gerade eingeschult worden. Plötzlich stirbt der Vater. Die Familie verfügt über keine Ersparnisse. Eines Tages steht die Fürsorgerin vor der Tür und will die Kinder mitnehmen, weil sie angeblich nicht ausreichend versorgt seien. Die Mutter lässt die Fürsorgerin nicht in die Wohnung, kämpft um ihre Kinder und kann sie schließlich bei sich behalten. Zu der Zeit lebt die Familie von der Fürsorge, die die Miete übernimmt und monatlich 64 DM auszahlt. Ein Nachbar bietet der Mutter nach geraumer Zeit eine Stelle in seiner Fabrik an. Dort arbeitet die Mutter anfangs 48 Stunden pro Woche und bekommt 1,65 DM Stundenlohn. Aber wohin mit den Kindern? Der Bruder erhält einen Platz in einem Kindergarten. Eva kann die Zeit nach der Schule bei verschiedenen Bekannten verbringen, manchmal kommt auch die Oma zu Besuch.
Eva merkt allmählich, wie schwierig es ist sich in die vorstädtische Gemeinschaft zu integrieren. Die Kinder werden als „Flüchtlingsbankert“ stigmatisiert und stehen auf gleicher Stufe mit dem „blöden“ (behinderten) Fred aus der Nachbarschaft und dem dunkelhäutigen Norbert, dessen Mutter sich mit einem farbigen amerikanischen Soldaten eingelassen hatte. In der Volksschule im Dorf begegnet Eva alten und autoritären Lehrern, die noch die Prügelstrafe als pädagogische Maßnahme einsetzen. In Bayern wird die körperliche Züchtigung erst 1973 verboten. Eva ist intelligent und soll nach der 4. Klasse das Gymnasium besuchen. Aber nicht in Nürnberg, sagt die Mutter, weil sie ihrer Tochter die Großstadt nicht zumuten will. Im alten Universitätsdorf Altdorf findet sich schließlich ein geeignetes privates Gymnasium, für das allerdings Schulgeld gezahlt werden muss. Später wird es verstaatlicht. Der Pfarrer übernimmt die Verpflichtung für das Schulgeld. Weil die Mutter sich wegen ihrer Fabrikarbeit schämt, empfiehlt sie ihrer Tochter, dass sie in der neuen Schule als Beruf der Mutter „Konfektionärin“ angeben soll. Doch gleich in der ersten Stunde sagt der Lehrer ohne sie zu fragen: Deine Mutter arbeitet in der Fabrik, nicht wahr?
Evas Mutter (links) und ihre 5 Geschwister
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Eva besucht das Gymnasium bis zur 10. Klasse. Beim Einjährigen fällt sie durch. Wiederholen kommt für sie nicht in Frage. Sie möchte endlich eigenes Geld verdienen und etwas zum Haushalt beitragen. Eva und ihr Bruder haben jahrelang die abgelegten Kleider ihrer in der DDR gebliebenen Cousinen und Cousins aufgetragen, die sie in gelegentlichen Paketen erhalten haben. Selbst das Konfirmationskleid war gebraucht und wurde nach Evas Figur umgeändert. Wenigstens bekommt sie neue Schuhe - und Strümpfe von Dior! Etwas Besonderes muss sein.
Eva sehnt sich nach neuer, schicker Kleidung und beginnt 1964 eine Ausbildung in Nürnberg als Einzelhandelskaufmann im Bereich der Mode. Fischer + Co., das erste Haus am Platz, stellt sie als Lehrling ein. Für die weiblichen Lehrlinge ist ein grauer Trägerrock vorgeschrieben, den sie mit schwarzen, blauen, weißen oder grauen Blusen kombinieren dürfen. Viel besser als die Kleiderordnung bei C&A, wo nur Schwarz und Weiß zugelassen ist, findet Eva. Sie schnallt den Gürtel so hoch wie möglich. Der Rock soll kurz sein. Zurzeit ist der Minirock in Mode, der von der bekannten Modedesignerin Mary Quant kreiert wurde. In der Ausbildungszeit werden die Lehrlinge auch zum Fahrstuhldienst herangezogen, anfangs zweimal und im dritten Lehrjahr einmal wöchentlich.
Neben der Ausbildung besucht Eva Willig die Abendschule, um die Mittlere Reife nachzuholen. 1967 schließt sie die Lehre als Textileinzelhandelskauffrau mit besonderer Auszeichnung ab und hat gleichzeitig das Einjährige in der Tasche.
Eva und ihre Eltern, 1951 |
Ihre erste Arbeitsstelle ist eine Boutique, die den Söhnen der Eigentümer des Modehauses Wöhrl gehört, und die Nürnberg mit der schicksten Mode aus England versorgt. Das Besondere dieser Arbeit ist, dass die Angestellten als Models auf Popkonzerten auftreten und die neueste Mode vorführen dürfen. Nach einem halben Jahr entscheidet sich Eva für eine weitere Qualifizierung und beginnt ein zweisemestriges Studium an der Textilfachschule in Münchberg/ Oberfranken, das sie als Textilkauffrau abschließt. In Münchberg herrscht ein internationales Studentenleben. Von 300 Studenten kommen 200 aus aller Welt, um von dem vielfältigen Angebot der Fachschule zu profitieren. Eva knüpft viele Freundschaften und lernt exotische Spezialitäten aus fremden Ländern kennen. Nach dem Studium zieht es sie in die große weite Welt – zumindest nach Berlin.
Bei „Madame“ im Europa-Center beginnt Eva als Substitutin. Sie ist für den Einkauf zuständig, muss die Ware berechnen, auszeichnen und sich um die Auszubildenden kümmern. Zu ihrem großen Ärger darf sie nicht mit zu Messen fahren. Schließlich wird sie auch noch in das Provinznest Bielefeld versetzt! Sie kündigt und arbeitet ein Jahr als Telefonistin und am Empfang eines Autozulieferers, um dann noch ein Studium aufzunehmen. Es gibt drei Studienfächer, für die man mit kleiner Matrikel zugelassen werden kann: Ingenieurwesen - dafür fühlt sich sich nicht talentiert genug, BWL – hat zuviel mit dem Beruf der Mutter zu tun, Sozialpädagogik – trifft auf ihr Interesse an der sozialen und politischen Welt. Wie so viele Studenten in dieser Zeit erhofft sich auch Eva künftig gesellschaftsverändernd tätig sein zu können. In Berlin herrscht während der Studentenbewegung ein aufregendes politisches Klima.
1971 beginnt sie ihr Studium bei der evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit und schließt es 1974 als graduierte Sozialpädagogin ab. Während dieser Zeit genießt sie das linke Studentenleben. Sooft sie Zeit hat, hält sie sich im legendären Steve Club auf, wo Liedermacher und Musikgruppen politische Lieder vortragen. Sie befasst sich mit alternativer Heimerziehung („Heim statt Knast“) wie sie von den PH-Professoren C.W. Müller („Wie Helfen zum Beruf wurde“, 1981) und Günter Soukup entwickelt wird und verbringt ihr Anerkennungsjahr in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft, wo sie sich mit schwierigen Jugendlichen auseinandersetzen muss.
Eva im Jahr 1954 |
1976 erhält Eva eine Stelle in der Suchtkrankenstation im Jüdischen Krankenhaus. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Fotografie. Zwei Jahre später stirbt die Mutter und vererbt Eva etwas Geld. Eva kündigt und tut das, worauf ihre Mutter immer verzichten musste: Sie fliegt für fünf Monate in die USA und reist von der Ostküste zur Westküste.
Wieder in Berlin meldet sie sich arbeitslos und hofft, dass ihr das Arbeitsamt nicht einen Job anbietet, den sie partout nicht haben will, wie z. B. eine Arbeit im Knast. Doch sie findet eine neue Anstellung auf der Schulfarm Insel Scharfenberg in Reinickendorf als Betreuerin für die im Internat wohnenden Kinder. Scharfenberg ist eine Insel im Tegeler See. Der Dienst ist von 12 Uhr Mittag bis Mitternacht angesetzt. Nach Dienstschluss fährt sie mit dem Boot zum Ufer und von dort immer entlang der Mauer bis zu ihrer Wohnung nach Neukölln. Als ihr nach drei Jahren der Beamten-Status angeboten wird, lehnt sie ab. Unabhängigkeit ist ihr wichtiger. Ein Jahr später kündigt sie.
Dann lieber selbstständig arbeiten: 1982 pachtet sie eine Gaststätte, macht daraus ein Galerie-Restaurant, was sie aber nach einem halben Jahr wieder aufgeben muss. Es folgt ein Jahr der Erwerbslosigkeit. Eva fällt in eine Depression. Über die Kontakte zu dem besetzten Haus in der Richardstraße 8 in Neukölln lernt sie den Vorsitzenden der Grünen kennen. Sie tritt 1988 in die Partei der Grünen ein und kümmert sich um das Soziale. Nach einer ersten ABM-Stelle im öffentlichen Dienst wird sie Mitglied der ÖTV und versucht dort für die kaum vorhandenen Rechte der ABM-Stelleninhaber einzutreten. Dieser ArbeitsBeschaffungsMaßnahme folgen bis 2005 noch 15 weitere. Zwischendurch ist sie noch zweimal befristet beschäftigt. Von 1989 bis 1991 ist sie für die Grünen in der BVV.
1994 möchte sie es noch einmal wissen und eröffnet einen Modeladen für „Frauen mit und ohne handicaps“. Sie hat gute Ideen, und viele Frauen sind ihr dankbar. Dann wird das Behindertengeld gekürzt, und ihre Kundinnen können sich nicht mehr bei ihr einkleiden. 2002 macht sie sich mit der Arbeitsvermittlungsagentur „Anachronisma“ selbstständig, hat aber zu wenige Jobs, die sie hätte vermitteln können. Trotzdem erhält sie Dankschreiben von Arbeitssuchenden, weil diese sich von ihr gut behandelt fühlen. Ihr letzter Versuch mit der Selbstständigkeit ist der Laden „Alche-Milla“, ein kleines Kaufhaus für die Sinne, das Blumen, Kräuter, Wohnaccessoires und Kunstwerke anbietet. Die Agentur für Arbeit bewilligt einen Lohnzuschuss für eine ältere, arbeitslose Angestellte. Auch dieser Versuch scheitert. Nach einem halben Jahr kündigt das Jobcenter die Unterstützung, obwohl ihm laut Businessplan bekannt ist, dass die Anlaufphase mindestens ein Jahr dauern würde.
Heute ist Eva Willig Kleinstrentnerin und weigert sich die ihr zustehenden 16 Euro aus der ergänzenden „Grundsicherung im Alter“ zu beantragen. Dann hätte sie sich erneut unter Kuratel stellen müssen. Nicht nach 10 Jahren Hartz IV! So bleibt ihr noch genügend Kraft, um gegen soziale Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Sie engagiert sich ehrenamtlich beim „Wohntisch Neukölln“, einem Diskussionsforum für gemeinschaftliche Wohnformen. Sie unterstützt die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen und wehrt sich gegen die Abhängigkeit, in die Hartz-IV-Empfänger geraten. Sie prangert an, dass in der Gesundheitsversorgung die Wohlhabenden wesentlich besser gestellt sind und eine längere Lebenserwartung haben. Gelegentlich veranstaltet sie Kräuterspaziergänge durch Neukölln und anderswo. Sie weist auf heilende, giftige und essbare Pflanzen hin. Sie spielt Theater, schreibt und macht in ihren Texten die Armut zum Thema (www.evasgeschichten.de). Dabei verliert sie nie ihren Humor. Manchmal ist es Galgenhumor.
Eva Willig beim Kräuterspaziergang, 2015
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