Donnerstag, 8. Oktober 2015

Start des 1. Erzählcafés im Körnerkiez


Donnerstag, der 8.10.2015


Ich gebe es zu: Ich bin ein wenig nervös. Wie viele Menschen werden heute das Erzählcafé besuchen? Werden auch einige von denen dabei sein, die die Stadtführungen mitgemacht haben? Ich habe gehört, dass das Interesse an der heutigen „Berichterstatterin“ groß ist. Ruth Weber, ehemalige Schulleiterin der Peter-Petersen-Schule, arbeitet heute noch in verschiedenen Gremien mit und ist allgemein bekannt und beliebt. Wahrscheinlich werden auch einige Lehrer und Lehrerinnen beim Erzählcafé erscheinen. 

Ich baue den Tisch auf im großen, an der Emser Straße gelegenen Raum des Neuköllner Leuchtturms. Frau Bloch-Thieß, die Eigentümerin des Hauses, zeigte mir, wo ich die Böcke und Tischplatten, die Tischdecken und das Geschirr mit der Kaffeemaschine finden kann. Ich freue mich über die gute Organisation. Alles funktioniert und ist liebevoll eingerichtet. Nun ist der Tisch so schön wie möglich gedeckt, die Kekse auf Tellern dekoriert, der Kaffee gekocht. Die Gäste können kommen....

Und sie strömen. Ich bekomme einen kleinen Schreck, mit so vielen habe ich nicht zu rechnen gewagt. Es sind fast 30. Hoffentlich sind alle diszipliniert und hören ruhig zu. Wir müssen weitere Reihen vor dem Tisch aufbauen. Endlich sitzen alle. Jeder in der Runde stellt sich kurz vor. Dann beginnt Ruth Weber zu erzählen.




















Ruth Weber, ehemalige Schulleiterin der Peter-Petersen-Schule

Ruth Weber ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen und hat auch dort ihren Beruf ausgeübt. Dabei spielte die 12. Grundschule, die in der Nachkriegszeit den Namen Peter-Petersen-Schule erhielt, eine entscheidende Rolle. Als Kind besuchte Ruth Weber diese Schule, und als junge „Lehrerin zur Anstellung“ fing sie dort wieder an, wurde Schulleiterin und blieb bis zu ihrer Pensionierung. Insgesamt verbrachte sie 42 Jahre an ein und derselben Schule. Wie langweilig, könnte man denken, aber Ruth Weber beweist das Gegenteil. Sie und ihre Lehrerkollegen krempelten im Lauf der Jahre den Schulunterricht völlig um und machten aus der Peter-Petersen-Schule eine „Schule besonderer pädagogischer Prägung“.

Ruth Weber wurde mitten im Krieg 1942 in der Charité geboren. Ihr Vater, ein Arzt, war zu dieser Zeit Soldat. Die Mutter verließ mit dem Baby und dem älteren Bruder die von Bomben bedrohte Stadt und zog nach Crimmitschau in Sachsen. Dort wurde eine Schwester geboren. Am 25.Juni 1946 kehrte die Familie wieder zurück nach Berlin. Ruth Webers Vater, Dr. Wolfgang Mehling, eröffnete in einer großen Wohnung in der Hasenheide, in der die Großeltern lebten, eine Arztpraxis. Die Familie wurde zur Untermiete in eine Zweizimmerwohnung eingewiesen, die bereits von einer Frau bewohnt wurde. Somit stand dem Ehepaar und ihren drei kleinen Kindern lediglich ein Zimmer zu; ein Bad gab es nicht, die Haare wurden in der Küche gewaschen. Daran kann sich Ruth noch erinnern, auch dass die kleine Schwester ständig schrie und ein weiterer Bruder geboren wurde. Bald darauf war die Mutter wieder schwanger.
Ruth mit den Eltern und ihrem älteren Bruder, 1942
Die gläubigen Eltern waren davon überzeugt, dass es für jedes Kind einen Platz geben würde. Dennoch brauchten sie eine größere Wohnung, die sie 1949 in der Leykestraße fanden: 3 ½ Zimmer auf 110 Quadratmetern. Es war die größte Wohnung im Haus, die die Familie aufgrund freundschaftlicher Beziehungen innerhalb der Kirchengemeinde bekam. Drei weitere Kinder kamen auf die Welt. Nun wohnten acht Kinder und zwei Erwachsene in dieser Wohnung. Mit dem Hausmädchen, ohne das die anfallende Hausarbeit gar nicht zu schaffen war, waren es schließlich 11 Personen. Immer wieder wurden die Kinder in der Schule gefragt, wie viele sie denn nun zu Hause seien, und als sie im Englischunterricht die Geschichten mit den “guinea-pigs“ durchnahmen, die sich bekanntlich schnell vermehren, sagten ihre Mitschüler: „Wie bei euch zu Hause“.
Die komplette Familie Mehling mit 8 Kindern

Ruth (links) mit Mutter und 5 Geschwistern

1948 wurden Ruth und ihr Bruder in die Grundschule Weserstraße eingeschult. Nach dem Umzug in die Leykestraße besuchten die beiden die 12. Grundschule. Aufgrund des Raummangels nach dem Krieg fand der Unterricht in verschiedenen Gebäuden statt. Die Schüler mussten ständig umherziehen. Die 12. Grundschule war beispielsweise in der Lessingstraße (heute Morusstraße) angesiedelt; die 2. Klassen wurden in der Kopfstraße unterrichtet. Alle Schüler mussten dann in die Briesestraße umziehen. Ruth und ihr Bruder teilten sich einen Klassenraum mit 54 Schülern. Manche Lehrer waren streng und ungerecht. Ruth erinnert sich an Herrn Brühmeier, der Kinder bestrafte, indem er ihre Köpfe zwischen die Knie nahm und sie dann verprügelte. Einmal wurde sie von ihm geohrfeigt, weil sie ihren Bruder, der wegen einer Behinderung schlecht laufen konnte, aus einem anderen Schulgebäude abholen wollte. Sie fühlte sich doch für den Bruder verantwortlich! Obwohl Prügelstrafen in der Schule seit 1945 abgeschafft waren, kamen sie noch vor. 1959 konnte die 12. Grundschule in ihr Stammgebäude in die Jonasstraße zurückziehen und erhielt den Namen des Reformpädagogen Peter Petersen. 
Einschulung 1948. Ruth steht in der Mitte der letzten Reihe
Schülerin der 3. Klasse
Ruth besuchte zu diesem Zeitpunkt längst das Albrecht-Dürer-Gymnasium - mit 49 Schülern in einer Klasse – und machte dort 1961 ihr Abitur. An der Universität studieren wollte sie nicht, das hätte zu viel Geld gekostet. Deshalb dachte sie an eine Ausbildung als Beschäftigungstherapeutin, doch es war kein Ausbildungsplatz frei. Ruth hatte einen Freund. Das gefiel dem Vater nicht (sie hätte ihn nach seiner Meinung heiraten müssen), so dass er seiner Tochter den Vorschlag machte, für längere Zeit nach England zu gehen. Sie folgte und verbrachte ein Jahr in England, lernte die Sprache und begegnete verschiedenen Lehrerinnen. Von ihren Klassenkameradinnen studierten einige an der Berliner Pädagogischen Hochschule, und diese brachten sie auf die Idee ebenfalls das Studium dort aufzunehmen. Die Vorteile: Das Studium war kurz, dauerte nur dreieinhalb Jahre und kostete nichts. Damals herrschte in Berlin Lehrermangel, und für das Studium wurde auf diese Weise geworben. 

Ruth in der 6. Klasse, 1953
Bereits im 4. Semester absolvierte Ruth Weber Praktika an verschiedenen Neuköllner Schulen. Aus heutiger Sicht großes Glück hatte sie als „Lehrerin zur Anstellung“: Der damalige Schulrat kannte sie, weil er einmal Lehrer am Albrecht-Dürer-Gymnasium gewesen war, und schickte sie an die Peter-Petersen-Schule, wo sie ihre alten Lehrerinnen aus der 12. Grundschule wiedertraf, nun als Kolleginnen. Ruth Weber wurde sehr freundlich aufgenommen, dennoch hat man ihr, der 23jährigen Anfängerin, die schwierigen, äußerst lebendigen Klassen, voll besetzt mit 35 bis 40 Kindern, zugeschoben: 6. Klasse: Sport, 4. Klasse: Schönschreiben, 3. Klasse: Kunst, Förderkurs: Englisch, 6. Klasse: Klassenleitung und Führung zur Oberschule, Erdkunde und Deutsch. Es war heftig, meint sie noch heute, und nach 14 Tagen war sie davon überzeugt, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Allerdings gab es einen mitfühlenden Schulleiter, der zu ihr sagte: „Fräulein Mehling lassen Sie sich und der Klasse ein halbes Jahr Zeit.“ Die ersten Jahre an der Schule waren nicht einfach, man arbeitete mit Druck und Strafen; unliebsame Schüler wurden schnell an andere Schulen geschickt ohne den Hintergrund der Probleme zu erforschen.
Die erste Unterricht an der Petersen-Schule: eine 6. Klasse, 1965 (R.W.:letzte Reihe, 3. von links)

1967 legte Ruth Weber das 2. Staatexamen ab. Ein Jahr später wählte das Kollegium die 27Jährige zur stellvertretenden Schulleiterin. Seit 1981 oblag ihr die Schulleitung, die sie bis zum Ruhestand 2007 innehatte.

Ende der 1960er-Jahre herrschten in der Lehrerschaft ein großer Altersunterschied und damit unterschiedliche pädagogische Auffassungen vor. Viele Ältere standen kurz vor der Pensionierung und bestanden auf ihrem scheinbar bewährten Unterrichtsstil. Die jungen Lehrer und Lehrerinnen hatten eine moderne Ausbildung genossen und wollten vieles anders machen. Es gab aber im Kollegium keine Gespräche darüber. Einmal stand eine ältere Kollegin weinend im Flur, weil sie mit den Schülern nicht mehr zurechtkam. Diesmal reagierten die Kollegen anders, sie eröffneten unter Billigung des Schulleiters das gemeinsame Gespräch in solidarischer Atmosphäre über persönliche Schwierigkeiten in der Schule. Das war ein einschneidendes Erlebnis, denn normalerweise wäre der Lehrerin eiskalt Unfähigkeit bescheinigt worden. 

Bei manchen Lehrern hatte sich ein gewisser Schlendrian breit gemacht, den die Jüngeren, allen voran Ruth Weber, nicht länger tolerieren wollten. Zum Beispiel die Besuche beim Schulzahnarzt, die einen Grund boten, die Schüler anschließend nach Hause zu schicken. Ruth Weber mahnte, dies nicht mehr zu tun und lieber etwas Gemeinsames zu unternehmen, zum Beispiel noch eine Stunde auf dem Spielplatz zu verbringen. Eines Tages erfuhr sie, dass ihrer Vorgabe nicht Folge geleistet wurde, und bat die betreffende Lehrerin zu einem Gespräch in ihr Büro. Das war für beide Seiten eine schwierige Situation, aber es wurde Klarheit geschaffen. Ähnlich wurde das Thema „Hitzefrei“ behandelt. Waren gerade 25 Grad erreicht, wollten die engagierten, verantwortungsvollen Lehrer kein Hitzefrei haben, sondern mit den Schülern arbeiten. Das aber musste mühsam durchgesetzt werden.

Die jüngeren Kollegen haben sich dann freiwillig zusammengesetzt und darüber nachgedacht, was sie als Lehrpersonen erreichen und an der Schule verändern wollen. Sie sahen vieles anders, als es in der Schule gehandhabt wurde, und erarbeiteten neue Vorschläge. Sie erkannten, dass ein Teil der Kinder unterfordert, ein weiterer Teil aber auch überfordert war und zielten auf eine stärkere individuelle Förderung. Der Schulleiter ließ ihnen die Freiheit und schottete sie zur Schulverwaltung hin ab. Gleichzeitig besannen sich die Lehrer auf den Namenspatron Peter-Petersen und studierten die Ideen des Schulreformers. 

Peter Petersen (1884-1952) begründete in den 1920er-Jahren als Hochschullehrer für Erziehungswissenschaften an der Universität Jena die „Jena-Plan-Pädagogik“. Ihr Ziel ist die kindgerechte Lebensgemeinschaftsschule, in der neben dem Erwerben des Wissens auch das soziale Zusammenleben eingeübt wird. Die Grundlagen des Unterrichts bilden die Grundformen des Zusammenlebens: Gespräch-Arbeit-Spiel-Feier, ebenso wie das Lernen in altersgemischten Gruppen, Fächer übergreifender Unterricht, individuelle Lernwege und Weltorientierung der Schule. Für Ruth Weber waren diese Prinzipien nicht neu, konnte sie doch auf ihre Erfahrungen in einer kinderreichen Familie zurückgreifen.

1983 begannen die Lehrer mit verschiedenen Aktionen zur Umweltgestaltung. Sie befreiten die Hasenheide vom Müll, veranstalteten eine Friedenswoche und gestalteten die Schulflure. Für jede Aktion mussten Pläne eingereicht und die positiven Bescheide abgewartet werden. Es war Ruth Webers Aufgabe als Schulleiterin diese Aktionen beim Schulamt durchzusetzen. Für das Putzen der Hasenheide gab es viel Applaus, aber die Friedensaktion war streng verboten. Wieso sollte die Schule sich nicht für den Frieden einsetzen? Auf die eingereichten Pläne gab es keine Antwort vom Schulamt. Die Friedenswoche fand trotzdem statt. Erst nach zwei Jahren, im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Veröffentlichung, erfuhr die Schulleiterin, dass der Schulrat absichtlich nicht geantwortet hatte. Er bat sie nichts über die Friedensaktion zu publizieren, es könnte Probleme geben. Sie akzeptierte seinen Wunsch.

1984 führte die Schule anlässlich des 100. Geburtstages von Peter Petersen eine Projektwoche durch, welche als den Beginn der Umsetzung seiner Pädagogik zu sehen ist. Zunächst konzentrierte sich die Schule weiterhin auf die Umwelterziehung und gestaltete mit der benachbarten Konrad-Agahd-Schule und unter Einbeziehung der Eltern den gemeinsamen Schulhof zu einer grünen Frei- und Spielfläche um. Es war ein siebenjähriger Prozess, der auch in die unterschiedlichen Unterrichtsfächer einfloss, wiederum orientiert an den verschiedenen Leistungsniveaus der Kinder.

Ruth Weber an ihrem letzten Arbeitstag in ihrem Büro, 2007
1994 begann die Schule gemäß dem Jena-Plan altersgemischte Lerngruppen einzurichten, die drei Klassenstufen umfassen. Seit 2000/2001 lernen alle 340 Schüler in altersgemischten Stammgruppen.

Es brauchte also 10 Jahre, um die Peter-Petersen-Schule grundlegend zu verändern. Einen großen Anteil daran hatte Ruth Weber, die jede Projektwoche, jede Veränderung bei der Schulverwaltung aber auch gegenüber den Eltern durchsetzen musste. Natürlich wäre das ohne das engagierte Lehrerkollegium nicht gelaufen, betont sie. Andererseits war es wichtig, klare Regeln einzuführen und Verstöße nicht zu akzeptieren. Klassenfahrten und Schwimmen beispielsweise gehören zum Unterricht, da werden keine Ausnahmen gemacht. Allerdings hat man ein offenes Ohr für manche Ängste der Eltern und versucht gemeinsam Lösungen zu finden. Nach der grundlegenden Umstellung der Schule haben sich fünf Lehrer an andere Schulen versetzen lassen. Neue und bewegliche Lehrer aus dem früheren Ost-Berlin kamen hinzu, weil dort Personal abgebaut werden musste: ein Gewinn für die Peter-Petersen-Schule, der 2002 der Status „Schule besonderer pädagogischer Prägung“ verliehen wurde. Darüber hinaus wurde sie „unesco-Projektschule“, in der internationale Verständigung, Nachhaltigkeit und interkulturelles Lernen im Mittelpunkt stehen.

Rosen zum Abschied, 2007




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