Freitag, 28. April 2017

31. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag, 20. April 2017

Günter Meyer
Von der Eifel bis Berlin – Stationen meines Lebens

1. Langenhagen

Geboren bin ich im Februar 1940 in einer kleinen Eisenbahner-Siedlung in einem Gleisdreieck in Hannover-Langenhagen. Meine Eltern waren zwei Jahre vorher mit zwei Söhnen und einer Tochter aus einem kleinen Eifeldorf hierhergezogen. Mein Vater hatte hier eine Arbeit bei der Eisenbahn gefunden.

Einer der Mieter hatte Gänse, die frei rumliefen. Als Dreijähriger machte ich öfter Bekanntschaft mit ihnen: wenn sie mich sahen, wollten sie mich sofort zischend verfolgen. Glücklicherweise haben sie mich nie beißen können, weil ich schnell genug weg gerannt bin. Ein anderes Mal wollte ein erwachsener Mann mir Angst machen. Er nahm mich und hielt mich über einen tiefen, offenen Brunnen und sagte: „Ich lass dich da rein fallen!“ Meine Mutter stand dabei. Leider war sie wohl überrumpelt und nicht selbstbewusst genug, um einzuschreiten.

Andere Erinnerungen haben mit dem Krieg zu tun. Um uns vor Bombenangriffen zu schützen, gingen die Bewohner unseres Hauses in den Keller, später in eine Aushöhlung in den nahen Bahndamm. Irgendwann mussten wir ins Zentrum Langenhagens gehen, zu einem großen Bunker mit sehr dicken Betonwänden. Manchmal schafften wir es nicht, weil meine Mutter mit ihren vier Kindern nicht zeitig genug los gekommen war. Dann gingen wir auf dem Weg in eine Fabrik mit einem Behelfsbunker für Zwangsarbeiter. Hier musste man über Bohlen laufen, weil alles unter Wasser stand. Ob es Gespräche zwischen den Zwangsarbeitern und Deutschen gegeben hat, kann ich mich nicht erinnern. Immer waren wir dort nachts, alle wollten wohl schlafen.

Die kleinen Kinder haben im Bunker auf dem Schoß ihrer Mütter gesessen. Die größeren Kinder haben mit einander gespielt: die Mädchen mit dem Fadenspiel, Jungens halfen im Bunker mit, Sauerstoff mit Kurbeln in die Räume zu pumpen. Einmal saß ein dicker Mann am Ende unserer Bank. Auf ein Zeichen standen alle auf und der Mann fiel auf den Boden. Alle freuten sich darüber.

Kurz vor Kriegsende gab es ständig Bombenangriffe, so dass wir tagelang im Bunker bleiben mussten. Zwei ältere Geschwisterkinder aus dem Gleisdreieck haben so lange auf ihre Mutter eingeredet, bis sie sie gehen ließ, um Spielsachen zu holen. Als sie im Haus waren, gab es einen Bombenangriff. Das Haus, indem sie wohnten, wurde total zerstört, die anderen nur zum Teil. Unser Haus so, dass niemand mehr hinein gehen konnte, nicht mal um Anziehsachen zu holen. Am folgenden Vormittag haben wir uns das Unglück angesehen. Da lagen die beiden Kinder in Teppiche gerollt am Rande der Trümmer.

Wir schliefen einige Nächte bei Verwandten von bisherigen Nachbarn. Schon nach wenigen Tagen war uns das Schlafzimmer einer Familie in einer Zwei-Zimmerwohnung zugewiesen worden. Hier schliefen wir zu fünft im Ehebett. Meine Mutter hat im Juli vom Wohnungsamt eine Wohnung zugewiesen bekommen. Sie lag im Zentrum von Langenhagen. Unsere Verwandten in Röhl erfuhren gleich nach dem Krieg über mehrere Ecken, wie es uns in den letzten Kriegswochen ergangen war: “Ausgebombt, aber noch alle am Leben“.

In den letzten Kriegstagen hatte mein ältester Bruder gehört, dass im Mittellandkanal ein Versorgungsschiff mit Lebensmittel geplündert wurde. Er kam mit einem großen Karton mit Traubenzucker (Dextropur, die kleine Packung war ebenso eingepackt wie heute) nach Hause. Das war eine große Hilfe. Wir hatten Zucker und wir hatten etwas zum Tauschen.

Auch nach dem Krieg hatten wir großes Glück. Viele Kinder verunglückten, weil sie mit Munition spielten und in Ruinen nach Essbarem und Tauschbarem suchten. Mein ältester Bruder hatte aus Sprengstoff von Patronen Knallfrösche machen wollen. Dabei hat er sich an Händen und Armen verbrannt. Sonst gab es bei uns keine Unfälle.

Unser Vater kam schon im August 1945 aus englischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Da hatten wir schon unsere Dreizimmer-Dachwohnung. Im Jungen-Zimmer konnte man durch die Decke den Himmel sehen. Das hat mein Vater gleich repariert. Überhaupt gab es kaum Arbeiten, die er sich nicht zutraute und er konnte organisieren, dazu gehörte in Maßen auch zu stehlen. Im Gleisdreieck hatten wir einen großen Garten. Dort wurden Hühner gehalten. Eine Anlage um Schnaps zu brennen, hatte mein Vater gebaut. Der Schnaps wurde vor allem an die englischen Besatzungssoldaten verkauft. Ende 1945 wurde der Flughafen in Langenhagen parzelliert. Mein Vater hatte da zwei Morgen Land gepachtet, um Getreide und Kartoffeln anzubauen. Nach der Währungsreform 1948 suchte er mit meinen älteren Brüdern Altmetall. Einmal fanden sie unter der Erde an einem Wegrand das Wrack eines im Krieg abgestürzten Flugzeugs. Das waren mehr als 1000 kg Aluminium für 2,30 DM/kg. Das alles machte mein Vater neben seiner Arbeit als Eisenbahner auf einem Stellwerk.

Im September 1946 gebar meine Mutter noch eine Tochter. Ich war gerne jüngstes Kind: von allen Hilfe zu bekommen, beschützt zu werden, im Mittelpunkt zu stehen. Diese Rolle ging an die jüngere Schwester. Vorher, als mein Vater wieder da war, hatte ich schon den besonderen Platz neben meiner Mutter, verloren. Beides machte mir psychische Probleme.

Weihnachten in meiner Kindheit: Den ganzen Dezember über sangen wir erst Nikolauslieder, dann Weihnachtslieder. Selbst in dieser Zeit machte unsere Mutter für uns Kekse und Süßigkeiten. Weihnachten 1945 gab es Marzipan aus Weizengrieß und Margarine. Puderzucker wurde aus dem Traubenzucker gemacht. Künstliches Aroma gab es sogar in dieser Zeit zu kaufen. Für einfache Mürbeteig-Kekse wurde Melasse verwendet, die uns ein Onkel besorgte, der in englischer Kriegsgefangenschaft in einer Zuckerfabrik bei Hannover arbeitete.

Ich erinnere mich an ein besonderes Reinemachen der Wohnung vor Weihnachten. Meine Mutter hatte dabei fünf Kinder „anzuleiten“, was ihr in aller Regel auch gut gelang. Wir Kinder waren in einer merkwürdigen Stimmung, so als ob wir uns verschworen gehabt hätten, unsere Mutter bei der Arbeit zu boykottieren. Alles, was sie uns sagte, machten wir nur sehr widerwillig. Zwei von uns stritten sich, mein Bruder schubste meine Schwester. Sie fiel gegen den Küchenschrank und brach dabei ein vorstehendes Teil von einer Schublade ab. Der Donner, der darauf erfolgte, reichte noch nicht aus. Erst als mein anderer Bruder anfing mit einem Ball zu spielen und der Ball  in den Eimer mit dem Aufwischwasser fiel und schmutziges Wasser auf die schon gewischten Dielen spritzte und meine Mutter ihm den Eimer mit dem Aufwischwasser über den Kopf gestülpt hatte, kamen wir zur Besinnung. Ich weiß nicht mehr, ob wir uns getraut haben zu lachen. Jedenfalls von da an flutschte die Arbeit.

Heiligabend war wie ein normaler Samstag: Nachmittags hatte jedes Familienmitglied eine gewisse Zeit, sich in der Küche im Stehen an einer Schüssel mit warmem Wasser von oben bis unten zu waschen. Zum gemeinsamen Kirchgang und zur Bescherung zogen wir unsere Sonntagssachen an. Das waren in den ersten Jahren nach dem Krieg für jeden eine Jacke und eine Hose aus dickem, sperrigem Zeltleinen. Die englischen Militärzelte dafür hatte mein Vater organisiert/geklaut und eine Schneiderin, die zu den Leuten nach Hause kam, hatte sie genäht. Weit konnten wir in dieser Kleidung nicht gehen, sonst wurden wir wund zwischen den Oberschenkeln.

Im Jahr nach der Währungsreform bekam jedes Kind auch einen großen Weihnachtsmann aus Schokolade, eingepackt in Stanniol. Jeder aß seinen Weihnachtsmann gleich. Wohl auch, um nichts abgeben zu müssen. Meine ältere Schwester dagegen hob sich den Weihnachtsmann noch wochenlang auf. Irgendwann bereitete sie alles vor, um aus dem Verspeisen des Weihnachtsmannes ein kleines Fest zu machen. Nur, als sie zur Tat schritt, war er ganz leicht geworden, weil fast nur noch Stanniol übrig geblieben war. Die Schokolade hatte mein zweitältester Bruder und ich nach und nach kunstvoll, ohne das Stanniol zu verletzen rausgebrochen. Auf das dann folgende Drama hatten wir uns schon die ganze Zeit eingestellt. Wir gaben ihr die Schuld, weil sie uns in Versuchung geführt hatte.

Als 12jähriger war ich Zeuge eines schweren Unfalls. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zu einem Freund und fuhr bei einem Nachbarn vorbei. Er war den Vormittag über mit seinem neuen Motorrad beschäftigt, hatte es auseinander genommen, gereinigt und geölt und dann ohne große Mühe wieder zusammengesetzt. Kein Teil war übrig geblieben! Er war sehr zufrieden mit sich. Zum Abschluss wollte er eine Probefahrt machen. Ich fuhr weiter. Er hat mich dann auf seinem Motorrad überholt, nur mit einer Badehose bekleidet. Ich hätte es hören müssen, dann am Unfallort, grauenvoll: Sein linkes Bein war am Rumpf abgerissen und lag auf einer Seite der Straße, das Motorrad auf der anderen Seite. Daneben lag er in einer Blutlache.

Wie konnte das an dieser vollkommen übersichtlichen Kreuzung passiert sein? Von links kam der am Unfall beteiligte Volkswagen. Der Nachbar fuhr schneller, um noch vor dem Volkswagen über die Kreuzung zu kommen. Der Autofahrer aber auch! Also der Nachbar wohl noch schneller. Und dann hat es gekracht. Wie er da lag, schien ihn eine große Gelassenheit ergriffen zu haben, wohl wegen der Unausweichlichkeit seines Todes. Er schrie nicht, weinte nicht. Obwohl wach, kam kein Ton aus ihm. Leute kamen, einer hielt seinen Kopf im Schoß und mehrere versuchten seine Blutgefäße am Rumpf zusammen zu drücken. Das gelang aber immer nur kurz, dann rutschten sie aus den Fingern. Als der Rettungswagen kam, war er schon tot.

Als meine Geschwister mit einer Lehre begonnen hatten, übernahm ich ihre Aufgaben in der Familie als Einkäufer und zusammen mit meinem Vater die Betreuung eines Schafes und einer Ziege, die wir auf dem Hof im Schuppen hielten. In meiner Erinnerung habe ich das gerne gemacht. Ich musste nicht immer wieder dazu angehalten werden.

Nach acht Jahren Volksschule begann ich eine Buchdruckerlehre. Die Druckerei war auf dem Hof des großen Mietshauses, in dem wir wohnten. Die ersten Monate waren wie eine Initiation. Danach war ich neu ausgerichtet, war ein Sozialist geworden und wurde Mitglied der IG Druck und Papier. Meine Eltern und Geschwister wunderten sich darüber, dass ich für so was Geld ausgebe.
2. Röhl

Unsere Vorfahren stammen aus der Südeifel, aus kleinen Dörfern des Bitburger Landes. Die beiden Großeltern und die meisten Onkel und Tanten wohnten in Röhl.  Sie waren kleine Bauern und Handwerker.

Da unser Vater Eisenbahner war, bekamen wir zwei Freifahrtscheine im Jahr. Damit fuhren wir zweimal im Jahr von Hannover in die Eifel.  Im Krieg  waren wir 1 1/2 Jahre dort. Als wir 1944 auf der Rückfahrt durch einen größeren  Bahnhof  fuhren, hörten wir Bombenalarm. Der Bahnhof war menschenleer. Wir fuhren wie in einem Geisterzug langsam ohne Anhalten durch den Bahnhof

Im Sommer 1947 fuhr die Familie zum ersten Mal nach dem  Krieg wieder zusammen nach Röhl. Unser Vater blieb zu Hause. Er musste sich um unsern Garten, die Hühner und das Land auf dem Flughafen  kümmern. Er hatte uns vorher in den nach Köln bereitgestellten Zug eingeschleust. Die Züge waren unvorstellbar voll, nicht nur innen, sondern  auch außerhalb der Züge standen und saßen Leute: auf den Dächern, den Prellböcken, den Trittbrettern. Über den Rhein sind wir in einem offenen Boot gefahren. Zwischendurch war die Strecke nur noch einmal zerbombt. Wir mussten ein längeres Stück mit einem LKW fahren.

Im nächsten Sommer  war die ganze Strecke schon wieder befahrbar. In Köln gingen wir in den Wartesaal. Die Währungsreform hatte schon stattgefunden. Deshalb gab es wieder alles. Wir Kinder hatten von  Coca Cola gehört und wollten sie probieren. Unser Vater bestellte eine normale kleine Flasche für alle. Einer von uns  trank davon und fand,  dass der   Inhalt verdorben sei. Wir  andern probierten auch,  schlossen uns dieser Meinung an. Unser Vater musste sich widerstrebend beim Kellner beschweren. Der hielt uns für verrückt, "so schmeckt das", sagte er und schüttelte den Kopf. Vielleicht hat  dieses Erlebnis bewirkt, dass ich Coca Cola  bis heute  mit etwas Verdorbenem  verbinde.

In Röhl war das in den 50er Jahren so: Zu fast jedem Haushalt  gehörte ein landwirtschaftlicher Betrieb und  oft ein Handwerker, der vor Ort arbeitete oder im Sommer ins Ruhrgebiet oder nach Luxemburg  zum Arbeiten ging. 100 Wohnhäuser standen in Röhl und 600 Einwohner  lebten hier. Das Dorf war wie ein Organismus. Alle konnten von ihrer Arbeit leben. Man hätte viele Arbeiten auch selber machen können. Das tat man aber nicht, sondern beschäftigte den Handwerker.

Es gab Brennereien/Keltereien , um Schnaps und um Apfelwein und Apfelsaft herzustellen.
Friseure, die in die Wohnungen der Leute kamen,
Milchkontrolleur,  als Nebenjob,
Schlagmeister für den Wald, der half dem Förster, plante das Fällen von Bäumen und das Auspflanzen kleiner Bäume,
Schmiede, für das Beschlagen der Pferde, Ochsen und Kühe mit Hufeisen
Schneider, die von Hand genäht haben,
Stellmacher, die haben die bäuerlichen Wagen gebaut und repariert,
Küfer, die Holzfässer hergestellt haben,
Es gab vier sehr kleine  Einzelhandelsgeschäfte. In einem von ihnen hat ein Mann verkauft, der war ganz dick und unbeweglich. Der ging nicht hinter seiner Theke weg. Seine Toilette war auch da. Da drin war es so schwarz, wie in einem Schornstein. Petroleum, Lebensmittel, alles hat er mit seinen dreckigen Fingern angefasst.
In andern Läden musste man erst nach jemandem suchen, der einem was verkaufen konnte. Wir Kinder  waren damals sehr zurückhaltend und schüchtern. Meistens warteten wir bis jemand von sich aus  kam. Das konnte lange dauern.
Am Rande des Dorfes gab es  mehrere  Steinbrüche. Aus den Natursteinen wurden Gebäude und Straßen gebaut und man brauchte sie,  um den  Kalkofen zu betreiben. Beides war für uns Kinder total interessant. Der Kalkofen basierte auf  einer Jahrtausende alten Technik. Man baute ihn dort, wo es einen Felssprung gab.  Da hinein baute man ihn, ca. 5m hoch und mit einem Durchmesser von 2m. Im Kalkofen wurde drei Tage lang ein Holzfeuer in Gang gehalten. Dann war aus den Steinen ungelöschter Kalk geworden. Um ihn als Mörtel zu verwenden, musste er mit Wasser zusammen gebracht werden.
Dann gab es noch  Gaststätten, Elektriker, Hausschlachter, Hebamme, Installateur, Maler,
Maurer, Schlosser, Schreiner, Zimmermann, Schuhmacher.

Viele Arbeiten fanden auf der Straße statt  (zum Beispiel der Stellmacher hätte einen sehr großen Arbeitsraum gebraucht) oder in Gebäuden, die  für alle zugänglich waren (zum Beispiel in die Brennereien konnte man hineingehen, um sich Schnaps zu kaufen, aber auch nur wie ich, um zuzusehen).

Sozial differenzierte sich das Dorf in Bauern, Handwerker, die in der Regel auch eine kleine Landwirtschaft hatten und in arme Leute ohne Land. Da es noch keine Traktoren gab, war die soziale Schichtung orientiert an den Tieren, die man vor den Wagen und das landwirtschaftliche Gerät spannte. So gab es Pferdebauern, das waren die wenigen großen Bauern, die Ochsenbauern, die  Kuhbauern und Leute, die nur ein paar Ziegen hatten, die sie an Wegränder zum Fressen führten.

Es gab keine zentrale Trinkwasserversorgung, an die jedes Haus angeschlossen gewesen wäre. Stattdessen gab es im Dorf mehrere Stellen, wo kontinuierlich Wasser in große Sandsteintröge  floss. Von hier holte man sich Wasser für den Haushalt,  die Frauen kamen, um Wäsche zu Waschen und man kam mit Kühen, Pferden und Ziegen, um sie zu tränken.

Dann gab es noch einen weiteren Grund, der die Leute zusammengebracht hat.  Die Feldgrößen waren wegen des Erbrechts sehr klein. Die kleinen Bauern hatten  zum Beispiel 30 Morgen=7,5 Hektar Land, vielleicht an 10 bis 20 Stellen in der Gemarkung verstreut. An jedem Tag ging man zu mindestens einem Acker, im Frühjahr und Sommer öfter. War alles o. k.? Waren Wildschweine dagewesen, die den ganzen Acker aufgerissenhatten?

Heute hat Röhl nur noch  400 Einwohner. Die Zahl der Häuser hat sich aber verdoppelt; die Wohnfläche hat nochmal zugenommen, weil oft Ställe und Scheunen in Wohnflächen umgewandelt worden sind. Die Häuser sind nicht mehr so voll mit Menschen. In jedem Haus wohnt nur noch eine Generation, ganz selten zwei.  Junge Leute sind weggezogen und haben ihre Familien dort gegründet.  Die Kinderzahl in den Familien hat stark abgenommen hat.  Kinder sind deshalb im Ort kaum noch zu sehen.  Auch, weil es im Dorf keine Schule mehr gibt. Es gibt schon eine ganze Reihe alter leerstehender Häuser, aber auch  alte Häuser, die von Städtern in Ferienhäuser umgewandelt worden sind. Früher kamen nur neue Leute nach Röhl, die in eine Familie eingeheiratet haben. Heute wohnen auch Ortsfremde in Röhl, die hier Häuser gebaut haben.  (z.B. Luxemburger, die hier ein Grundstück gekauft haben und sich ein Haus gebaut haben, weil es hier für sie bezahlbar ist.) Früher gab es ein großes Gefühl von Zusammengehörigkeit. Heute lebt jeder für sich. Man ist nicht mehr auf den Anderen angewiesen. Es  gibt keine  Abhängigkeiten zwischen den Leuten, wenig Gelegenheiten, sich zu treffen. Heute fährt man in Geschäfte außerhalb. Im Dorf waren immer Leute unterwegs.  Heute sind die Straßen oft menschenleer. Heute gibt es fast in jedem Haushalt ein Auto.

Mit andern zusammen kommt man eigentlich nur, wenn man in die Kirche geht. Zum Gottesdienst kommen auch weniger. Früher hat einem der Pfarrer Angst gemacht. Sah man ihn kommen, ist man ihm aus dem Weg gegangen. Wenn mich der Pfarrer als Kind etwas gefragt hat, war ich vor lauter Aufregung schon blockiert,  konnte  nicht mehr denken.


3. Zürich

Von 1958 bis 1959 habe ich etwas mehr als ein Jahr in einer kleinen Druckerei in Zürich als Buchdrucker gearbeitet. Neben mir gab es noch einen Schriftsetzer, einen Rätoromanen. Eines Morgens erzählte er mir, dass er zum ersten Mal nicht in seiner Sprache, sondern in Deutsch geträumt hätte. Der Eigentümer der Druckerei kümmerte sich um Aufträge und konnte, wenn nötig auch als Setzer, Drucker und Buchbinder arbeiten. Mit ihm machte es Spaß, über Politik zu diskutieren. Er war reaktionär und ein Antisemit. Damals war man erst mit 21 volljährig. Deshalb wurde mir in der Schweiz keine Lohnsteuer abgezogen, nur der Rentenbeitrag. Dafür erhalte ich heute eine kleine Altersrente aus der Schweiz. Krankenversichert war ich über die Druckergewerkschaft.

Die ersten Wochen wohnte ich in der Jugendherberge in Zürich. Von hier aus habe ich den Arbeitsplatz und ein möbliertes Zimmer gesucht und mich angemeldet. Hier traf ich Schweizer, die Kontakt zu Ausländern suchten. Einer hat mich für eine privat organisierte Wandergruppe geworben mit Mitgliedern aus vielen europäischen Ländern. Da wurde ich Mitglied. Fast an jedem Wochenende fuhren wir mit der Eisenbahn in die Berge. Üblicherweise in eine Jugendherberge, für die einer im Tal einen Schlüssel holen musste und die andern tröpfelten dann nach und nach oben ein. In der Regel sind wir auf einen Berg gestiegen und wenn es regnete, haben wir Wanderlieder gesungen, manchmal ein ganzes Wochenende.

1959 bin ich auf eine Tramptour nach Südfrankreich, Spanien, Portugal und Marokko gegangen. Meine Schweizer Freundin Claudine wollte mitfahren, das wollte ich aus heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen aber nicht. Das hat sie mir zurecht übel genommen und wollte nichts mehr von mir wissen. 1959 war der Befreiungskrieg der Algerier von Frankreich. Da ich wie ein Algerier aussah, bin ich ständig von französischen Polizisten kontrolliert worden. In den Jugendherbergen waren viele Tramper wie ich. Zwischen denen gab es einen Austausch in allen für uns wichtigen Fragen. Von Perpignan an der spanisch-französischen Grenze wollte ich in vielen Etappen nach Madrid fahren. Der erste Fahrer, der anhielt fuhr nach Madrid. So bin ich dann in einem Rutsch dahin gefahren. Einerseits war das gut, andererseits auch schade, weil ich Zeit hatte und mir einzelne Orte ansehen wollte.

Von Madrid nach Lissabon war es genau umgekehrt, eigentlich schöner: wenig Verkehr, wenige fuhren weite Strecken, manchmal bin ich mit Bauern im Pferdewagen gefahren. Nachts habe ich meistens draußen geschlafen.

Als ich in Marokko in der Stadt Fez war, war eine Epidemie ausgebrochen. Wer in der Stadt war, musste drin bleiben. Ich wurde auch etwas krank. Nach einer Woche wurde die Ursache der Probleme bekannt: In gutes Öl war schlechtes gemischt worden. Da war ich sehr erleichtert.

Auf der Rückfahrt im Oktober nahm mich ein junger Mann aus Kassel zwei Wochen mit durch Südfrankreich. Anders als ich, hatte er sich auf die Reise gut vorbereitet. Ihm fehlte ein Gefährte. Wir waren unter anderem in Avignon, auf dem Mont Ventoux, in der Camargue. Nachts schliefen wir in seinem Zelt. Wir waren Freunde geworden. Leider pflegte ich so etwas nicht, weil ich zu viele Leute kennengelernt hatte.

1960 bin ich mit einem früheren Arbeitskollegen durch Jugoslawien und Griechenland bis nach Athen getrampt. Viele Erinnerungen habe ich an diese Reise (kleine Auswahl):
Ein LKW-Fahrer hatte uns von Zagreb mitgenommen. Er machte Umwege, um uns das neue Jugoslawien zu zeigen, unter anderem einen neuangelegten Stausee. Er war ganz stolz darauf.
In Griechenland war die Gastfreundschaft vor allem auf dem Land ganz außergewöhnlich.

Den Rest der Fahrt durch die Türkei, Syrien, Libanon, Jordanien und Israel bin ich alleine getrampt.
In Ankara war ich mal ein paar Tage ohne Geld. Da hab ich angefangen, einzelne Sachen aus meinem Rucksack zu verkaufen. Mit meinen Eltern hatte ich ausgemacht, dass sie mir hierher in einem Wertbrief Geld von meinen Ersparnissen aus der Arbeit in der Schweiz schicken sollten.
Die libanesische und die syrische Grenzstation lagen weit auseinander. Dazwischen waren Hirten, die auf ihren Flöten total romantische Musik machten. Ganz unangenehm fand ich die Fliegen, die aussahen wie Stubenfliegen. Im selben Moment wie sie sich auf der Haut niedergelassen hatten, bissen sie einen schon.
An der jordanischen Grenzstation sah sich ein Beamter den Inhalt meines Rucksacks etwas genauer an, sah meinen Kalender, in dem eine Adresse aus Haifa war. Der Grenzer: „Du willst nach Israel, du bist Jude, wir lassen dich nicht nach Jordanien“. Wie darauf reagieren? „Ich kann beweisen, dass ich kein Jude bin, ich bin nicht beschnitten.“ Schließlich fanden sie einen älteren Kollegen, der sich meinen Penis ansah. So ließen sie mich weiter gehen.

In Israel wollte ich in einem Kibbutz arbeiten. Ich habe mich in mehreren vorgestellt. Eigentlich brachten sie immer ein plausibles Argument gegen eine Beschäftigung vor: Aus Sicherheitsgründen hätte ich das von Deutschland aus schriftlich machen müssen. Schließlich kam ich für zwei Monate in einen Kibbutz in der Nähe des Gaza-Streifens. Hier gab es große Felder mit Baumwolle, einige Tage war ich Baumwollpflücker. Für die zweite Ernte wurde auf einem riesigen Feld mehrere Tage Zuckerrübensamen ausgesät. Ein junger Israeli fuhr den Traktor, meine Aufgabe war aufzupassen, ob der Samen frei fiel. Die Besonderheit dieses Kibbutzes war die Züchtung von Blumenzwiebeln. Ursprünglich war dieser Kibbutz von Nürnberger Juden gegründet worden.
Sie erzählten mir, wie ihre Gemeinschaft entstanden war. Auch damals wurde das Essen zu allen Tageszeiten im gemeinsamen Speisesaal eingenommen. Dort traf man sich auch, um die Arbeit des nächsten Tages zu besprechen.

Zurück bin ich mit dem Schiff in die Türkei gefahren, weiter getrampt, über Bulgarien, Jugoslawien, Österreich und die Schweiz.


4. Berlin

Seit Januar 1961 wohnte ich in Westberlin, zuerst bei Leuten zur Untermiete in der Lutherstraße, der Rosenheimer Straße und der Stübbenstraße. Gearbeitet habe ich in einer Druckerei in der Lüzowstraße.

Im Sommer wollte ich nochmal eine lange Reise machen, diesmal in die skandinavischen Länder. Bin durch Norwegen bis Hammerfest getrampt, dabei habe ich die Mitternachtssonne und die Tage ohne Dunkelheit erlebt. Weiter bin ich zum Inari-See in Finnland. Von dort wollte ich nach Schweden wandern. Ich war schon eine Woche gewandert, war bei den Goldgräbern am Lemenjoki. Zum Essen hatte ich nur Haferflocken mitgenommen. Das reichte, weil es unglaublich viele und große Heidelbeeren gab. Dann kam der 13. August 1961. „Das gibt Krieg“, war die Meinung der Leute hier. Bin dann innerhalb von ein paar Wochen zurück getrampt.

Seit 1962 hatte ich eine eigene Wohnung in der Kurfürstenstraße (auf der Schöneberger Seite zwischen Potsdamer Straße und dem Güterbahngelände) im 5. Stock im Seitenflügel, die Toilette war auf dem Hof, Miete 19,80 DM. In der Wohnung habe ich sieben Jahre gewohnt. Bei der Renovierung bin ich in die Fußstapfen meines Vaters getreten. Der erste Anstrich blätterte schon Tage später ab… Niemand kontrollierte mich, so habe ich viel gelernt, selbst Elektroleitungen habe ich verlegt.

Ich habe in der SPD und bei den Falken in Schöneberg mitgearbeitet. Ich war Kreisdelegierter der Schöneberger SPD. Bei der Bezirksbürgermeisterwahl hat mich einer, der als SPD-Kandidat von den Kreisdelegierten gewählt werden wollte, zu einem Gespräch eingeladen. Er fragte mich, ob ich als Schüler des Berlinkollegs mit meinem Geld auskommen würde. Er bot an, mir einen Studentenjob bei der Bewag zu besorgen, wenn ich ihn bei der Wahl unterstützen würde.

Auf einer Veranstaltung der Kreisdelegierten sprach Egon Bahr zum Thema „Wandel durch Annäherung“. Ich habe mich in der Diskussion zu Wort gemeldet. Als ich am Rednerpult stand, war ich leer im Kopf. Ich muss wohl angenommen haben, wenn ich am Rednerpult stehe, fällt mir schon etwas ein. Der Versammlungsleiter hatte wohl Mitleid mit mir, nahm mich von sich aus noch mal dran, ich brachte wieder nichts raus. Das hat mich Monate lang belastet. Das war für mich eine Lehre: Von da an habe ich mich immer vorbereitet, wenn ich auf einer Veranstaltung was sagen wollte.

Bei den Schöneberger Falken gab es eine Gruppe für ältere Jugendliche und Erwachsene, die sich mit Themen aus einer radikal linken Sicht beschäftigt haben. Hier hielt Rudi Dutschke schon 1962 einen Vortrag.
Eine andere Gruppe bei den Falken, darunter war ein Schriftsetzer und ich als Drucker, kaufte eine kleine handbetriebene Druckmaschine und andere Werkzeuge, die man für die Herstellung einer Zeitschrift benötigte. Damit haben wir die oppositionelle Falken-Zeitschrift „radikal“ hergestellt. Anfangs schrieben wir alle Artikel selber.

Seit 1963 war ich am Berlinkolleg, in 2 ½ Jahren habe ich Abitur gemacht. Seit Wintersemester 1965 habe ich Volkswirtschaftslehre an der FU studiert. Die ersten Semester war ich fleißig, dann begann die Studentenrevolte. 1967 war ich als ASTA-Mitglied für Finanzen gewählt worden. Der Haushalt des ASTA umfasste ca. 2 Millionen DM. In diesen Jahren hatte die Buchhaltung keinen besonders hohen Rang unter den Aufgaben des ASTA. Mein Vorgänger hatte mir eine total chaotische Buchführung hinterlassen. Ich hatte zwar Buchführung gelernt, aber nicht wie man in so einer Situation verfährt. Am Ende hatte ich ein Erfolgserlebnis, die andern ASTA-Mitglieder waren mit meiner Arbeit zufrieden und eine vom Abgeordnetenhaus eingesetzte Kommission zur Kontrolle der ASTA-Finanzen und der ASTA-Buchhaltung erhob keinen einzigen Einwand.

Im Juli und August 1968 war ich mit einer Gruppe von vier FU-Studenten in Prag. Wir hatten in einem Seminar ein Referat über die Wirtschaftsreformen in der der CSSR übernommen. Mit einer der Vieren, Barbara, lebe ich seit der Zeit zusammen, irgendwann haben wir geheiratet und haben einen Sohn zusammen. Nächstes Jahr ist Goldene Hochzeit, wenn es um die Zeit des Zusammenlebens geht.

Am Morgen des 21. August weckten uns unsere Wirtsleute in Prag mit „Österreich-Ungarn ist einmarschiert“. Da sie wenig Deutsch sprachen, holten sie uns an ihr Radio. In vielen Sprachen wurde eine TASS-Meldung verbreitet: „Von wichtigen Mitgliedern des ZK sind die Bruderländer gebeten worden einzuschreiten, um das Abgleiten der CSSR in den Kapitalismus zu verhindern.“ Beeindruckend war, wie die Prager vor allem die Soldaten der Roten Armee davon überzeugen wollten, dass die Wirtschaftsreformen auch im Interesse der andern sozialistischen Länder sein würden. Der politische Einfluss auf die Wirtschaft sollte eingeschränkt werden und die Beschäftigten in den Betrieben sollten mehr Mitspracherechte bekommen. Die Prager waren sehr aktiv, aber gegen so eine Übermacht hatten sie keine Chance.

Worum ging es in der Studentenrevolte? Wichtige Themen der Auseinandersetzung unter den Studenten und der linken Studenten in die Gesellschaft hinein waren die beabsichtigten Notstandsgesetze, der Krieg der Amerikaner in Vietnam, die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen in Deutschland der 60er Jahre, die mangelnde Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit, die Bürgerrechtsbewegung in den USA zur Gleichstellung der Schwarzen.

Diskutiert wurden typisch linke Fragen. Wer ist das revolutionäre Subjekt der sozialistischen Revolution? Marx hatte dafür die Arbeiterklasse entdeckt, Lenin Berufsrevolutionäre, Mao Tsetung, die chinesischen Bauern, Rudi Dutschke meinte, die Arbeiterklasse sei so manipuliert, dass sie für sozialistische Politik nicht mehr ansprechbar wäre. Für ihn waren die Studenten, Intellektuellen und Randgruppen das revolutionäre Subjekt.

An solchen Fragen entzündete sich ein Kampf um die richtige Linie und führte zu einer großen Zersplitterung der Studentenbewegung. Kommunistische Gruppen, die sich an der SED, an den Kommunisten Chinas, Nordkoreas, Albaniens, Kubas anlehnten. Trotzkistische Gruppen und anarchistische gab es schon länger. Es gab linke Gewerkschafter, die sich im Sozialistischen Büro organisierten. Einige Studenten hörten auf zu studieren und begannen in einem Betrieb zu arbeiten, um so die Revolution voranzutreiben. Ich fühlte mich eher einer ökologisch orientierten Alternativkultur zugehörig.

In diesen Jahren habe ich formell wenig studiert. Ich war in selbstorganisierten Gruppen und in Veranstaltungen der linken Studenten. In so einem Rahmen haben wir über mehrere Jahre die drei Bände des Kapitals von Marx durchgearbeitet. Solche Lesezirkel haben mich durch mein ganzes Leben begleitet. Jetzt bin ich auch schon wieder in einem.

Ich war in eine andere Welt geraten: Junge Leute, die diszipliniert wissenschaftlich arbeiten konnten, die Klarheit in ihren Gedanken hatten, druckreif redeten. Das beindruckte mich total, weil ich das nicht konnte.

Viele hassten ihre Väter, weil sie engagierte Nazis waren oder weil sie sich rausredeten: „hätten nichts gewusst“, „was hätten sie tun sollen“, „hätten niemanden getötet, immer vorbei geschossen“. Alle wollten, dass endlich Schluss mit dem Gerede über die NS-Vergangenheit und ihre Bewältigung gemacht werden soll. Hier ist es zu einer Änderung der Haltung der Deutschen gekommen, dazu hat auch die Studentenrevolte beigetragen.

Wie habe ich das Studium finanziert? Am Berlinkolleg bekam ich ein Stipendium von der Gewerkschaftsstiftung. Während der ersten Hälfte meiner Studentenzeit bekam ich ein Stipendium nach dem Honeffer Modell. Für Kinder, deren Eltern zu den Geringverdienern zählten. In der anderen Hälfte hatte ich einen relativ gut bezahlten Job als Tutor in Statistik.

Ein paar Jahre lebte ich in der Wohngemeinschaft meiner Frau (Augsburger/Ecke Nürnberger Straße). Als wir geheiratet hatten, bekamen wir eine Wohnung am Innsbrucker Platz.


5. Darmstadt

Irgendwie sind wir nach Darmstadt geraten. 1971 machte meine Frau ihr Examen in Soziologie. Sie hat sich für mehrere Stellen beworben. Ab 1972 arbeitete sie als Dozentin an der Fachhochschule Darmstadt.

Ich war, obwohl ich im 14. Semester studiert habe, noch nicht auf ein Examen eingestellt. Zum Glück hatte ich zur rechten Zeit Freunde, die mich zum Examen gedrängt haben. So habe ich ein Jahr nach ihr mein Examen in Volkswirtschaftslehre gemacht. Ende 1973 bekam ich eine Stelle als Referendar und später als Lehrer an der Martin-Behaim-Schule, einer kaufmännischen Berufsschule, in Darmstadt. Ich habe vor allem in Industriekaufleute-Klassen und in einer Schulform der kaufmännischen Weiterbildung unterrichtet. Die Arbeitsteilung war an dieser Schule gut gelöst: in der Berufsschule nach Berufen von Deutsch über Informatik bis zu den wirtschaftlichen Fächern, in der Weiterbildung hatte ich mich auf Volkswirtschaftslehre und Personalwesen spezialisiert. Bei den Industriekaufleuten war es so, dass von fünf Jahrgangsklassen drei Klassen aus Abiturienten bestanden. Für die Weiterbildung war Voraussetzung ein kaufmännischer Abschluss. In der Regel habe ich Erwachsene unterrichtet. Bis 2005, also 32 Jahre, war ich an dieser Schule.

Neben der Arbeit als Lehrer war ich aktiv in linksalternativen Gruppen und Bürgerinitiativen. Wir haben eine ÖKOOP gegründet. Damals gab es noch keine Bio-Produkte zu kaufen. Deshalb haben wir Produkte nach ökologischen Kriterien gemeinsam gekauft. 1980 trat ich den GRÜNEN bei. 1985 kandidierten wir zum ersten Mal für die Stadtverordnetenversammlung, auf Anhieb bekamen wir fast 10% der Stimmen. Vier Parteien waren im lokalen Parlament. Drei von denen bildeten eine Koalition gegen die GRÜNEN. Alles hatten sie abgesprochen. Wenn der GRÜNE keine Fragen oder Vorschläge zu den Tagesordnungspunkten hatte, aus denen sich dann eine Diskussion entwickelte, war die Sitzung in 5 Minuten zu Ende. Vier Jahre später hatten wir uns verdoppelt, nochmal vier Jahre weiter hatten die GRÜNEN 25,6%, es gab drei fast gleich große Parteien im Parlament: SPD, CDU, GRÜNE. Es gab verschiedene rot-grüne Koalitionen und jetzt eine grün-schwarze. Seit 2012 gibt es in Darmstadt einen grünen Oberbürgermeister, der vor einem Monat im ersten Wahlgang wiedergewählt worden ist. Von 1989 bis 1996 war ich Fraktionsvorsitzender der GRÜNEN in Darmstadt. 1998 bin ich wegen der Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr aus der Partei ausgetreten.

Meine Frau war seit den 90er Jahren am Aufbau des Wohnprojekts „Wohnsinn“ in Darmstadt beteiligt. Von 2008 an bis 2016 wohnten wir in dem neu erbauten zweiten Gebäude dieser Wohnungsgenossenschaft. In zwei Hausgemeinschaften wohnen ungefähr 150 Personen in 75 Wohnungen. Die Genossenschaft ist ein selbstverwaltetes Projekt, möglichst viel soll von den Bewohnern selbst geschafft werden. Nur die Buchführung wird nach außen vergeben und sehr wenig an Handwerksbetriebe.
Zwei Jahre war ich im Vorstand. Dann bin ich zurückgetreten und wir haben im Streit das Projekt verlassen. Wohin? Nur Berlin kam für uns in Frage: Hier kannten wir uns einigermaßen aus, hatten Freunde und unser Sohn lebt hier.

Solange ich Kommunalpolitiker war, hatte ich keine Lust und wenig Zeit größere Reisen zu machen. Mit Frau und Sohn mal ein paar Wochen nach England, Holland oder Belgien, mehr nicht. Mit meinem Sohn, als er zwischen 6 und 15 Jahre alt war, bin ich öfter in den Herbstferien nach Kreta, Ibiza, Mallorca und Elba gefahren.

All die Jahre in Darmstadt bin ich mit einem Freund fast jede Woche im angrenzenden Odenwald oder hessischem Ried gewandert. Beide Landschaften habe ich so gut kennen gelernt, auch schätzen gelernt, obwohl ich als ökologisch orientierter Mensch auch viele Probleme gesehen habe.

Seit 1995 bin ich wieder auf Fernreisen gegangen, erst nur in den großen Ferien und nach 2005 im Jahr mehrere Monate. Meistens bin ich nach Russland gefahren. Auf der ersten Reise dorthin habe ich im Ural Leute kennengelernt, die schnell gute Freunde wurden. Sie haben mich auf Bootswanderungen am Oberlauf von Nebenflüssen der großen sibirischen Flüsse mitgenommen. Anschließend an diese Bootswanderungen bin ich alleine in Sibirien in verschiedene Gegenden gefahren. Diese Russlandreisen mache ich mit Eisenbahn, Bus und im Sommer mit Schiff. Einmal war ich 3 ½ Monate unterwegs nach Vladivostok, auf der Rückfahrt bin ich zu dem Freund im Ural. Er nahm mich auf eine Dienstreise nach Magnitogorsk mit. Im dortigen Hüttenwerk konnte ich mich einer Betriebsführung anschließen. Danach sind wir mit anderen Freunden zusammen auf eine Bootswanderung gegangen. So ähnlich habe ich das oft gemacht.

Seit vier Jahren reise ich mit einem Freund und Dolmetscher. Über meine Reisen schreibe ich Reiseberichte. Es gäbe viel zu erzählen. Ein Beispiel will ich anführen.

Rundgang durch ein Tatarendorf am Rand von Tjumen.
Als wir zum Treffen kamen, standen ein Ehepaar und eine Frau da. Ich gab allen die Hand und sagte meinen Vornamen. Keiner der anderen Männer gab einer Frau die Hand, nur den Männern. Ich fragte nach. Die Antwort von allen war: "Hier macht man das so." Auch von den Frauen. Sie gaben niemandem die Hand und stellten sich nicht vor.

Arsen, der den Rundgang führte, erzählte uns am Anfang etwas über die Herkunft der sibirischen Tataren. (Es gibt noch Kasan- und die Krimtataren.) Viele waren mit der Goldenen Horde Dschingis Khans gekommen, als Söldner und als Freiwillige aus ganz unterschiedlichen Völkern. Sie vermischten sich mit Türken, die da schon länger lebten und mit den Ureinwohnern, den Mansi. Am Ende sprachen alle Tatarisch, eine Turksprache.
Arsen macht besondere Führungen. Er sagt nur das Wichtigste. Bisher waren immer Experten dabei oder man hatte Gelegenheit, sich über interessante Themen mit andern Teilnehmern zu unterhalten.

Das Ehepaar hatte im sibirischen Norden bei der Gasförderung gearbeitet. Sie konnten deshalb schon mit 55 Jahren in Rente gehen. Um in ihrer neuen Wohngegend vertraut zu werden, streiften sie überall umher. Sie stießen dabei an hohe undurchsichtige Blechzäune, um große Grundstücke herum. Sie: "Die reichen Leute müssen doch was zu verbergen haben und wollen ihr unrechtmäßig erworbenes Eigentum sichern."

Eine junge Frau sprach uns an, sie will ihren Traum verwirklichen, sie möchte jeden Quadratmeter der Welt erkunden. Sie sei aber nicht an Sehenswürdigkeiten interessiert, sondern an den Träumen und Gefühlen der Leute in den besuchten Ländern. Später fragte sie mich ernsthaft, ob ich ein Spion sei, weil ich fotografiert habe und in ein Heft schrieb.

Eine Frau erzählte von ihrer verstorbenen Mutter. Sie war als junge Frau im Krieg Zwangsarbeiterin in Deutschland. Sie war einer Bauernfamilie in Uelzen zugeteilt worden, sollte sich um die zwei kleinen Kinder der Familie kümmern und war neben dem Bauern die einzige Person, die Kühe melken konnte. Der größte Wunsch ihrer Mutter war, zu erfahren, was aus den Kindern geworden war. Jetzt wollte sie als Tochter diese Aufgabe übernehmen.

Ein alter Tatare, der mit uns ging, sprach immer wieder Leute in Tatarisch an, die er für Tataren hielt, aber sie antworteten in Russisch. Das enttäuschte ihn. Es war ja mal ein tatarisches Dorf gewesen und jetzt sprach wohl kaum noch jemand diese Sprache hier.

Am Wege hackten zwei Männer Holz. Sie hörten, dass wir nicht Russisch redeten. Sofort drängte es einen, etwas loszuwerden: "Mein Urgroßvater ist als Kulak zu vielen Jahren Lagerhaft im Norden Sibiriens verurteilt worden. Das nach der Revolution erhaltene Land ist ihm genommen worden. Die anschließende Verbannung verbrachte er in diesem Dorf. Wir als seine Enkel blieben hier.“ Einheimische wollen über so was nicht reden.

Damit wird man in Russland oft angesprochen.
Die Angst vor Spionen ist immer noch stark verbreitet.
Obwohl die russische Kultur eine europäische ist, stößt man auf anders geartete Traditionen, Gewohnheiten und Normen. Das macht solche Reisen für mich interessant.
Überall in Russland trifft man auf Menschen aus indigenen Völkern, deren Sprache am Aussterben ist.
Es gibt viele Erinnerungen an den stalinistischen Terror, von dem zunächst die Verurteilten, die „Volksfeinde“, betroffen waren, aber auch deren Frauen und Kinder hatten es schwer. Und wie ist es heute für die Einzelnen und die Familienangehörigen aus der Riesenarmee der Justizangehörigen und des Wachpersonals?
Und es gibt Erinnerungen an den 2.Weltkrieg, wo Angehörige gefallen sind, als Kriegsgefangene ermordet wurden. Andere waren als Zwangsarbeiter in Deutschland und als sie nach dem Krieg zurückkamen, wurden sie zum Teil zu sowjetischer Zwangsarbeit verurteilt.







30. Erzählcafé im Körnerkiez



Donnerstag, 16. März 2017

Magdalena Lovric’ – Hausaufgabenhilfe im Nachbarschaftsheim

Magdalena Lovric’ arbeitet seit vier Jahren im Nachbarschaftsheim Neukölln e.V. und leitet dort gemeinsam mit einem Kollegen das Projekt „Außerschulische Bildungs-und Freizeitangebote“, in dem sie mit ihrem Team eine Hausaufgabenhilfe für Grundschulkinder anbietet. Über dieses Projekt wird Magdalena berichten. Das Nachbarschaftsheim wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit Unterstützung der Amerikaner errichtet, um ein demokratisches Miteinander zu entwickeln, soziale Ungleichheit abzubauen und gemeinsam mit allen Menschen in der Nachbarschaft die soziale Situation im Stadtteil zu verbessern. Auch wenn sich die konkreten Bedürfnisse der Menschen geändert haben, die Ziele des Nachbarschaftsheims sind bis heute gültig.

Magdalena Lovric’ kommt 1975 in Hagen, Nordrhein-Westfalen, zu Welt. Ihre Eltern stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien, heute Serbien, und kamen als Gastarbeiter nach Deutschland. In Hagen lernten sie sich kennen und verliebten sich ineinander. Sie heirateten und bekamen zwei Töchter. Magdalena berichtet, dass sie in bescheidenen Gastarbeiterbaracken wohnten und sich am Wochenende mit den Kollegen in einer Vorstadtkneipe trafen. Die Eltern hatten nicht vor, sich für längere Zeit in Deutschland niederzulassen. Beide wollten arbeiten, aber es gab keine Ganztagsbetreuung für die Kinder. So pendeln sie zwischen Deutschland und Jugoslawien hin und her. Die beiden Mädchen wachsen im Kreis der großen serbischen Familie auf und werden in Jugoslawien eingeschult. Als Magdalena neun Jahre alt ist, beschließen die Eltern, wieder in Deutschland zu leben. Ihre Töchter sollen in Hagen zur Schule gehen. Es gibt keine Willkommensklassen oder eine besondere Sprachförderung wie heute, die Kinder kommen in eine Regelklasse. Magdalena erzählt, dass der Unterricht in Jugoslawien, vor allem in Mathe, fortgeschrittener war als in Hagen, so dass sie nicht zurückgestuft werden mussten. Und die deutsche Sprache haben sie sehr schnell von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern gelernt. Da die Eltern wünschen, dass ihre Töchter etwas „Handfestes“ lernen, macht Magdalena nach der 10. Klasse eine Lehre im „Kaufhof“, die sie als „Fachverkäuferin für Damenoberbekleidung“ abschließt. Magdalena will weiterkommen und legt auf dem Zweiten Bildungsweg ihr Abitur ab, um danach an der Freien Universität Berlin Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Jugend- und Erwachsenenbildung zu studieren. Sie lebt vom BAföG und von kleineren Jobs neben dem Studium.

Noch während sie ihre Diplomarbeit schreibt, erhält Magdalena das Angebot, in Köln bei einem Modellprojekt „ Amaro Kher  – Unser Haus“ mitzuarbeiten, das sich an die Minderheit der Roma richtet, Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Im Jahr 2004 zieht Magdalena wieder nach Nordrhein-Westfalen und arbeitet mit Kindern und deren Eltern, die in der Mehrzahl aus Roma-Familien stammen. Diese Kinder haben bereits das Schulalter erreicht, gehen aber nicht in die Schule. Zu dieser Zeit gibt es in Deutschland keine Schulpflicht für Flüchtlingskinder. Außerdem liegen die meist provisorischen Unterkünfte für Flüchtlinge außerhalb des Stadtzentrums und damit weit entfernt von Bildungseinrichtungen. Ziel ist es, die Kinder trotzdem an die Schule heranzuführen. Das Projekt versucht, den durch Flucht und Armut traumatisierten Menschen den Zugang zur Schulbildung zu ermöglichen und sie für einen regelmäßigen Schulbesuch zu motivieren.

Nach drei Jahren will Magdalena aus „privaten Gründen“ wieder in Berlin leben. Dort arbeitet sie viele Jahre als Sozialarbeiterin verschiedenen Bildungseinrichtungen im Bereich der „Sozialpädagogischen Familienhilfe“ (§ 31 SGB VIII). Ihre Aufgabe ist es, in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Jugendämtern die Eltern individuell in ihrer Erziehungskompetenz zum Wohle des Kindes und des Jugendlichen zu unterstützen.

Seit 2013 ist sie Mitarbeiterin im Nachbarschaftsheim Neukölln e.V., einer sozialen Einrichtung, deren Angebote sich an alle Menschen im Kiez richten. Morgens gibt es Kurse für Bewegung und Entspannung für Ältere, vormittags und nachmittags steht das Haus überwiegend Kita- und Schulkindern zur Verfügung, und ab 18 Uhr werden zahlreiche Kurse für Erwachsene angeboten wie Yoga, Tanzen, Theater u.v.m. Mehrmals im Jahr finden große Feste statt, bei denen alle zusammen feiern, wie beispielsweise beim Osterfeuer, das mit Spielen für Kinder, Musik, Tanz und köstlichen Speisen begleitet wird.

Magdalena betreut gemeinsam mit ihrem Kollegen Burak Tamer den „Interkulturellen Kinder- und Familientreffpunkt“. Ein besonderes Projekt ist die Hausaufgabenhilfe, mit dem Projektnamen „Außerschulische Bildungs-und Freizeitangebote“, das vom Quartiersmanagement Körnerpark gefördert wird und sich an Grundschulkinder der Konrad-Agahd- und Peter-Petersen-Schule richtet. Mit diesen beiden Schulen, die im Körnerkiez liegen, hat das Nachbarschaftsheim ein Kooperationsabkommen geschlossen. Die Hausaufgabenhilfe ergänzt die Ganztagsbetreuung dieser beiden Schulen, da dort nicht für alle Schülerinnen und Schüler Plätze zur Verfügung stehen. Vorrangig erhalten Kinder, deren Eltern beide tagsüber arbeiten und für die Betreuungskosten aufkommen, an diesen Schulen einen Hortplatz. Alle anderen Kinder müssten nachmittags zu Hause oder anderweitig – zum Beispiel im Nachbarschaftsheim – versorgt werden. Seit der EU-Erweiterung im Jahr 2007 sind viele rumänische und bulgarische Familien nach Neukölln gezogen, die das Angebot der Hausaufgabenhilfe im Nachbarschaftsheim für ihre Kinder gern wahrnehmen. Sie und auch arabisch und türkisch sprechende Eltern sind vor allem daran interessiert, dass ihre Kinder die deutsche Sprache sehr gut lernen, weil sie meistens selbst wenig oder gar nicht Deutsch sprechen. Dieses Bedürfnis geht zwar über die Möglichkeiten der angebotenen einstündigen Hausaufgabenhilfe hinaus, aber, so erzählt Magdalena, das Projekt wird erfreulicherweise zusätzlich von Ehrenamtlichen unterstützt, so dass eine individuelle Förderung beim (Deutsch) Sprechen, Lesen und Schreiben punktuell möglich ist.

98 Prozent der Kinder in der Hausaufgabenhilfe stammen aus Zuwandererfamilien. Das Nachbarschaftsheim fragt nicht, ob die Eltern arbeiten gehen und baut auch sonst keine großen Hürden auf. Das Hausaufgabenangebot richtet sich an alle Grundschülerinnen im Körnerkiez. Für Kinder, die in großen Gruppen nicht zurechtkommen oder Verhaltensauffälligkeiten zeigen, bietet das Nachbarschaftsheim die „soziale Gruppenarbeit“ als Unterstützung an. Alle Kinder werden von ihren Eltern angemeldet, die sich mit 50 Cent pro Tag beteiligen. „Dieser Betrag ist symbolisch als Wertschätzung zu verstehen“, erläutert Magdalena.

Die Hausaufgabenhilfe findet an vier Tagen in der Woche von Montag bis Donnerstag statt und ist in fünf Gruppen für je 10 Kinder eingerichtet. Die Kinder der 1. bis 3. Klasse sowie der der 4. bis 6. Klasse werden zusammengefasst. Die Gruppen werden von je einer Honorarkraft geleitet, die pädagogisch ausgebildet ist und Erfahrung in der Gruppenarbeit und in der Arbeit mit Grundschulkindern hat. Mindestens ein Mal pro Woche wird jede Gruppe von einer ehrenamtlich arbeitenden Betreuerin (oder Betreuer) unterstützt, die mit einzelnen Kindern arbeitet, die besonders gefördert werden müssen. „Übrigens suchen wir immer Ehrenamtliche, die bereit sind mitzuhelfen“, sagt Magdalena und schaut aufmunternd in die Runde im Erzählcafé. „Wir sind auf solche Helferinnen und Helfer angewiesen. Je mehr sich engagieren, desto größer werden die Fortschritte bei den Kindern sein.“

Vor der Hausaufgabenhilfe, um 14 Uhr, gibt es Mittagessen. Wer sich angemeldet hat, muss pünktlich erscheinen. Zwei Kinder haben Tischdienst und helfen beim Tischdecken, Abräumen und Saubermachen. Täglich wird im Nachbarschaftsheim frisch gekocht, und immer ist Salat oder Gemüse dabei. Einmal in der Woche bespricht Magdalena mit den Kindern, was sie gern essen wollen. Es gibt zum Beispiel: Pommes mit Salat, Spaghetti Bolognese, Gemüsequiche, Gemüseeintopf mit Hackfleisch, Kartoffeln mit Quark, Linsen- oder Gemüsesuppe, Chili con carne, Lasagne. Für einen Nachtisch reicht das Budget nicht, aber wenn ein Kind Geburtstag hat, bringt es oft etwas Süßes für alle Kinder mit. Das gemeinsame Mittagessen ist für die Kinder sehr wichtig, meint Magdalena. Dabei können sie sich ausruhen und Kraft für den Nachmittag schöpfen.

Nach der Hausaufgabenhilfe, in der die Kinder in der Regel alle ihre anfallenden Schularbeiten erledigt haben, beginnen um 15.30 Uhr die vielfältigen „außerschulischen Freizeitangebote“, an denen auch alle anderen Kinder aus dem Kiez teilnehmen können. Sehr beliebt ist der Trommelkurs. Die Kinder nehmen auch gern die Angebote für kreatives Gestalten wahr, wie Malen und Basteln, Töpfern, die Fotowerkstatt am Computer oder sie beteiligen sich an der beliebten Koch & Back AG. Es gibt Computerkurse, Mädchenfußball und ein Fußballgruppen für Jungen. Die Kinder können sich auch Spiele ausleihen und den Nachmittag damit verbringen. Bis 18 Uhr stehen Haus und Garten den Kindern zur Verfügung.

Magdalena und die Gruppenleiter- und Leiterinnen bilden ein interkulturelles Team, das die wichtigsten Sprachen der im Nachbarschaftsheim aktiven Eltern kennt : Türkisch, Serbisch/Kroatisch/Bosnisch, Rumänisch und Bulgarisch. Einmal im Monat gibt es das „Hausaufgaben-Elterncafé“, bei dem die Entwicklung der Kinder besprochen wird. Da die Betreuerinnen und Betreuer mit den Schulen Kontakt haben, wissen sie, wie sie in der Schule stehen und was mit den Kindern geübt werden soll. Etwa 90 Prozent der Eltern erscheinen beim Elterncafé und beweisen dadurch, wie sehr ihnen das Vorankommen ihrer Kinder am Herzen liegt. Überwiegend kommen die Mütter, die dann manchmal ihre Babys mitbringen.

Magdalena und ihr Team leiten die Kinder zum selbstständigen Arbeiten an. Die Kinder sollen lernen, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Das heißt auch, die einmal vereinbarten Regeln einzuhalten, zum Beispiel Pünktlichkeit, rücksichtsvolles Verhalten, eine Benachrichtigung beim Fernbleiben. Magdalena betont, dass die meisten Kinder die Regeln respektieren. Benimmt sich trotzdem ein Kind unpassend, führen die Betreuerinnen und Betreuer Gespräche mit den Eltern. Kann aus dem Team niemand die Sprache der Eltern sprechen, wird ein Dolmetscher eingeschaltet. Wenn sich das Verhalten nach dem dritten Gespräch nicht gebessert hat, kann das Kind nicht mehr teilnehmen. Einmal wurde ein Mädchen aus der 2. Klasse gerügt, weil es zu spät kam, und es weinte verzweifelt. Ihr älterer Bruder, der in einer anderen Gruppe im Haus beschäftigt war, kümmerte sich nicht um die Schwester: er wollte nicht ihr Babysitter sein . Oft müssen ältere Geschwister die Verantwortung für ihre jüngeren Geschwister übernehmen, insbesondere die Mädchen. „Da hört die Kindheit bei vielen mit zehn, elf Jahren auf. Diese Eltern haben meistens viele Kinder und brauchen Unterstützung“, meint Magdalena.

Die Hausaufgabenhilfe des Nachbarschaftsheims versucht, den Kindern die Unterstützung zu geben, die sie für ihre schulische Entwicklung brauchen. Die meisten können diese Hilfe nicht von ihren Eltern erhalten, da diese kaum oder kein Deutsch sprechen. Magdalena hat erfahren, dass das Nachbarschaftsheim ein „toller Ort ist, wo man sich begegnen kann“. Damals, als sie sich als Gastarbeiterkind mit ihrer Familie in Deutschland zurechtfinden musste, gab es keine Förderung. Ihre Eltern haben ihr erzählt, dass sie als kleines Mädchen eines Tages das Sprechen verweigerte, weil sie nicht mehr zwischen Serbisch und Deutsch „switschen“ wollte. „Ich kann mich absolut mit diesem Projekt identifizieren, weil ich weiß, was es bedeutet, wenn Eltern einen nicht unterstützen können, aber trotzdem wollen, dass ihr Kind einen guten Abschluss macht. „Deshalb finde ich solche Angebote superwichtig. Ich hätte mir damals auch so etwas gewünscht.“