Donnerstag, 20. April 2017
Günter
Meyer
Von
der Eifel bis Berlin – Stationen meines Lebens
1. Langenhagen
Geboren bin ich im Februar 1940 in einer
kleinen Eisenbahner-Siedlung in einem Gleisdreieck in Hannover-Langenhagen. Meine
Eltern waren zwei Jahre vorher mit zwei Söhnen und einer Tochter aus einem
kleinen Eifeldorf hierhergezogen. Mein Vater hatte hier eine Arbeit bei der
Eisenbahn gefunden.
Einer der Mieter hatte Gänse, die frei
rumliefen. Als Dreijähriger machte ich öfter Bekanntschaft mit ihnen: wenn sie
mich sahen, wollten sie mich sofort zischend verfolgen. Glücklicherweise haben
sie mich nie beißen können, weil ich schnell genug weg gerannt bin. Ein anderes
Mal wollte ein erwachsener Mann mir Angst machen. Er nahm mich und hielt mich
über einen tiefen, offenen Brunnen und sagte: „Ich lass dich da rein fallen!“
Meine Mutter stand dabei. Leider war sie wohl überrumpelt und nicht
selbstbewusst genug, um einzuschreiten.
Andere Erinnerungen haben mit dem Krieg zu
tun. Um uns vor Bombenangriffen zu schützen, gingen die Bewohner unseres Hauses
in den Keller, später in eine Aushöhlung in den nahen Bahndamm. Irgendwann
mussten wir ins Zentrum Langenhagens gehen, zu einem großen Bunker mit sehr
dicken Betonwänden. Manchmal schafften wir es nicht, weil meine Mutter mit
ihren vier Kindern nicht zeitig genug los gekommen war. Dann gingen wir auf dem
Weg in eine Fabrik mit einem Behelfsbunker für Zwangsarbeiter. Hier musste man
über Bohlen laufen, weil alles unter Wasser stand. Ob es Gespräche zwischen den
Zwangsarbeitern und Deutschen gegeben hat, kann ich mich nicht erinnern. Immer
waren wir dort nachts, alle wollten wohl schlafen.
Die kleinen Kinder haben im Bunker auf dem
Schoß ihrer Mütter gesessen. Die größeren Kinder haben mit einander gespielt:
die Mädchen mit dem Fadenspiel, Jungens halfen im Bunker mit, Sauerstoff mit
Kurbeln in die Räume zu pumpen. Einmal saß ein dicker Mann am Ende unserer
Bank. Auf ein Zeichen standen alle auf und der Mann fiel auf den Boden. Alle
freuten sich darüber.
Kurz vor Kriegsende gab es ständig
Bombenangriffe, so dass wir tagelang im Bunker bleiben mussten. Zwei ältere
Geschwisterkinder aus dem Gleisdreieck haben so lange auf ihre Mutter
eingeredet, bis sie sie gehen ließ, um Spielsachen zu holen. Als sie im Haus
waren, gab es einen Bombenangriff. Das Haus, indem sie wohnten, wurde total
zerstört, die anderen nur zum Teil. Unser Haus so, dass niemand mehr hinein
gehen konnte, nicht mal um Anziehsachen zu holen. Am folgenden Vormittag haben
wir uns das Unglück angesehen. Da lagen die beiden Kinder in Teppiche gerollt
am Rande der Trümmer.
Wir schliefen einige Nächte bei Verwandten von bisherigen
Nachbarn. Schon nach wenigen Tagen war uns das Schlafzimmer einer Familie in
einer Zwei-Zimmerwohnung zugewiesen worden. Hier schliefen wir zu fünft im
Ehebett. Meine Mutter hat im Juli vom Wohnungsamt eine Wohnung zugewiesen
bekommen. Sie lag im Zentrum von Langenhagen. Unsere Verwandten in Röhl
erfuhren gleich nach dem Krieg über mehrere Ecken, wie es uns in den letzten
Kriegswochen ergangen war: “Ausgebombt, aber noch alle am Leben“.
In den letzten Kriegstagen hatte mein ältester Bruder gehört, dass
im Mittellandkanal ein Versorgungsschiff mit Lebensmittel geplündert wurde. Er
kam mit einem großen Karton mit Traubenzucker (Dextropur, die kleine Packung
war ebenso eingepackt wie heute) nach Hause. Das war eine große Hilfe. Wir
hatten Zucker und wir hatten etwas zum Tauschen.
Auch nach dem Krieg hatten wir großes Glück.
Viele Kinder verunglückten, weil sie mit Munition spielten und in Ruinen nach
Essbarem und Tauschbarem suchten. Mein ältester Bruder hatte aus Sprengstoff
von Patronen Knallfrösche machen wollen. Dabei hat er sich an Händen und Armen
verbrannt. Sonst gab es bei uns keine Unfälle.
Unser Vater kam schon im August 1945 aus
englischer Kriegsgefangenschaft nach Hause. Da hatten wir schon unsere
Dreizimmer-Dachwohnung. Im Jungen-Zimmer konnte man durch die Decke den Himmel
sehen. Das hat mein Vater gleich repariert. Überhaupt gab es kaum Arbeiten, die
er sich nicht zutraute und er konnte organisieren, dazu gehörte in Maßen auch
zu stehlen. Im Gleisdreieck hatten wir einen großen Garten. Dort wurden Hühner
gehalten. Eine Anlage um Schnaps zu brennen, hatte mein Vater gebaut. Der
Schnaps wurde vor allem an die englischen Besatzungssoldaten verkauft. Ende
1945 wurde der Flughafen in Langenhagen parzelliert. Mein Vater hatte da zwei
Morgen Land gepachtet, um Getreide und Kartoffeln anzubauen. Nach der
Währungsreform 1948 suchte er mit meinen älteren Brüdern Altmetall. Einmal
fanden sie unter der Erde an einem Wegrand das Wrack eines im Krieg
abgestürzten Flugzeugs. Das waren mehr als 1000 kg Aluminium für 2,30 DM/kg.
Das alles machte mein Vater neben seiner Arbeit als Eisenbahner auf einem
Stellwerk.
Im September 1946 gebar meine Mutter noch eine
Tochter. Ich war gerne jüngstes Kind: von allen Hilfe zu bekommen, beschützt zu
werden, im Mittelpunkt zu stehen. Diese Rolle ging an die jüngere Schwester.
Vorher, als mein Vater wieder da war, hatte ich schon den besonderen Platz
neben meiner Mutter, verloren. Beides machte mir psychische Probleme.
Weihnachten in
meiner Kindheit: Den ganzen Dezember über sangen wir erst Nikolauslieder, dann
Weihnachtslieder. Selbst in dieser Zeit machte unsere Mutter für uns Kekse und
Süßigkeiten. Weihnachten 1945 gab es Marzipan aus Weizengrieß und Margarine.
Puderzucker wurde aus dem Traubenzucker gemacht. Künstliches Aroma gab es sogar
in dieser Zeit zu kaufen. Für einfache Mürbeteig-Kekse wurde Melasse verwendet,
die uns ein Onkel besorgte, der in englischer Kriegsgefangenschaft in einer
Zuckerfabrik bei Hannover arbeitete.
Ich erinnere mich
an ein besonderes Reinemachen der Wohnung vor Weihnachten. Meine Mutter hatte
dabei fünf Kinder „anzuleiten“, was ihr in aller Regel auch gut gelang. Wir
Kinder waren in einer merkwürdigen Stimmung, so als ob wir uns verschworen
gehabt hätten, unsere Mutter bei der Arbeit zu boykottieren. Alles, was sie uns
sagte, machten wir nur sehr widerwillig. Zwei von uns stritten sich, mein
Bruder schubste meine Schwester. Sie fiel gegen den Küchenschrank und brach
dabei ein vorstehendes Teil von einer Schublade ab. Der Donner, der darauf
erfolgte, reichte noch nicht aus. Erst als mein anderer Bruder anfing mit einem
Ball zu spielen und der Ball in den
Eimer mit dem Aufwischwasser fiel und schmutziges Wasser auf die schon
gewischten Dielen spritzte und meine Mutter ihm den Eimer mit dem
Aufwischwasser über den Kopf gestülpt hatte, kamen wir zur Besinnung. Ich weiß
nicht mehr, ob wir uns getraut haben zu lachen. Jedenfalls von da an flutschte
die Arbeit.
Heiligabend war
wie ein normaler Samstag: Nachmittags hatte jedes Familienmitglied eine gewisse
Zeit, sich in der Küche im Stehen an einer Schüssel mit warmem Wasser von oben
bis unten zu waschen. Zum gemeinsamen Kirchgang und zur Bescherung zogen wir
unsere Sonntagssachen an. Das waren in den ersten Jahren nach dem Krieg für
jeden eine Jacke und eine Hose aus dickem, sperrigem Zeltleinen. Die englischen
Militärzelte dafür hatte mein Vater organisiert/geklaut und eine Schneiderin,
die zu den Leuten nach Hause kam, hatte sie genäht. Weit konnten wir in dieser
Kleidung nicht gehen, sonst wurden wir wund zwischen den Oberschenkeln.
Im Jahr nach der
Währungsreform bekam jedes Kind auch einen großen Weihnachtsmann aus
Schokolade, eingepackt in Stanniol. Jeder aß seinen Weihnachtsmann gleich. Wohl
auch, um nichts abgeben zu müssen. Meine ältere Schwester dagegen hob sich den
Weihnachtsmann noch wochenlang auf. Irgendwann bereitete sie alles vor, um aus
dem Verspeisen des Weihnachtsmannes ein kleines Fest zu machen. Nur, als sie
zur Tat schritt, war er ganz leicht geworden, weil fast nur noch Stanniol übrig
geblieben war. Die Schokolade hatte mein zweitältester Bruder und ich nach und
nach kunstvoll, ohne das Stanniol zu verletzen rausgebrochen. Auf das dann
folgende Drama hatten wir uns schon die ganze Zeit eingestellt. Wir gaben ihr
die Schuld, weil sie uns in Versuchung geführt hatte.
Als 12jähriger war ich Zeuge eines schweren
Unfalls. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zu einem Freund und fuhr bei einem
Nachbarn vorbei. Er war den Vormittag über mit seinem neuen Motorrad
beschäftigt, hatte es auseinander genommen, gereinigt und geölt und dann ohne
große Mühe wieder zusammengesetzt. Kein Teil war übrig geblieben! Er war sehr
zufrieden mit sich. Zum Abschluss wollte er eine Probefahrt machen. Ich fuhr
weiter. Er hat mich dann auf seinem Motorrad überholt, nur mit einer Badehose
bekleidet. Ich hätte es hören müssen, dann am Unfallort, grauenvoll: Sein
linkes Bein war am Rumpf abgerissen und lag auf einer Seite der Straße, das
Motorrad auf der anderen Seite. Daneben lag er in einer Blutlache.
Wie konnte das an dieser vollkommen
übersichtlichen Kreuzung passiert sein? Von links kam der am Unfall beteiligte
Volkswagen. Der Nachbar fuhr schneller, um noch vor dem Volkswagen über die
Kreuzung zu kommen. Der Autofahrer aber auch! Also der Nachbar wohl noch schneller.
Und dann hat es gekracht. Wie er da lag, schien ihn eine große Gelassenheit
ergriffen zu haben, wohl wegen der Unausweichlichkeit seines Todes. Er schrie
nicht, weinte nicht. Obwohl wach, kam kein Ton aus ihm. Leute kamen, einer
hielt seinen Kopf im Schoß und mehrere versuchten seine Blutgefäße am Rumpf
zusammen zu drücken. Das gelang aber immer nur kurz, dann rutschten sie aus den
Fingern. Als der Rettungswagen kam, war er schon tot.
Als meine Geschwister mit einer Lehre begonnen
hatten, übernahm ich ihre Aufgaben in der Familie als Einkäufer und zusammen
mit meinem Vater die Betreuung eines Schafes und einer Ziege, die wir auf dem
Hof im Schuppen hielten. In meiner Erinnerung habe ich das gerne gemacht. Ich
musste nicht immer wieder dazu angehalten werden.
Nach acht Jahren Volksschule begann ich eine
Buchdruckerlehre. Die Druckerei war auf dem Hof des großen Mietshauses, in dem
wir wohnten. Die ersten Monate waren wie eine Initiation. Danach war ich neu
ausgerichtet, war ein Sozialist geworden und wurde Mitglied der IG Druck und
Papier. Meine Eltern und Geschwister wunderten sich darüber, dass ich für so
was Geld ausgebe.
2. Röhl
Unsere Vorfahren stammen aus der Südeifel, aus kleinen Dörfern des
Bitburger Landes. Die beiden Großeltern und die meisten Onkel und Tanten
wohnten in Röhl. Sie waren kleine Bauern
und Handwerker.
Da unser Vater Eisenbahner war, bekamen wir zwei Freifahrtscheine
im Jahr. Damit fuhren wir zweimal im Jahr von Hannover in die Eifel. Im Krieg
waren wir 1 1/2 Jahre dort. Als wir 1944 auf der Rückfahrt durch einen
größeren Bahnhof fuhren, hörten wir Bombenalarm. Der Bahnhof
war menschenleer. Wir fuhren wie in einem Geisterzug langsam ohne Anhalten
durch den Bahnhof
Im Sommer 1947 fuhr die Familie zum ersten Mal nach dem Krieg wieder zusammen nach Röhl. Unser Vater
blieb zu Hause. Er musste sich um unsern Garten, die Hühner und das Land auf
dem Flughafen kümmern. Er hatte uns
vorher in den nach Köln bereitgestellten Zug eingeschleust. Die Züge waren
unvorstellbar voll, nicht nur innen, sondern
auch außerhalb der Züge standen und saßen Leute: auf den Dächern, den
Prellböcken, den Trittbrettern. Über den Rhein sind wir in einem offenen Boot
gefahren. Zwischendurch war die Strecke nur noch einmal zerbombt. Wir mussten
ein längeres Stück mit einem LKW fahren.
Im nächsten Sommer war die
ganze Strecke schon wieder befahrbar. In Köln gingen wir in den Wartesaal. Die
Währungsreform hatte schon stattgefunden. Deshalb gab es wieder alles. Wir
Kinder hatten von Coca Cola gehört und
wollten sie probieren. Unser Vater bestellte eine normale kleine Flasche für
alle. Einer von uns trank davon und fand, dass der
Inhalt verdorben sei. Wir andern
probierten auch, schlossen uns dieser
Meinung an. Unser Vater musste sich widerstrebend beim Kellner beschweren. Der
hielt uns für verrückt, "so schmeckt das", sagte er und schüttelte
den Kopf. Vielleicht hat dieses Erlebnis
bewirkt, dass ich Coca Cola bis
heute mit etwas Verdorbenem verbinde.
In Röhl war das in den 50er Jahren so: Zu fast jedem Haushalt gehörte ein landwirtschaftlicher Betrieb
und oft ein Handwerker, der vor Ort
arbeitete oder im Sommer ins Ruhrgebiet oder nach Luxemburg zum Arbeiten ging. 100 Wohnhäuser standen in
Röhl und 600 Einwohner lebten hier. Das
Dorf war wie ein Organismus. Alle konnten von ihrer Arbeit leben. Man hätte
viele Arbeiten auch selber machen können. Das tat man aber nicht, sondern
beschäftigte den Handwerker.
Es gab Brennereien/Keltereien , um Schnaps und um Apfelwein und
Apfelsaft herzustellen.
Friseure, die in die Wohnungen der Leute kamen,
Milchkontrolleur, als
Nebenjob,
Schlagmeister für den Wald, der half dem Förster, plante das
Fällen von Bäumen und das Auspflanzen kleiner Bäume,
Schmiede, für das Beschlagen der Pferde, Ochsen und Kühe mit
Hufeisen
Schneider, die von Hand genäht haben,
Stellmacher, die haben die bäuerlichen Wagen gebaut und repariert,
Küfer, die Holzfässer hergestellt haben,
Es gab vier sehr kleine
Einzelhandelsgeschäfte. In einem von ihnen hat ein Mann verkauft, der
war ganz dick und unbeweglich. Der ging nicht hinter seiner Theke weg. Seine
Toilette war auch da. Da drin war es so schwarz, wie in einem Schornstein.
Petroleum, Lebensmittel, alles hat er mit seinen dreckigen Fingern angefasst.
In andern Läden musste man erst nach jemandem suchen, der einem
was verkaufen konnte. Wir Kinder waren
damals sehr zurückhaltend und schüchtern. Meistens warteten wir bis jemand von
sich aus kam. Das konnte lange dauern.
Am Rande des Dorfes gab es
mehrere Steinbrüche. Aus den
Natursteinen wurden Gebäude und Straßen gebaut und man brauchte sie, um den
Kalkofen zu betreiben. Beides war für uns Kinder total interessant. Der
Kalkofen basierte auf einer Jahrtausende
alten Technik. Man baute ihn dort, wo es einen Felssprung gab. Da hinein baute man ihn, ca. 5m hoch und mit
einem Durchmesser von 2m. Im Kalkofen wurde drei Tage lang ein Holzfeuer in
Gang gehalten. Dann war aus den Steinen ungelöschter Kalk geworden. Um ihn als
Mörtel zu verwenden, musste er mit Wasser zusammen gebracht werden.
Dann gab es noch
Gaststätten, Elektriker, Hausschlachter, Hebamme, Installateur, Maler,
Maurer, Schlosser, Schreiner, Zimmermann, Schuhmacher.
Viele Arbeiten fanden auf der Straße statt (zum Beispiel der Stellmacher hätte einen
sehr großen Arbeitsraum gebraucht) oder in Gebäuden, die für alle zugänglich waren (zum Beispiel in
die Brennereien konnte man hineingehen, um sich Schnaps zu kaufen, aber auch
nur wie ich, um zuzusehen).
Sozial differenzierte sich das Dorf in Bauern, Handwerker, die in
der Regel auch eine kleine Landwirtschaft hatten und in arme Leute ohne Land.
Da es noch keine Traktoren gab, war die soziale Schichtung orientiert an den
Tieren, die man vor den Wagen und das landwirtschaftliche Gerät spannte. So gab
es Pferdebauern, das waren die wenigen großen Bauern, die Ochsenbauern,
die Kuhbauern und Leute, die nur ein
paar Ziegen hatten, die sie an Wegränder zum Fressen führten.
Es gab keine zentrale Trinkwasserversorgung, an die jedes Haus
angeschlossen gewesen wäre. Stattdessen gab es im Dorf mehrere Stellen, wo
kontinuierlich Wasser in große Sandsteintröge
floss. Von hier holte man sich Wasser für den Haushalt, die Frauen kamen, um Wäsche zu Waschen und
man kam mit Kühen, Pferden und Ziegen, um sie zu tränken.
Dann gab es noch einen weiteren Grund, der die Leute
zusammengebracht hat. Die Feldgrößen
waren wegen des Erbrechts sehr klein. Die kleinen Bauern hatten zum Beispiel 30 Morgen=7,5 Hektar Land,
vielleicht an 10 bis 20 Stellen in der Gemarkung verstreut. An jedem Tag ging
man zu mindestens einem Acker, im Frühjahr und Sommer öfter. War alles o. k.?
Waren Wildschweine dagewesen, die den ganzen Acker aufgerissenhatten?
Heute hat Röhl nur noch 400
Einwohner. Die Zahl der Häuser hat sich aber verdoppelt; die Wohnfläche hat
nochmal zugenommen, weil oft Ställe und Scheunen in Wohnflächen umgewandelt
worden sind. Die Häuser sind nicht mehr so voll mit Menschen. In jedem Haus
wohnt nur noch eine Generation, ganz selten zwei. Junge Leute sind weggezogen und haben ihre
Familien dort gegründet. Die Kinderzahl
in den Familien hat stark abgenommen hat.
Kinder sind deshalb im Ort kaum noch zu sehen. Auch, weil es im Dorf keine Schule mehr gibt.
Es gibt schon eine ganze Reihe alter leerstehender Häuser, aber auch alte Häuser, die von Städtern in Ferienhäuser
umgewandelt worden sind. Früher kamen nur neue Leute nach Röhl, die in eine
Familie eingeheiratet haben. Heute wohnen auch Ortsfremde in Röhl, die hier
Häuser gebaut haben. (z.B. Luxemburger,
die hier ein Grundstück gekauft haben und sich ein Haus gebaut haben, weil es
hier für sie bezahlbar ist.) Früher gab es ein großes Gefühl von Zusammengehörigkeit.
Heute lebt jeder für sich. Man ist nicht mehr auf den Anderen angewiesen.
Es gibt keine Abhängigkeiten zwischen den Leuten, wenig
Gelegenheiten, sich zu treffen. Heute fährt man in Geschäfte außerhalb. Im Dorf
waren immer Leute unterwegs. Heute sind
die Straßen oft menschenleer. Heute gibt es fast in jedem Haushalt ein Auto.
Mit andern zusammen kommt man eigentlich nur, wenn man in die
Kirche geht. Zum Gottesdienst kommen auch weniger. Früher hat einem der Pfarrer
Angst gemacht. Sah man ihn kommen, ist man ihm aus dem Weg gegangen. Wenn mich
der Pfarrer als Kind etwas gefragt hat, war ich vor lauter Aufregung schon
blockiert, konnte nicht mehr denken.
3. Zürich
Von 1958 bis 1959 habe ich etwas mehr als ein
Jahr in einer kleinen Druckerei in Zürich als Buchdrucker gearbeitet. Neben mir
gab es noch einen Schriftsetzer, einen Rätoromanen. Eines Morgens erzählte er
mir, dass er zum ersten Mal nicht in seiner Sprache, sondern in Deutsch
geträumt hätte. Der Eigentümer der Druckerei kümmerte sich um Aufträge und
konnte, wenn nötig auch als Setzer, Drucker und Buchbinder arbeiten. Mit ihm
machte es Spaß, über Politik zu diskutieren. Er war reaktionär und ein
Antisemit. Damals war man erst mit 21 volljährig. Deshalb wurde mir in der Schweiz
keine Lohnsteuer abgezogen, nur der Rentenbeitrag. Dafür erhalte ich heute eine
kleine Altersrente aus der Schweiz. Krankenversichert war ich über die
Druckergewerkschaft.
Die ersten Wochen wohnte ich in der
Jugendherberge in Zürich. Von hier aus habe ich den Arbeitsplatz und ein
möbliertes Zimmer gesucht und mich angemeldet. Hier traf ich Schweizer, die
Kontakt zu Ausländern suchten. Einer hat mich für eine privat organisierte
Wandergruppe geworben mit Mitgliedern aus vielen europäischen Ländern. Da wurde
ich Mitglied. Fast an jedem Wochenende fuhren wir mit der Eisenbahn in die
Berge. Üblicherweise in eine Jugendherberge, für die einer im Tal einen
Schlüssel holen musste und die andern tröpfelten dann nach und nach oben ein.
In der Regel sind wir auf einen Berg gestiegen und wenn es regnete, haben wir
Wanderlieder gesungen, manchmal ein ganzes Wochenende.
1959 bin ich auf eine Tramptour nach
Südfrankreich, Spanien, Portugal und Marokko gegangen. Meine Schweizer Freundin
Claudine wollte mitfahren, das wollte ich aus heute nicht mehr
nachvollziehbaren Gründen aber nicht. Das hat sie mir zurecht übel genommen und
wollte nichts mehr von mir wissen. 1959 war der Befreiungskrieg der Algerier
von Frankreich. Da ich wie ein Algerier aussah, bin ich ständig von französischen
Polizisten kontrolliert worden. In den Jugendherbergen waren viele Tramper wie
ich. Zwischen denen gab es einen Austausch in allen für uns wichtigen Fragen.
Von Perpignan an der spanisch-französischen Grenze wollte ich in vielen Etappen
nach Madrid fahren. Der erste Fahrer, der anhielt fuhr nach Madrid. So bin ich
dann in einem Rutsch dahin gefahren. Einerseits war das gut, andererseits auch
schade, weil ich Zeit hatte und mir einzelne Orte ansehen wollte.
Von Madrid nach Lissabon war es genau
umgekehrt, eigentlich schöner: wenig Verkehr, wenige fuhren weite Strecken,
manchmal bin ich mit Bauern im Pferdewagen gefahren. Nachts habe ich meistens
draußen geschlafen.
Als ich in Marokko in der Stadt Fez war, war
eine Epidemie ausgebrochen. Wer in der Stadt war, musste drin bleiben. Ich
wurde auch etwas krank. Nach einer Woche wurde die Ursache der Probleme
bekannt: In gutes Öl war schlechtes gemischt worden. Da war ich sehr
erleichtert.
Auf der Rückfahrt im Oktober nahm mich ein
junger Mann aus Kassel zwei Wochen mit durch Südfrankreich. Anders als ich,
hatte er sich auf die Reise gut vorbereitet. Ihm fehlte ein Gefährte. Wir waren
unter anderem in Avignon, auf dem Mont Ventoux, in der Camargue. Nachts
schliefen wir in seinem Zelt. Wir waren Freunde geworden. Leider pflegte ich so
etwas nicht, weil ich zu viele Leute kennengelernt hatte.
1960 bin ich mit einem früheren
Arbeitskollegen durch Jugoslawien und Griechenland bis nach Athen getrampt.
Viele Erinnerungen habe ich an diese Reise (kleine Auswahl):
Ein LKW-Fahrer hatte uns von Zagreb
mitgenommen. Er machte Umwege, um uns das neue Jugoslawien zu zeigen, unter
anderem einen neuangelegten Stausee. Er war ganz stolz darauf.
In Griechenland war die Gastfreundschaft vor
allem auf dem Land ganz außergewöhnlich.
Den Rest der Fahrt durch die Türkei, Syrien,
Libanon, Jordanien und Israel bin ich alleine getrampt.
In Ankara war ich mal ein paar Tage ohne Geld.
Da hab ich angefangen, einzelne Sachen aus meinem Rucksack zu verkaufen. Mit
meinen Eltern hatte ich ausgemacht, dass sie mir hierher in einem Wertbrief
Geld von meinen Ersparnissen aus der Arbeit in der Schweiz schicken sollten.
Die libanesische und die syrische Grenzstation
lagen weit auseinander. Dazwischen waren Hirten, die auf ihren Flöten total
romantische Musik machten. Ganz unangenehm fand ich die Fliegen, die aussahen
wie Stubenfliegen. Im selben Moment wie sie sich auf der Haut niedergelassen
hatten, bissen sie einen schon.
An der jordanischen Grenzstation sah sich ein
Beamter den Inhalt meines Rucksacks etwas genauer an, sah meinen Kalender, in
dem eine Adresse aus Haifa war. Der Grenzer: „Du willst nach Israel, du bist
Jude, wir lassen dich nicht nach Jordanien“. Wie darauf reagieren? „Ich kann
beweisen, dass ich kein Jude bin, ich bin nicht beschnitten.“ Schließlich
fanden sie einen älteren Kollegen, der sich meinen Penis ansah. So ließen sie
mich weiter gehen.
In Israel wollte ich in einem Kibbutz
arbeiten. Ich habe mich in mehreren vorgestellt. Eigentlich brachten sie immer
ein plausibles Argument gegen eine Beschäftigung vor: Aus Sicherheitsgründen
hätte ich das von Deutschland aus schriftlich machen müssen. Schließlich kam
ich für zwei Monate in einen Kibbutz in der Nähe des Gaza-Streifens. Hier gab
es große Felder mit Baumwolle, einige Tage war ich Baumwollpflücker. Für die
zweite Ernte wurde auf einem riesigen Feld mehrere Tage Zuckerrübensamen
ausgesät. Ein junger Israeli fuhr den Traktor, meine Aufgabe war aufzupassen,
ob der Samen frei fiel. Die Besonderheit dieses Kibbutzes war die Züchtung von
Blumenzwiebeln. Ursprünglich war dieser Kibbutz von Nürnberger Juden gegründet
worden.
Sie erzählten mir, wie ihre Gemeinschaft
entstanden war. Auch damals wurde das Essen zu allen Tageszeiten im gemeinsamen
Speisesaal eingenommen. Dort traf man sich auch, um die Arbeit des nächsten
Tages zu besprechen.
Zurück bin ich mit dem Schiff in die Türkei
gefahren, weiter getrampt, über Bulgarien, Jugoslawien, Österreich und die
Schweiz.
4. Berlin
Seit Januar 1961 wohnte ich in Westberlin, zuerst
bei Leuten zur Untermiete in der Lutherstraße, der Rosenheimer Straße und der
Stübbenstraße. Gearbeitet habe ich in einer Druckerei in der Lüzowstraße.
Im Sommer wollte ich nochmal eine lange Reise
machen, diesmal in die skandinavischen Länder. Bin durch Norwegen bis
Hammerfest getrampt, dabei habe ich die Mitternachtssonne und die Tage ohne
Dunkelheit erlebt. Weiter bin ich zum Inari-See in Finnland. Von dort wollte
ich nach Schweden wandern. Ich war schon eine Woche gewandert, war bei den
Goldgräbern am Lemenjoki. Zum Essen hatte ich nur Haferflocken mitgenommen. Das
reichte, weil es unglaublich viele und große Heidelbeeren gab. Dann kam der 13.
August 1961. „Das gibt Krieg“, war die Meinung der Leute hier. Bin dann
innerhalb von ein paar Wochen zurück getrampt.
Seit 1962 hatte ich eine eigene Wohnung in der
Kurfürstenstraße (auf der Schöneberger Seite zwischen Potsdamer Straße und dem
Güterbahngelände) im 5. Stock im Seitenflügel, die Toilette war auf dem Hof,
Miete 19,80 DM. In der Wohnung habe ich sieben Jahre gewohnt. Bei der
Renovierung bin ich in die Fußstapfen meines Vaters getreten. Der erste
Anstrich blätterte schon Tage später ab… Niemand kontrollierte mich, so habe
ich viel gelernt, selbst Elektroleitungen habe ich verlegt.
Ich habe in der SPD und bei den Falken in
Schöneberg mitgearbeitet. Ich war Kreisdelegierter der Schöneberger SPD. Bei
der Bezirksbürgermeisterwahl hat mich einer, der als SPD-Kandidat von den
Kreisdelegierten gewählt werden wollte, zu einem Gespräch eingeladen. Er fragte
mich, ob ich als Schüler des Berlinkollegs mit meinem Geld auskommen würde. Er
bot an, mir einen Studentenjob bei der Bewag zu besorgen, wenn ich ihn bei der
Wahl unterstützen würde.
Auf einer Veranstaltung der Kreisdelegierten
sprach Egon Bahr zum Thema „Wandel durch Annäherung“. Ich habe mich in der
Diskussion zu Wort gemeldet. Als ich am Rednerpult stand, war ich leer im Kopf.
Ich muss wohl angenommen haben, wenn ich am Rednerpult stehe, fällt mir schon
etwas ein. Der Versammlungsleiter hatte wohl Mitleid mit mir, nahm mich von
sich aus noch mal dran, ich brachte wieder nichts raus. Das hat mich Monate
lang belastet. Das war für mich eine Lehre: Von da an habe ich mich immer
vorbereitet, wenn ich auf einer Veranstaltung was sagen wollte.
Bei den Schöneberger Falken gab es eine Gruppe
für ältere Jugendliche und Erwachsene, die sich mit Themen aus einer radikal
linken Sicht beschäftigt haben. Hier hielt Rudi Dutschke schon 1962 einen
Vortrag.
Eine andere Gruppe bei den Falken, darunter
war ein Schriftsetzer und ich als Drucker, kaufte eine kleine handbetriebene
Druckmaschine und andere Werkzeuge, die man für die Herstellung einer
Zeitschrift benötigte. Damit haben wir die oppositionelle Falken-Zeitschrift
„radikal“ hergestellt. Anfangs schrieben wir alle Artikel selber.
Seit 1963 war ich am Berlinkolleg, in 2 ½
Jahren habe ich Abitur gemacht. Seit Wintersemester 1965 habe ich
Volkswirtschaftslehre an der FU studiert. Die ersten Semester war ich fleißig,
dann begann die Studentenrevolte. 1967 war ich als ASTA-Mitglied für Finanzen
gewählt worden. Der Haushalt des ASTA umfasste ca. 2 Millionen DM. In diesen
Jahren hatte die Buchhaltung keinen besonders hohen Rang unter den Aufgaben des
ASTA. Mein Vorgänger hatte mir eine total chaotische Buchführung hinterlassen.
Ich hatte zwar Buchführung gelernt, aber nicht wie man in so einer Situation
verfährt. Am Ende hatte ich ein Erfolgserlebnis, die andern ASTA-Mitglieder
waren mit meiner Arbeit zufrieden und eine vom Abgeordnetenhaus eingesetzte
Kommission zur Kontrolle der ASTA-Finanzen und der ASTA-Buchhaltung erhob
keinen einzigen Einwand.
Im Juli und August 1968 war ich mit einer
Gruppe von vier FU-Studenten in Prag. Wir hatten in einem Seminar ein Referat
über die Wirtschaftsreformen in der der CSSR übernommen. Mit einer der Vieren,
Barbara, lebe ich seit der Zeit zusammen, irgendwann haben wir geheiratet und
haben einen Sohn zusammen. Nächstes Jahr ist Goldene Hochzeit, wenn es um die
Zeit des Zusammenlebens geht.
Am Morgen des 21. August weckten uns unsere
Wirtsleute in Prag mit „Österreich-Ungarn ist einmarschiert“. Da sie wenig
Deutsch sprachen, holten sie uns an ihr Radio. In vielen Sprachen wurde eine
TASS-Meldung verbreitet: „Von wichtigen Mitgliedern des ZK sind die
Bruderländer gebeten worden einzuschreiten, um das Abgleiten der CSSR in den
Kapitalismus zu verhindern.“ Beeindruckend war, wie die Prager vor allem die
Soldaten der Roten Armee davon überzeugen wollten, dass die Wirtschaftsreformen
auch im Interesse der andern sozialistischen Länder sein würden. Der politische
Einfluss auf die Wirtschaft sollte eingeschränkt werden und die Beschäftigten
in den Betrieben sollten mehr Mitspracherechte bekommen. Die Prager waren sehr
aktiv, aber gegen so eine Übermacht hatten sie keine Chance.
Worum ging es in der Studentenrevolte?
Wichtige Themen der Auseinandersetzung unter den Studenten und der linken
Studenten in die Gesellschaft hinein waren die beabsichtigten Notstandsgesetze,
der Krieg der Amerikaner in Vietnam, die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen
in Deutschland der 60er Jahre, die mangelnde Beschäftigung mit der
Nazi-Vergangenheit, die Bürgerrechtsbewegung in den USA zur Gleichstellung der
Schwarzen.
Diskutiert wurden typisch linke Fragen. Wer
ist das revolutionäre Subjekt der sozialistischen Revolution? Marx hatte dafür
die Arbeiterklasse entdeckt, Lenin Berufsrevolutionäre, Mao Tsetung, die
chinesischen Bauern, Rudi Dutschke meinte, die Arbeiterklasse sei so
manipuliert, dass sie für sozialistische Politik nicht mehr ansprechbar wäre.
Für ihn waren die Studenten, Intellektuellen und Randgruppen das revolutionäre
Subjekt.
An solchen Fragen entzündete sich ein Kampf um
die richtige Linie und führte zu einer großen Zersplitterung der
Studentenbewegung. Kommunistische Gruppen, die sich an der SED, an den
Kommunisten Chinas, Nordkoreas, Albaniens, Kubas anlehnten. Trotzkistische
Gruppen und anarchistische gab es schon länger. Es gab linke Gewerkschafter,
die sich im Sozialistischen Büro organisierten. Einige Studenten hörten auf zu
studieren und begannen in einem Betrieb zu arbeiten, um so die Revolution
voranzutreiben. Ich fühlte mich eher einer ökologisch orientierten
Alternativkultur zugehörig.
In diesen Jahren habe ich formell wenig
studiert. Ich war in selbstorganisierten Gruppen und in Veranstaltungen der
linken Studenten. In so einem Rahmen haben wir über mehrere Jahre die drei
Bände des Kapitals von Marx durchgearbeitet. Solche Lesezirkel haben mich durch
mein ganzes Leben begleitet. Jetzt bin ich auch schon wieder in einem.
Ich war in eine andere Welt geraten: Junge
Leute, die diszipliniert wissenschaftlich arbeiten konnten, die Klarheit in
ihren Gedanken hatten, druckreif redeten. Das beindruckte mich total, weil ich
das nicht konnte.
Viele hassten ihre Väter, weil sie engagierte
Nazis waren oder weil sie sich rausredeten: „hätten nichts gewusst“, „was
hätten sie tun sollen“, „hätten niemanden getötet, immer vorbei geschossen“.
Alle wollten, dass endlich Schluss mit dem Gerede über die NS-Vergangenheit und
ihre Bewältigung gemacht werden soll. Hier ist es zu einer Änderung der Haltung
der Deutschen gekommen, dazu hat auch die Studentenrevolte beigetragen.
Wie habe ich das Studium finanziert? Am
Berlinkolleg bekam ich ein Stipendium von der Gewerkschaftsstiftung. Während
der ersten Hälfte meiner Studentenzeit bekam ich ein Stipendium nach dem
Honeffer Modell. Für Kinder, deren Eltern zu den Geringverdienern zählten. In
der anderen Hälfte hatte ich einen relativ gut bezahlten Job als Tutor in
Statistik.
Ein paar Jahre lebte ich in der Wohngemeinschaft
meiner Frau (Augsburger/Ecke Nürnberger Straße). Als wir geheiratet hatten,
bekamen wir eine Wohnung am Innsbrucker Platz.
5. Darmstadt
Irgendwie sind wir nach Darmstadt geraten. 1971
machte meine Frau ihr Examen in Soziologie. Sie hat sich für mehrere Stellen
beworben. Ab 1972 arbeitete sie als Dozentin an der Fachhochschule Darmstadt.
Ich war, obwohl ich im 14. Semester studiert
habe, noch nicht auf ein Examen eingestellt. Zum Glück hatte ich zur rechten
Zeit Freunde, die mich zum Examen gedrängt haben. So habe ich ein Jahr nach ihr
mein Examen in Volkswirtschaftslehre gemacht. Ende 1973 bekam ich eine Stelle
als Referendar und später als Lehrer an der Martin-Behaim-Schule, einer
kaufmännischen Berufsschule, in Darmstadt. Ich habe vor allem in
Industriekaufleute-Klassen und in einer Schulform der kaufmännischen
Weiterbildung unterrichtet. Die Arbeitsteilung war an dieser Schule gut gelöst:
in der Berufsschule nach Berufen von Deutsch über Informatik bis zu den
wirtschaftlichen Fächern, in der Weiterbildung hatte ich mich auf
Volkswirtschaftslehre und Personalwesen spezialisiert. Bei den
Industriekaufleuten war es so, dass von fünf Jahrgangsklassen drei Klassen aus
Abiturienten bestanden. Für die Weiterbildung war Voraussetzung ein kaufmännischer
Abschluss. In der Regel habe ich Erwachsene unterrichtet. Bis 2005, also 32
Jahre, war ich an dieser Schule.
Neben der Arbeit als Lehrer war ich aktiv in
linksalternativen Gruppen und Bürgerinitiativen. Wir haben eine ÖKOOP
gegründet. Damals gab es noch keine Bio-Produkte zu kaufen. Deshalb haben wir
Produkte nach ökologischen Kriterien gemeinsam gekauft. 1980 trat ich den
GRÜNEN bei. 1985 kandidierten wir zum ersten Mal für die
Stadtverordnetenversammlung, auf Anhieb bekamen wir fast 10% der Stimmen. Vier
Parteien waren im lokalen Parlament. Drei von denen bildeten eine Koalition
gegen die GRÜNEN. Alles hatten sie abgesprochen. Wenn der GRÜNE keine Fragen
oder Vorschläge zu den Tagesordnungspunkten hatte, aus denen sich dann eine
Diskussion entwickelte, war die Sitzung in 5 Minuten zu Ende. Vier Jahre später
hatten wir uns verdoppelt, nochmal vier Jahre weiter hatten die GRÜNEN 25,6%,
es gab drei fast gleich große Parteien im Parlament: SPD, CDU, GRÜNE. Es gab
verschiedene rot-grüne Koalitionen und jetzt eine grün-schwarze. Seit 2012 gibt
es in Darmstadt einen grünen Oberbürgermeister, der vor einem Monat im ersten
Wahlgang wiedergewählt worden ist. Von 1989 bis 1996 war ich
Fraktionsvorsitzender der GRÜNEN in Darmstadt. 1998 bin ich wegen der Zustimmung
zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr aus der Partei ausgetreten.
Meine Frau war seit den 90er Jahren am Aufbau
des Wohnprojekts „Wohnsinn“ in Darmstadt beteiligt. Von 2008 an bis 2016
wohnten wir in dem neu erbauten zweiten Gebäude dieser Wohnungsgenossenschaft.
In zwei Hausgemeinschaften wohnen ungefähr 150 Personen in 75 Wohnungen. Die
Genossenschaft ist ein selbstverwaltetes Projekt, möglichst viel soll von den
Bewohnern selbst geschafft werden. Nur die Buchführung wird nach außen vergeben
und sehr wenig an Handwerksbetriebe.
Zwei Jahre war ich im Vorstand. Dann bin ich
zurückgetreten und wir haben im Streit das Projekt verlassen. Wohin? Nur Berlin
kam für uns in Frage: Hier kannten wir uns einigermaßen aus, hatten Freunde und
unser Sohn lebt hier.
Solange ich Kommunalpolitiker war, hatte ich
keine Lust und wenig Zeit größere Reisen zu machen. Mit Frau und Sohn mal ein
paar Wochen nach England, Holland oder Belgien, mehr nicht. Mit meinem Sohn,
als er zwischen 6 und 15 Jahre alt war, bin ich öfter in den Herbstferien nach
Kreta, Ibiza, Mallorca und Elba gefahren.
All die Jahre in Darmstadt bin ich mit einem
Freund fast jede Woche im angrenzenden Odenwald oder hessischem Ried gewandert.
Beide Landschaften habe ich so gut kennen gelernt, auch schätzen gelernt,
obwohl ich als ökologisch orientierter Mensch auch viele Probleme gesehen habe.
Seit 1995 bin ich wieder auf Fernreisen
gegangen, erst nur in den großen Ferien und nach 2005 im Jahr mehrere Monate.
Meistens bin ich nach Russland gefahren. Auf der ersten Reise dorthin habe ich
im Ural Leute kennengelernt, die schnell gute Freunde wurden. Sie haben mich
auf Bootswanderungen am Oberlauf von Nebenflüssen der großen sibirischen Flüsse
mitgenommen. Anschließend an diese Bootswanderungen bin ich alleine in Sibirien
in verschiedene Gegenden gefahren. Diese Russlandreisen mache ich mit
Eisenbahn, Bus und im Sommer mit Schiff. Einmal war ich 3 ½ Monate unterwegs
nach Vladivostok, auf der Rückfahrt bin ich zu dem Freund im Ural. Er nahm mich
auf eine Dienstreise nach Magnitogorsk mit. Im dortigen Hüttenwerk konnte ich
mich einer Betriebsführung anschließen. Danach sind wir mit anderen Freunden
zusammen auf eine Bootswanderung gegangen. So ähnlich habe ich das oft gemacht.
Seit vier Jahren reise ich mit einem Freund
und Dolmetscher. Über meine Reisen schreibe ich Reiseberichte. Es gäbe viel zu
erzählen. Ein Beispiel will ich anführen.
Rundgang
durch ein Tatarendorf am Rand von Tjumen.
Als wir
zum Treffen kamen, standen ein Ehepaar und eine Frau da. Ich gab allen die Hand
und sagte meinen Vornamen. Keiner der anderen Männer gab einer Frau die Hand,
nur den Männern. Ich fragte nach. Die Antwort von allen war: "Hier macht
man das so." Auch von den Frauen. Sie gaben niemandem die Hand und
stellten sich nicht vor.
Arsen, der
den Rundgang führte, erzählte uns am Anfang etwas über die Herkunft der
sibirischen Tataren. (Es gibt noch Kasan- und die Krimtataren.) Viele waren mit
der Goldenen Horde Dschingis Khans gekommen, als Söldner und als Freiwillige
aus ganz unterschiedlichen Völkern. Sie vermischten sich mit Türken, die da
schon länger lebten und mit den Ureinwohnern, den Mansi. Am Ende sprachen alle
Tatarisch, eine Turksprache.
Arsen
macht besondere Führungen. Er sagt nur das Wichtigste. Bisher waren immer
Experten dabei oder man hatte Gelegenheit, sich über interessante Themen mit
andern Teilnehmern zu unterhalten.
Das
Ehepaar hatte im sibirischen Norden bei der Gasförderung gearbeitet. Sie
konnten deshalb schon mit 55 Jahren in Rente gehen. Um in ihrer neuen
Wohngegend vertraut zu werden, streiften sie überall umher. Sie stießen dabei
an hohe undurchsichtige Blechzäune, um große Grundstücke herum. Sie: "Die
reichen Leute müssen doch was zu verbergen haben und wollen ihr unrechtmäßig
erworbenes Eigentum sichern."
Eine junge
Frau sprach uns an, sie will ihren Traum verwirklichen, sie möchte jeden
Quadratmeter der Welt erkunden. Sie sei aber nicht an Sehenswürdigkeiten
interessiert, sondern an den Träumen und Gefühlen der Leute in den besuchten
Ländern. Später fragte sie mich ernsthaft, ob ich ein Spion sei, weil ich
fotografiert habe und in ein Heft schrieb.
Eine Frau
erzählte von ihrer verstorbenen Mutter. Sie war als junge Frau im Krieg
Zwangsarbeiterin in Deutschland. Sie war einer Bauernfamilie in Uelzen
zugeteilt worden, sollte sich um die zwei kleinen Kinder der Familie kümmern
und war neben dem Bauern die einzige Person, die Kühe melken konnte. Der größte
Wunsch ihrer Mutter war, zu erfahren, was aus den Kindern geworden war. Jetzt
wollte sie als Tochter diese Aufgabe übernehmen.
Ein alter
Tatare, der mit uns ging, sprach immer wieder Leute in Tatarisch an, die er für
Tataren hielt, aber sie antworteten in Russisch. Das enttäuschte ihn. Es war ja
mal ein tatarisches Dorf gewesen und jetzt sprach wohl kaum noch jemand diese
Sprache hier.
Am Wege
hackten zwei Männer Holz. Sie hörten, dass wir nicht Russisch redeten. Sofort
drängte es einen, etwas loszuwerden: "Mein Urgroßvater ist als Kulak zu
vielen Jahren Lagerhaft im Norden Sibiriens verurteilt worden. Das nach der
Revolution erhaltene Land ist ihm genommen worden. Die anschließende Verbannung
verbrachte er in diesem Dorf. Wir als seine Enkel blieben hier.“ Einheimische
wollen über so was nicht reden.
Damit wird
man in Russland oft angesprochen.
Die Angst
vor Spionen ist immer noch stark verbreitet.
Obwohl die
russische Kultur eine europäische ist, stößt man auf anders geartete
Traditionen, Gewohnheiten und Normen. Das macht solche Reisen für mich
interessant.
Überall in
Russland trifft man auf Menschen aus indigenen Völkern, deren Sprache am
Aussterben ist.
Es gibt
viele Erinnerungen an den stalinistischen Terror, von dem zunächst die
Verurteilten, die „Volksfeinde“, betroffen waren, aber auch deren Frauen und
Kinder hatten es schwer. Und wie ist es heute für die Einzelnen und die
Familienangehörigen aus der Riesenarmee der Justizangehörigen und des
Wachpersonals?
Und es
gibt Erinnerungen an den 2.Weltkrieg, wo Angehörige gefallen sind, als
Kriegsgefangene ermordet wurden. Andere waren als Zwangsarbeiter in Deutschland
und als sie nach dem Krieg zurückkamen, wurden sie zum Teil zu sowjetischer
Zwangsarbeit verurteilt.