Donnerstag 2. März 2017
Ibrahim Ceylan, Geschäftsmann
www.ceylans.de
Der Geschäftsmann Ibrahim
Ceylan lebt seit 1970 in Berlin. Er besitzt einen Familienbetrieb, in dem Gourmet-Feinkostsalate
hergestellt werden, so wie sie von seiner Großmutter vor 70 Jahren in Anatolien
gemacht wurden, ohne Chemie und Konservierungsstoffe. „Es ist ein bezahlbarer
Genuss“, sagt Ibrahim, „und man kann davon leben.“ Bis es dazu kam, war es ein
steiniger Weg. Ibrahim berichtet humorvoll und ein wenig selbstironisch, wie er
die schwierigen Hürden genommen hat.
Ibrahim erblickt 1953 in einem kleinen anatolischen Dorf das
Licht der Welt. Das Dorf liegt in den Bergen auf 2.300 Meter Höhe. Im Sommer
wird es nicht wärmer als 20 Grad, im langen Winter herrscht Eiseskälte. Die
Menschen müssen fast immer eine warme Jacke tragen. Im Dorf leben alevitische
Kurden weitab von den großen Städten. In den vergangenen Jahrhunderten wurden
die Aleviten immer wieder von den sunnitisch geprägten Regierungen verfolgt, so
dass sie sich ins Gebirge zurückgezogen haben. Sie sprechen untereinander
Kurdisch. „Die Menschen lebten dort wie im Mittelalter“, sagt Ibrahim, „die
meisten hatten noch nie eine Stadt besucht. Erst wenn die jungen Männer zur
Armee mussten, lernten sie auch eine Großstadt kennen.“ Jeder Weg ist
beschwerlich und kostspielig. Und so warten die Familien, bis mehrere Kinder
geboren werden, um sie alle auf einmal in der Kreisstadt anzumelden. Es können
schon einige Jahre vergehen. Der Standesbeamte schlägt Ibrahims Vater vor für
seinen Sohn ein späteres Geburtsdatum einzutragen, dann könne er der Familie
ein Jahr mehr bei der Landwirtschaft helfen, bevor er den Militärdienst
antritt. So kommt es, dass in Ibrahims Pass das Geburtsjahr 1954 verzeichnet
ist.
Im Dorf gibt es weder fließendes Wasser noch Strom, auch keine
Geschäfte. Die Bewohner stellen fast alles selber her, was man zum Leben
braucht. Zum Beispiel Schuhe. Das Leder stammt von einer geschlachteten Ziege,
aus dem die Großmutter die Schuhe genäht hat. Beim Schlachten wird alles
verwertet, nichts weggeworfen. Die Kinder tragen Sandaletten mit Holzsohlen. Erst
Jahre später lernt Ibrahim richtige Schuhe kennen; da lebt die Familie aber
schon in Ankara. Der Vater hat dort vor einigen Jahren eine Arbeit gefunden. Einmal
im Jahr besucht er die Familie und übergibt das gesparte Geld dem Großvater,
wie es Sitte ist. Dann bleibt er zwei Wochen und sorgt für weiteren Nachwuchs.
Nach dem dritten Urlaub kündigt sich Ibrahims erster Bruder an.
Als Ibrahim vier Jahre alt ist, holt der Vater seine Frau
und die beiden Söhne nach Ankara. Er ist Nachtwächter bei einem Holzgroßhandel
und muss auf einem Riesengelände die offen gelagerten Paletten bewachen. Unterstützt
wird er von einem Kollegen, der ebenfalls seine Familie mitgenommen hat. Beiden
wird eine Unterkunft auf dem Werksgelände zugewiesen. Ibrahims vierköpfige
Familie erhält eine Einzimmerwohnung, und der Kollege, ein Tatare, kann mit
seiner Frau und drei Töchtern eine Zweizimmerwohnung beziehen. Die Kinder
freunden sich an, aber sie können nicht miteinander sprechen, denn Ibrahim kann
kein Türkisch. Die tatarische Familie
erscheint Ibrahim sehr modern, denn die beiden hübschen Mädchen tragen Miniröcke,
und sie bringen ihm Türkisch bei. In das jüngere Mädchen, das ein Jahr älter
ist als er, verliebt sich Ibrahim. Mit sieben Jahren wird Ibrahim in Ankara
eingeschult.
1963 verlässt der Vater die Türkei und geht ins „gelobte
Land“ ALEMANYA. Einmal im Jahr besucht er seine Familie für vier Wochen. Nach
drei Jahren bleibt er ganz weg. Er schickt Geld, aber im Lauf der Zeit wird es
weniger. Nun muss Ibrahim für die Familie Verantwortung übernehmen. Inzwischen hat
er drei jüngere Brüder und ist 13 Jahre alt. Sein Onkel, Besitzer eines
Kohlenlagers, wo auch Holzkohle verkauft wird, bietet ihm eine Arbeit an.
Ibrahim hat angelieferte, in große Stücke geschnittene Baumstämme zu entladen
und zu stapeln, den ganzen Tag lang. Erst arbeitet er nur samstags und
sonntags, dann täglich. Nebenbei geht er zur Schule. Sein erster Bruder ist
noch zu jung und kann noch nicht helfen. Nicht weit vom Betrieb des Onkels
spielen die Nachbarskinder Fußball. Ibrahim schaut sehnsüchtig hin. Manchmal
lassen die Kinder ihn mitspielen. Aber wenn der Onkel pfeift, muss er sofort
aufhören.
Dann die Nachricht aus Deutschland: Die Familie soll nach
Berlin kommen. Besorgt euch die Pässe, die Tickets schicke ich euch, schreibt
der Vater. Die Vorbereitungen sind bald getroffen (man brauchte damals noch
kein Visum), und die fünf warten nur noch auf die Flugkarten. Aber sie treffen
nicht ein. Nach fast einem Jahr meldet sich der Besuch einer befreundeten
Familie an, ein Ehepaar mit zwei Töchtern. Sie leben in Düsseldorf und machen
jedes Jahr Heimaturlaub in der Türkei, dabei schauen sie stets bei den alten
Freunden vorbei. Der Mann ist ein Arbeitskollege von Ibrahims Vater. Die Mutter
erzählt, dass sie schon so lange auf die Tickets warten. Spontan macht der
Besuch einen Vorschlag: Fahrt doch mit uns zurück nach Deutschland, wir sind
mit zwei Autos da. Ein Freund ist allein in seinem Auto gekommen, den könnten
wir fragen, ob er euch mitnehmen kann. Der Freund sagt zu. Abfahrt in zwei
Wochen. Eilig löst die Mutter den
Haushalt auf und verschenkt die restlichen Möbel an die Verwandtschaft.
Endlich kommt der Tag, an dem die Mutter mit ihren vier
Söhnen ins Auto steigt. „Über die abenteuerliche Reise selbst will ich keine
Einzelheiten berichten, nur, dass wir mehrere Unfälle und Pannen hatten und
dadurch fünf Tage und fünf Nächte unterwegs waren. Wir waren total erschöpft,
als wir endlich Deutschland erreicht hatten“, sagt Ibrahim, „aber noch nicht
unser endgültiges Ziel.“ Wegen eines Totalschadens in Österreich müssen sie für
den letzten Abschnitt der Reise auf die Bahn umsteigen. In Duisburg steigen sie
aus; der Fahrer wohnt ein halbe Autostunde entfernt. Sie beschließen ein Taxi
zu nehmen. Da aber nicht alle mitgenommen werden können, sollen Ibrahim und
Mahmut auf dem Bahnhof warten, bis sie abgeholt werden. Sie setzen sich auf
eine Bank und fallen sofort in einen tiefen Schlaf. Nach 10 Stunden wacht
Ibrahim auf. Es ist 6 Uhr morgens. Sein Blick schweift über den Bahnhof und
stoppt bei einem jungen Paar, das sich küsst. Peinlich berührt dreht er den
Kopf weg. Da sieht er noch ein eng umschlungenes Paar. Ibrahim glaubt seinen
Augen nicht zu trauen. Mahmut, sagt er zu seinem Bruder, kneif mich bitte, oder
träume ich? Da antwortet Mahmut: Du träumst nicht. Ich sehe das auch! „Das war
mein erster Eindruck von Deutschland“, resümiert Ibrahim. „Noch nie habe ich
ein sich küssendes Paar gesehen; nicht einmal meine Eltern haben sich vor uns
einen Kuss gegeben.“
Jetzt meldet sich der Hunger, aber die Jungen haben kein
Geld. Da kommt ein Mann mit einem schwarzen Schnurrbart vorbei. Den sprechen
wir an, vielleicht ist es ein Türke, sagt Mahmut und bittet ihn erst einmal um
Münzen für die Toilette. Als sie zurückkommen ist der Türke noch da. Mutig
sagen sie ihm, dass sie hungrig seien, aber nichts bezahlen können. Der Türke verschwindet
kurz und kommt zurück mit einer großen Tüte knackig-frischer Brötchen. „Was für
ein Genuss! Es war herrlich in eines dieser Brötchen hineinzubeißen! Wir
kannten doch nur das weiche Fladenbrot“, erklärt Ibrahim.
Dann kehrt endlich der Mann zurück,
der sie mit seinem Auto nach Deutschland gebracht hat. Er sei auf dem Stuhl zu
Haus eingeschlafen, sagt er entschuldigend. Er habe ein Telegramm nach Berlin geschickt
und den Vater gebeten seine Familie abzuholen. Am nächsten Tag steht der Vater
mit einem Auto vor der Tür, das er sich von einem Freund geliehen hat, und
packt seine Familie ein. Es ist August 1970.
In Berlin wohnen sie alle zusammen
in einer Einzimmerwohnung. Es dauert einen Monat, bis die Familie mitbekommt,
dass diese Wohnung gar nicht dem Vater gehört, sondern einem Freund. Der Vater
hat längst eine Freundin, bei der er auch wohnt. Dorthin kann er
verständlicherweise seine Familie nicht mitnehmen. Es dauert noch vier Wochen,
bis die Familie eine andere Wohnung findet. Seit 1971 gehen die Kinder auch zur
Schule. Alle vier Brüder kommen in dieselbe Klasse. Sie sprechen noch kein Wort
Deutsch und lernen die Sprache mit nur mäßigem Erfolg. Extra-Sprachkurse gibt
es nicht.
Mit 17 Jahren verlässt Ibrahim die
Schule und beginnt eine Arbeit in einer Polizeikantine. Zwei Jahre lang wäscht
er Geschirr ab, hilft bei der Essenausgabe und erträgt, dass es jeden Freitag
Fisch gibt, „diesen typisch deutschen Fisch!“ In der Spülküche kleben an allen
freien Stellen große Zettel an den Wänden beschriftet mit Wörtern auf Deutsch
und Türkisch. Was heißt Tisch, Teller, Topf auf Deutsch? Ibrahims Kollegen bemühen
sich ihm besseres Deutsch beizubringen, und er gibt sich jetzt viel Mühe.
1973 ist Ibrahim so weit, dass er
eine dreieinhalbjährige Lehre als Elektromonteur machen kann. 1974 schlendert
er Hand in Hand mit einem Mädchen auf dem U-Bahnhof Kurfürstenstraße, küsst es
und wundert sich über sich selbst: „Da war ich wohl endgültig in Deutschland
angekommen!“
Kurz vor Abschluss der Lehrzeit laden
ihn zwei Freunde zu einem Fest in Ost-Berlin ein. Ibrahim mag nicht, will sich
aber lieber auf seine Prüfungen vorbereiten. Das akzeptieren die beiden nicht,
denn Anlass des Festes ist eine Wohnungseinweihung, bei der Damenüberschuss
erwartet wird. Die Gastgeberin würde sich über weitere männliche Gäste freuen.
Eine überzeugende Begründung; Ibrahim sagt zu.
Noch nie ist Ibrahim über die
Grenze gefahren und in Ost-Berlin gewesen. Das ist das erste Abenteuer dieses
denkwürdigen Tages. Das zweite ist die Begegnung mit Silvia.
Sie wird ihm später erzählen, dass
sie eigentlich gar keine Lust hatte auf die Einweihungsfeier ihrer
Schulfreundin, weil drei Ausländer aus West-Berlin angekündigt wurden. Das
konnten ja nur Türken sein. Ihre Mutter ermunterte sie jedoch. Nun hätte sie
schon das Geschenk besorgt. Geh hin, du brauchst ja nicht lange zu bleiben,
sagte sie.
Ibrahim und Silvia unterhalten
sich gut auf dem Fest. Sie merken nicht, wie die Zeit vergeht. Im Morgengrauen fährt
Ibrahim Silvia in seinem selbst verdienten und aufgearbeiteten Auto nach Hause.
Silvia bittet ihn sie noch bis in die Wohnung zu begleiten, denn es sei ein
bisschen spät geworden. Inzwischen ist es neun Uhr morgens. Silvias Mutter
öffnet die Tür. Das ist Ibrahim, sagt Silvia. Lächelnd wird er hereingebeten.
Ibrahim ist erstaunt. So viel Freundlichkeit hat er nicht erwartet. Woher
kommen Sie? fragt die Mutter. Aus Anatolien. Liegt das in Armenien? Nein, in
der Türkei. So beginnt das erste lange Gespräch mit seiner zukünftigen
Schwiegermutter. Sie ist Opernsängerin in der Komischen Oper gewesen. Als
Sopranistin sang sie alle wichtigen Titelrollen ihres Fachs und war eine Diva unter
dem berühmten Regisseur Felsenstein. Auf Tourneen hat sie zahlreiche Städte des
Ostblocks besucht. Weil ihre Stimmbänder verletzt waren, musste sie aufhören zu
singen. Sie hätte in Italien oder in der BRD operiert werden müssen, doch sie
bekam kein Visum. Man operierte sie in der DDR. Die Operation misslang, und
ihre Karriere war damit beendet.
Von nun an fährt Ibrahim nach der
Arbeit mehrmals wöchentlich über die Grenze, um seine Liebe zu besuchen. Bis 6
Uhr morgens muss er spätestens wieder ausreisen. Zwei Jahre später ändert die
DDR das Gesetz, und West-Berliner müssen spätestens um 24 Uhr zurückkehren.
Manchmal reist Ibrahim dann eine halbe Stunde später wieder nach Ost-Berlin
ein. „Wenn man verliebt ist, macht man Dinge, die man sonst nicht tun würde“,
kommentiert Ibrahim. Es ist eine aufregende, aber auch anstrengende Zeit. 1978
wird Maria geboren. Bei der Namensnennung lässt Ibrahim Silvia den Vortritt.
„Wäre es ein männlicher Nachfolger, hätte ich ihm natürlich einen türkischen
Namen gegeben.“ Sie stellen einen
Ausreiseantrag, der ein Jahr später genehmigt wird. „Wir haben viel Glück
gehabt“, meint Ibrahim.
Nach Beendigung der Ausbildung will
Ibrahim endlich mehr Geld verdienen. Das geht am besten mit einem eigenen Geschäft,
glaubt er und verzichtet auf eine Weiterbeschäftigung als Elektromonteur. Was liegt
näher als ein Döner-Laden! „Es gibt so viele Türken mit einem Schnurrbart, die
Döner verkaufen und noch nicht mal Deutsch sprechen. Was die können, kann ich
schon lange, dachte ich damals.“ Ibrahim unterzieht sich einer dreitägigen
Schnellausbildung im Dönerladen eines Freundes, fühlt sich danach als
„Dönermeister“ und kauft für 70.000 DM ein Döner-Geschäft in der Bergmannstraße,
für das er sich mit 35.000 DM verschuldet. Dann versucht er das Geschäft zum
Laufen zu bringen. Jetzt ist auch der Zeitpunkt von Silvias Ausreise gekommen.
Sie heiraten und wohnen zunächst mit Klein-Maria bei seinen Eltern. Der
Dönerladen beansprucht viel Zeit, Ibrahim arbeitet täglich 16 Stunden und sieht
seine Frau wenig. Trotzdem fährt das Geschäft kaum Gewinne ein. Schließlich
verkauft er den Laden mit 35.000 DM Verlust.
Silvia und Ibrahim arbeiten ab
jetzt in ihren Berufen, sie als Sekretärin, er als Elektromonteur. Nachdem ihre
Schulden abbezahlt sind und es ihnen nach einigen Jahren wieder gut geht,
besucht sie ein Freund, der einen Obst- und Gemüsestand auf Märkten betreiben
möchte. Er schlägt Ibrahim vor, das Geschäft mit ihm gemeinsam zu betreiben,
weil Ibrahim leichter als er an eine Gewerbeerlaubnis kommen kann. Ibrahim
überlegt und sagt schließlich zu. Sie kaufen einen kleinen Bus und fangen mit
„Obst und Gemüse“ an. Ibrahim arbeitet aber weiterhin auch in seinem Beruf. Nach
einem halben Jahr trennen sich die beiden und teilen sich ihre vier Stände.
Ibrahim macht mit zwei Ständen weiter. Nach einigen Jahren stellt er fest, dass
er allein vom Obst–und –Gemüse–Verkauf leben kann und gibt seine Stelle als
Elektromonteur auf.
Erneut ein folgenschwerer Besuch:
Ein guter Freund verrät ihm, dass er beruflich umgesattelt hat und jetzt sehr
viel mehr Geld verdient. Ibrahim wird neugierig: Wie machst du das? – Ich
handele mit Aktien. Ibrahim nimmt es zunächst nur zur Kenntnis; das ist nicht
sein Metier. Doch der Freund besucht ihn immer wieder auf dem Markt und
wiederholt seine Worte, bis es Ibrahim genauer wissen will. In der Wohnung des
Freundes schauen sie sich gemeinsam die Papiere von der Deutschen Bank an: für
10.000 DM gekauft, nach einigen Wochen für 20.000 DM verkauft. Der Freund zeigt
ihm zwanzig Beispiele, alle mit hohen Gewinnen. Jetzt ist Ibrahim überzeugt,
sucht ohne das Wissen seiner Frau die Bank auf und kauft auf Anraten seines
Freundes japanische Optionsscheine für 20.000 DM. Nach 14 Tagen verkauft er sie
für 30.000 DM. Da muss ein Fehler vorliegen, sagt sein verunsicherter Freund
und erkundigt sich vorsichtshalber bei der Bank. Doch alles hat seine
Richtigkeit. Ibrahim besorgt erst mal bei Kaiser’s eine Flasche Champagner. Und
macht weiter. Alle Optionsgeschäfte werfen hohe Gewinne ab. Als er die 50.000
erreicht, gesteht er es seiner Frau: Nie wollte er sich in Bankgeschäfte
einmischen, doch nun habe er es getan. Aus dem gemeinsamen Geld, 20.000 DM,
sind jetzt 50.000 DM geworden. – Dann lass uns doch neue Möbel kaufen,
antwortet Silvia.
15.000 DM geben sie für die neue
Einrichtung aus. Ibrahim hat weiterhin Glück, er ist ja schon fast ein
Wirtschaftsprofi. Nach zwei Jahren ist der Gewinn auf 850.000 DM angewachsen.
Seine Frau schlägt vor 500.000 DM in die Schweiz zu transferieren. Aber Ibrahim
ist vom Spekulationsfieber gepackt. Warte noch, meint er, ich möchte noch die
Million erreichen, um einmal im Leben ein echter Millionär zu sein. Bei jedem
Gewinn trifft er sich mit Freunden im KaDeWe zu frisch eingeflogenem Lachs aus
Alaska und bestem französischen Champagner. Die Kosten von rund 400 DM sind
doch Peanuts! Bei der Bank wird er nur noch vom Direktor empfangen, auch dort
bietet man ihm Champagner an. Der Bankdirektor steht zwar den japanischen
Optionsscheinen skeptisch gegenüber, aber Broker Ibrahim beweist dem studierten
Wirtschaftsmann, dass das Geschäft funktioniert.
So läuft es zwei fette Jahre lang.
Dann kommt die Ölkrise. Ibrahim lernt, dass die japanischen Optionsgeschäfte
vom Ölpreis abhängig sind. Nach einem Monat sind seine Aktien nur noch 400.000
DM wert, nach zwei Monaten 200.000 DM. Ibrahim will es noch einmal versuchen,
dazu überzieht er sein Konto mit 52.000 DM. Schließlich verliert er alles.
Übrig bleiben die Schulden. Die Spekulation wurde zur Sucht.
Also wieder zurück zu „Obst und
Gemüse“. Ibrahim hatte inzwischen alles verkauft und muss von vorn anfangen.
Für einen Kredit wendet er sich an seinen Bankdirektor. Dieser ist aber nicht
mehr für ihn zu sprechen. Er muss mit einem Angestellten vorliebnehmen, der seinen
Kreditwunsch in Höhe von 30.000 DM ablehnt. Auch seine Freunde helfen nicht,
sie alle hätten ihr Geld fest angelegt. Schließlich leiht ihm sein Bruder die
notwendige Summe. Ibrahim sucht sich in der Stadt einen günstigen Platz, wo er
seinen Stand aufbaut. Das Geschäft geht gut. Bald kann er für 30.000 DM ein
Geschäft für Obst und Gemüse und weitere Lebensmittel erwerben, das er zwei
Jahre später für 200.000 DM verkaufen kann. Ein zweites Geschäft bringt nach
dem Verkauf 165.000 DM.
Mit diesen Erlösen kann Ibrahim
seine Schulden in Höhe von 250.000 DM bezahlen. Letztlich musste er 365.000 DM
dafür aufbringen, eine bittere Erkenntnis.
Einmal bereitet Ibrahim in der
Küche seines Geschäfts für seine fünf Mitarbeiter das Essen zu. Ein guter
Verkaufsabschluss soll gefeiert werden. Ein Kunde schaut herein und sagt: Es
riecht hier so gut, was ist denn das? Eiersalat, antwortet Ibrahim und reicht
ihm eine Kostprobe in einem Fladenbrot. Dem Kunden schmeckt es und er möchte
gleich eine Portion mitnehmen. Leider geht das nicht, sagt Ibrahim, aber ich
kann ihnen morgen frischen Eiersalat anbieten. Noch nachts werden zwei Kilo
Eiersalat zubereitet und in die Theke gestellt. Das Rezept stammt von der
anatolischen Großmutter, Ibrahim erinnert sich gut und hat ein begabtes Händchen
für die richtigen Proportionen: Eier, Frühlingszwiebeln, Schnittlauch, etwas
Petersilie, Olivenöl, Pfeffer und Salz. „Alles ohne Mayonnaise“, betont
Ibrahim.
Zur großen Überraschung hat der
Eiersalat reißenden Absatz. Jeden Tag werden die herzustellenden Mengen größer.
Dann fällt Ibrahim ein noch einen Kartoffelsalat nach dem Rezept seiner Mutter
(ebenfalls ohne Mayonnaise) anzubieten. Auch dieser kommt bei den Kunden gut
an. Nach einiger Zeit zeichnet es sich ab, dass die Kunden stärker an den Salaten
als an den anderen Angeboten interessiert sind. Warum nicht noch andere Salate
herstellen? Ibrahim braucht mehr Rezepte und wendet sich an Mutter und Großmutter.
Zwei Monate später legt sich Ibrahim einen Anhänger zu, stattet ihn mit seinen
Salaten aus, stellt ihn an den Markttagen auf dem Boxhagener Platz auf und
öffnet die Klappe. Die Leute stehen Schlange! Nach drei Monaten bekommt er das
erste Kaufangebot für seinen Laden, und nach einem Jahr mietet er für die
Salatherstellung eine Küche an.
Die Menge der täglich zu
verarbeitenden Eier steigt ins scheinbar Unermessliche. Bisher wurde der
Eiersalat zu Hause in Ibrahims Küche hergestellt. Frau und Kinder mussten
mithelfen, täglich hundert und mehr Eier zu kochen, abzupellen und zu
zerkleinern. Der Geruch verteilte sich in der ganzen Wohnung. Die Freude am
Eiersalat sank auf den Nullpunkt. So ist die neue Salat-Küche als große
Erleichterung zu sehen. Ibrahim schafft zwei weitere Anhänger an und macht
einen Laden in der Frankfurter Allee auf. Für die Produktion braucht er jetzt
noch mehr Platz und mietet eine ausgediente
Schulküche mit 300 Quadratmetern an. Schließlich kann er mit fünf Anhängern die
Märkte bedienen. „Und so bin ich durch einen Zufall Feinkost-Hersteller
geworden“, beendet Ibrahim dieses Kapitel.
Seine Frau ist längst ins Geschäft
eingestiegen, hat alles mit aufgebaut und ist leidenschaftlich dabei. Schwierige
Lebensphasen meistern die beiden mit Selbstbewusstsein, gegenseitigem Vertrauen
und Humor. Ibrahim erinnert sich an die Anfangsphasen der Ehe, als die beiden
mit Maria noch bei seinen Eltern wohnten. Kamen Verwandte zu Besuch mischten
sie sich ein: Warum trägt Maria keinen türkischen Namen? Oder sie sagten: Du
bist jetzt Muslima, Silvia, weil Du einen türkischen Mann geheiratet hast. Doch
Silvia und Ibrahim machten deutlich, dass sie so leben wollen, wie sie es für
richtig halten. Ibrahims Eltern ließen sie in Ruhe. Dann kommt das zweite Kind,
wieder ein Mädchen, und Ibrahim darf ihm einen türkischen Namen geben: Phylis.
Familienglück, Geschäft und Vermögenslage sind perfekt, als nach einigen Jahren
Silvia an Parkinson erkrankt. Sie leidet an einer besonders schmerzhaften Form
der Krankheit. 10 Jahre lang kämpft sie dagegen, schließlich verliert sie. 28
Jahre hat ihre Ehe gedauert. „Wir waren sehr glücklich verheiratet. Nie fiel
ein böses Wort. Selbst als ich unser ganzes Geld verloren habe, machte Silvia
mir keine Vorwürfe. Im Gegenteil, sie ermunterte mich zu einem Neuanfang, und
ich versprach ihr keine ‚Experimente’ mehr zu machen.“
Das ist jetzt 13 Jahre her.
Ibrahim hat sein Geschäft ständig weiterentwickelt. Mit Kaiser’s Tengelmann
vereinbart er, dass er deren Supermärkte mit Salaten beliefert. Es gibt
Anfragen aus dem Westen Deutschlands. Erneut stehen Erweiterungen an. Er erwirbt
in der Oberlandstraße eine Produktionsfläche von 840 Quadratmetern, in der jetzt
8 Angestellte für die Herstellung seiner Feinkostsalate zuständig sind. Dazu
gehört auch Tochter Maria. Sie ist gelernte Maskenbildnerin (die deutsche Oma
war ja bei der Oper), inzwischen verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Doch
nun sattelt sie beruflich um und steigt in das Geschäft des Vaters ein. Vielleicht
wird sie es mal übernehmen. Wenn nicht, sind ja noch die Enkel da, meint
Ibrahim. Phylis, die zweite Tochter, hat ein Kind, ist Wirtschaftsingenieurin
und arbeitet als Programmiererin. Beide Töchter sind mit einem Deutschen
verheiratet. Ibrahim bedauert es, dass er früher keine Zeit hatte seinen
Töchtern Türkisch beizubringen. Aber sie lernen von sich aus in Abendschulen
Türkisch. So wie es seine Frau schon getan hatte. Und Maria lernt es auch noch im
Betrieb von den Angestellten. Ibrahim hat jetzt eine neue Lebensgefährtin, engagiert
sich in verschiedenen Vereinen und übernimmt dort Aufgaben. Besonders wichtig
ist ihm die Verbindung zu seinen Landsleuten.
Alle zwei bis drei Jahre besucht
Ibrahim sein Heimatdorf in Anatolien. Er liebt das Leben dort, trotz der
einfachen Verhältnisse. Immerhin gibt es inzwischen Wasser und Strom. Von den
ehemals 40 Familien leben nur noch vier Familien dort. Das Haus des Großvaters
ist in sich zusammengefallen. Die Jungen sind in die Städte gezogen. Aber sie
kommen zu Besuch und bringen viele Geschenke mit. Ibrahim schwärmt von der
Butter und dem Käse, die dort hergestellt werden, und davon, wie gern er dem
Schäfer bei seiner Arbeit zuschaut. Bei der nächsten Reise will er seinen zehnjährigen
Enkelsohn mitnehmen. Oft denkt er an seine Mutter. Sie war Analphabetin und
wusste nicht sein Geburtsdatum, aber sie konnte es genau beschreiben: „Du bist
in dem Winter geboren, an dem es den meisten Schnee gegeben hat.“
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