Freitag, 28. April 2017

29. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag 2. März 2017

Ibrahim Ceylan, Geschäftsmann
www.ceylans.de


Der Geschäftsmann Ibrahim Ceylan lebt seit 1970 in Berlin. Er besitzt einen Familienbetrieb, in dem Gourmet-Feinkostsalate hergestellt werden, so wie sie von seiner Großmutter vor 70 Jahren in Anatolien gemacht wurden, ohne Chemie und Konservierungsstoffe. „Es ist ein bezahlbarer Genuss“, sagt Ibrahim, „und man kann davon leben.“ Bis es dazu kam, war es ein steiniger Weg. Ibrahim berichtet humorvoll und ein wenig selbstironisch, wie er die schwierigen Hürden genommen hat.

Ibrahim erblickt 1953 in einem kleinen anatolischen Dorf das Licht der Welt. Das Dorf liegt in den Bergen auf 2.300 Meter Höhe. Im Sommer wird es nicht wärmer als 20 Grad, im langen Winter herrscht Eiseskälte. Die Menschen müssen fast immer eine warme Jacke tragen. Im Dorf leben alevitische Kurden weitab von den großen Städten. In den vergangenen Jahrhunderten wurden die Aleviten immer wieder von den sunnitisch geprägten Regierungen verfolgt, so dass sie sich ins Gebirge zurückgezogen haben. Sie sprechen untereinander Kurdisch. „Die Menschen lebten dort wie im Mittelalter“, sagt Ibrahim, „die meisten hatten noch nie eine Stadt besucht. Erst wenn die jungen Männer zur Armee mussten, lernten sie auch eine Großstadt kennen.“ Jeder Weg ist beschwerlich und kostspielig. Und so warten die Familien, bis mehrere Kinder geboren werden, um sie alle auf einmal in der Kreisstadt anzumelden. Es können schon einige Jahre vergehen. Der Standesbeamte schlägt Ibrahims Vater vor für seinen Sohn ein späteres Geburtsdatum einzutragen, dann könne er der Familie ein Jahr mehr bei der Landwirtschaft helfen, bevor er den Militärdienst antritt. So kommt es, dass in Ibrahims Pass das Geburtsjahr 1954 verzeichnet ist.

Im Dorf gibt es weder fließendes Wasser noch Strom, auch keine Geschäfte. Die Bewohner stellen fast alles selber her, was man zum Leben braucht. Zum Beispiel Schuhe. Das Leder stammt von einer geschlachteten Ziege, aus dem die Großmutter die Schuhe genäht hat. Beim Schlachten wird alles verwertet, nichts weggeworfen. Die Kinder tragen Sandaletten mit Holzsohlen. Erst Jahre später lernt Ibrahim richtige Schuhe kennen; da lebt die Familie aber schon in Ankara. Der Vater hat dort vor einigen Jahren eine Arbeit gefunden. Einmal im Jahr besucht er die Familie und übergibt das gesparte Geld dem Großvater, wie es Sitte ist. Dann bleibt er zwei Wochen und sorgt für weiteren Nachwuchs. Nach dem dritten Urlaub kündigt sich Ibrahims erster Bruder an.

Als Ibrahim vier Jahre alt ist, holt der Vater seine Frau und die beiden Söhne nach Ankara. Er ist Nachtwächter bei einem Holzgroßhandel und muss auf einem Riesengelände die offen gelagerten Paletten bewachen. Unterstützt wird er von einem Kollegen, der ebenfalls seine Familie mitgenommen hat. Beiden wird eine Unterkunft auf dem Werksgelände zugewiesen. Ibrahims vierköpfige Familie erhält eine Einzimmerwohnung, und der Kollege, ein Tatare, kann mit seiner Frau und drei Töchtern eine Zweizimmerwohnung beziehen. Die Kinder freunden sich an, aber sie können nicht miteinander sprechen, denn Ibrahim kann kein Türkisch.  Die tatarische Familie erscheint Ibrahim sehr modern, denn die beiden hübschen Mädchen tragen Miniröcke, und sie bringen ihm Türkisch bei. In das jüngere Mädchen, das ein Jahr älter ist als er, verliebt sich Ibrahim. Mit sieben Jahren wird Ibrahim in Ankara eingeschult.
1963 verlässt der Vater die Türkei und geht ins „gelobte Land“ ALEMANYA. Einmal im Jahr besucht er seine Familie für vier Wochen. Nach drei Jahren bleibt er ganz weg. Er schickt Geld, aber im Lauf der Zeit wird es weniger. Nun muss Ibrahim für die Familie Verantwortung übernehmen. Inzwischen hat er drei jüngere Brüder und ist 13 Jahre alt. Sein Onkel, Besitzer eines Kohlenlagers, wo auch Holzkohle verkauft wird, bietet ihm eine Arbeit an. Ibrahim hat angelieferte, in große Stücke geschnittene Baumstämme zu entladen und zu stapeln, den ganzen Tag lang. Erst arbeitet er nur samstags und sonntags, dann täglich. Nebenbei geht er zur Schule. Sein erster Bruder ist noch zu jung und kann noch nicht helfen. Nicht weit vom Betrieb des Onkels spielen die Nachbarskinder Fußball. Ibrahim schaut sehnsüchtig hin. Manchmal lassen die Kinder ihn mitspielen. Aber wenn der Onkel pfeift, muss er sofort aufhören.

Dann die Nachricht aus Deutschland: Die Familie soll nach Berlin kommen. Besorgt euch die Pässe, die Tickets schicke ich euch, schreibt der Vater. Die Vorbereitungen sind bald getroffen (man brauchte damals noch kein Visum), und die fünf warten nur noch auf die Flugkarten. Aber sie treffen nicht ein. Nach fast einem Jahr meldet sich der Besuch einer befreundeten Familie an, ein Ehepaar mit zwei Töchtern. Sie leben in Düsseldorf und machen jedes Jahr Heimaturlaub in der Türkei, dabei schauen sie stets bei den alten Freunden vorbei. Der Mann ist ein Arbeitskollege von Ibrahims Vater. Die Mutter erzählt, dass sie schon so lange auf die Tickets warten. Spontan macht der Besuch einen Vorschlag: Fahrt doch mit uns zurück nach Deutschland, wir sind mit zwei Autos da. Ein Freund ist allein in seinem Auto gekommen, den könnten wir fragen, ob er euch mitnehmen kann. Der Freund sagt zu. Abfahrt in zwei Wochen. Eilig löst die Mutter den  Haushalt auf und verschenkt die restlichen Möbel an die Verwandtschaft.

Endlich kommt der Tag, an dem die Mutter mit ihren vier Söhnen ins Auto steigt. „Über die abenteuerliche Reise selbst will ich keine Einzelheiten berichten, nur, dass wir mehrere Unfälle und Pannen hatten und dadurch fünf Tage und fünf Nächte unterwegs waren. Wir waren total erschöpft, als wir endlich Deutschland erreicht hatten“, sagt Ibrahim, „aber noch nicht unser endgültiges Ziel.“ Wegen eines Totalschadens in Österreich müssen sie für den letzten Abschnitt der Reise auf die Bahn umsteigen. In Duisburg steigen sie aus; der Fahrer wohnt ein halbe Autostunde entfernt. Sie beschließen ein Taxi zu nehmen. Da aber nicht alle mitgenommen werden können, sollen Ibrahim und Mahmut auf dem Bahnhof warten, bis sie abgeholt werden. Sie setzen sich auf eine Bank und fallen sofort in einen tiefen Schlaf. Nach 10 Stunden wacht Ibrahim auf. Es ist 6 Uhr morgens. Sein Blick schweift über den Bahnhof und stoppt bei einem jungen Paar, das sich küsst. Peinlich berührt dreht er den Kopf weg. Da sieht er noch ein eng umschlungenes Paar. Ibrahim glaubt seinen Augen nicht zu trauen. Mahmut, sagt er zu seinem Bruder, kneif mich bitte, oder träume ich? Da antwortet Mahmut: Du träumst nicht. Ich sehe das auch! „Das war mein erster Eindruck von Deutschland“, resümiert Ibrahim. „Noch nie habe ich ein sich küssendes Paar gesehen; nicht einmal meine Eltern haben sich vor uns einen Kuss gegeben.“

Jetzt meldet sich der Hunger, aber die Jungen haben kein Geld. Da kommt ein Mann mit einem schwarzen Schnurrbart vorbei. Den sprechen wir an, vielleicht ist es ein Türke, sagt Mahmut und bittet ihn erst einmal um Münzen für die Toilette. Als sie zurückkommen ist der Türke noch da. Mutig sagen sie ihm, dass sie hungrig seien, aber nichts bezahlen können. Der Türke verschwindet kurz und kommt zurück mit einer großen Tüte knackig-frischer Brötchen. „Was für ein Genuss! Es war herrlich in eines dieser Brötchen hineinzubeißen! Wir kannten doch nur das weiche Fladenbrot“, erklärt Ibrahim.

Dann kehrt endlich der Mann zurück, der sie mit seinem Auto nach Deutschland gebracht hat. Er sei auf dem Stuhl zu Haus eingeschlafen, sagt er entschuldigend. Er habe ein Telegramm nach Berlin geschickt und den Vater gebeten seine Familie abzuholen. Am nächsten Tag steht der Vater mit einem Auto vor der Tür, das er sich von einem Freund geliehen hat, und packt seine Familie ein. Es ist August 1970.

In Berlin wohnen sie alle zusammen in einer Einzimmerwohnung. Es dauert einen Monat, bis die Familie mitbekommt, dass diese Wohnung gar nicht dem Vater gehört, sondern einem Freund. Der Vater hat längst eine Freundin, bei der er auch wohnt. Dorthin kann er verständlicherweise seine Familie nicht mitnehmen. Es dauert noch vier Wochen, bis die Familie eine andere Wohnung findet. Seit 1971 gehen die Kinder auch zur Schule. Alle vier Brüder kommen in dieselbe Klasse. Sie sprechen noch kein Wort Deutsch und lernen die Sprache mit nur mäßigem Erfolg. Extra-Sprachkurse gibt es nicht.

Mit 17 Jahren verlässt Ibrahim die Schule und beginnt eine Arbeit in einer Polizeikantine. Zwei Jahre lang wäscht er Geschirr ab, hilft bei der Essenausgabe und erträgt, dass es jeden Freitag Fisch gibt, „diesen typisch deutschen Fisch!“ In der Spülküche kleben an allen freien Stellen große Zettel an den Wänden beschriftet mit Wörtern auf Deutsch und Türkisch. Was heißt Tisch, Teller, Topf auf Deutsch? Ibrahims Kollegen bemühen sich ihm besseres Deutsch beizubringen, und er gibt sich jetzt viel Mühe.

1973 ist Ibrahim so weit, dass er eine dreieinhalbjährige Lehre als Elektromonteur machen kann. 1974 schlendert er Hand in Hand mit einem Mädchen auf dem U-Bahnhof Kurfürstenstraße, küsst es und wundert sich über sich selbst: „Da war ich wohl endgültig in Deutschland angekommen!“

Kurz vor Abschluss der Lehrzeit laden ihn zwei Freunde zu einem Fest in Ost-Berlin ein. Ibrahim mag nicht, will sich aber lieber auf seine Prüfungen vorbereiten. Das akzeptieren die beiden nicht, denn Anlass des Festes ist eine Wohnungseinweihung, bei der Damenüberschuss erwartet wird. Die Gastgeberin würde sich über weitere männliche Gäste freuen. Eine überzeugende Begründung; Ibrahim sagt zu.

Noch nie ist Ibrahim über die Grenze gefahren und in Ost-Berlin gewesen. Das ist das erste Abenteuer dieses denkwürdigen Tages. Das zweite ist die Begegnung mit Silvia.
Sie wird ihm später erzählen, dass sie eigentlich gar keine Lust hatte auf die Einweihungsfeier ihrer Schulfreundin, weil drei Ausländer aus West-Berlin angekündigt wurden. Das konnten ja nur Türken sein. Ihre Mutter ermunterte sie jedoch. Nun hätte sie schon das Geschenk besorgt. Geh hin, du brauchst ja nicht lange zu bleiben, sagte sie.

Ibrahim und Silvia unterhalten sich gut auf dem Fest. Sie merken nicht, wie die Zeit vergeht. Im Morgengrauen fährt Ibrahim Silvia in seinem selbst verdienten und aufgearbeiteten Auto nach Hause. Silvia bittet ihn sie noch bis in die Wohnung zu begleiten, denn es sei ein bisschen spät geworden. Inzwischen ist es neun Uhr morgens. Silvias Mutter öffnet die Tür. Das ist Ibrahim, sagt Silvia. Lächelnd wird er hereingebeten. Ibrahim ist erstaunt. So viel Freundlichkeit hat er nicht erwartet. Woher kommen Sie? fragt die Mutter. Aus Anatolien. Liegt das in Armenien? Nein, in der Türkei. So beginnt das erste lange Gespräch mit seiner zukünftigen Schwiegermutter. Sie ist Opernsängerin in der Komischen Oper gewesen. Als Sopranistin sang sie alle wichtigen Titelrollen ihres Fachs und war eine Diva unter dem berühmten Regisseur Felsenstein. Auf Tourneen hat sie zahlreiche Städte des Ostblocks besucht. Weil ihre Stimmbänder verletzt waren, musste sie aufhören zu singen. Sie hätte in Italien oder in der BRD operiert werden müssen, doch sie bekam kein Visum. Man operierte sie in der DDR. Die Operation misslang, und ihre Karriere war damit beendet.

Von nun an fährt Ibrahim nach der Arbeit mehrmals wöchentlich über die Grenze, um seine Liebe zu besuchen. Bis 6 Uhr morgens muss er spätestens wieder ausreisen. Zwei Jahre später ändert die DDR das Gesetz, und West-Berliner müssen spätestens um 24 Uhr zurückkehren. Manchmal reist Ibrahim dann eine halbe Stunde später wieder nach Ost-Berlin ein. „Wenn man verliebt ist, macht man Dinge, die man sonst nicht tun würde“, kommentiert Ibrahim. Es ist eine aufregende, aber auch anstrengende Zeit. 1978 wird Maria geboren. Bei der Namensnennung lässt Ibrahim Silvia den Vortritt. „Wäre es ein männlicher Nachfolger, hätte ich ihm natürlich einen türkischen Namen gegeben.“  Sie stellen einen Ausreiseantrag, der ein Jahr später genehmigt wird. „Wir haben viel Glück gehabt“, meint Ibrahim.

Nach Beendigung der Ausbildung will Ibrahim endlich mehr Geld verdienen. Das geht am besten mit einem eigenen Geschäft, glaubt er und verzichtet auf eine Weiterbeschäftigung als Elektromonteur. Was liegt näher als ein Döner-Laden! „Es gibt so viele Türken mit einem Schnurrbart, die Döner verkaufen und noch nicht mal Deutsch sprechen. Was die können, kann ich schon lange, dachte ich damals.“ Ibrahim unterzieht sich einer dreitägigen Schnellausbildung im Dönerladen eines Freundes, fühlt sich danach als „Dönermeister“ und kauft für 70.000 DM ein Döner-Geschäft in der Bergmannstraße, für das er sich mit 35.000 DM verschuldet. Dann versucht er das Geschäft zum Laufen zu bringen. Jetzt ist auch der Zeitpunkt von Silvias Ausreise gekommen. Sie heiraten und wohnen zunächst mit Klein-Maria bei seinen Eltern. Der Dönerladen beansprucht viel Zeit, Ibrahim arbeitet täglich 16 Stunden und sieht seine Frau wenig. Trotzdem fährt das Geschäft kaum Gewinne ein. Schließlich verkauft er den Laden mit 35.000 DM Verlust.

Silvia und Ibrahim arbeiten ab jetzt in ihren Berufen, sie als Sekretärin, er als Elektromonteur. Nachdem ihre Schulden abbezahlt sind und es ihnen nach einigen Jahren wieder gut geht, besucht sie ein Freund, der einen Obst- und Gemüsestand auf Märkten betreiben möchte. Er schlägt Ibrahim vor, das Geschäft mit ihm gemeinsam zu betreiben, weil Ibrahim leichter als er an eine Gewerbeerlaubnis kommen kann. Ibrahim überlegt und sagt schließlich zu. Sie kaufen einen kleinen Bus und fangen mit „Obst und Gemüse“ an. Ibrahim arbeitet aber weiterhin auch in seinem Beruf. Nach einem halben Jahr trennen sich die beiden und teilen sich ihre vier Stände. Ibrahim macht mit zwei Ständen weiter. Nach einigen Jahren stellt er fest, dass er allein vom Obst–und –Gemüse–Verkauf leben kann und gibt seine Stelle als Elektromonteur auf.

Erneut ein folgenschwerer Besuch: Ein guter Freund verrät ihm, dass er beruflich umgesattelt hat und jetzt sehr viel mehr Geld verdient. Ibrahim wird neugierig: Wie machst du das? – Ich handele mit Aktien. Ibrahim nimmt es zunächst nur zur Kenntnis; das ist nicht sein Metier. Doch der Freund besucht ihn immer wieder auf dem Markt und wiederholt seine Worte, bis es Ibrahim genauer wissen will. In der Wohnung des Freundes schauen sie sich gemeinsam die Papiere von der Deutschen Bank an: für 10.000 DM gekauft, nach einigen Wochen für 20.000 DM verkauft. Der Freund zeigt ihm zwanzig Beispiele, alle mit hohen Gewinnen. Jetzt ist Ibrahim überzeugt, sucht ohne das Wissen seiner Frau die Bank auf und kauft auf Anraten seines Freundes japanische Optionsscheine für 20.000 DM. Nach 14 Tagen verkauft er sie für 30.000 DM. Da muss ein Fehler vorliegen, sagt sein verunsicherter Freund und erkundigt sich vorsichtshalber bei der Bank. Doch alles hat seine Richtigkeit. Ibrahim besorgt erst mal bei Kaiser’s eine Flasche Champagner. Und macht weiter. Alle Optionsgeschäfte werfen hohe Gewinne ab. Als er die 50.000 erreicht, gesteht er es seiner Frau: Nie wollte er sich in Bankgeschäfte einmischen, doch nun habe er es getan. Aus dem gemeinsamen Geld, 20.000 DM, sind jetzt 50.000 DM geworden. – Dann lass uns doch neue Möbel kaufen, antwortet Silvia.

15.000 DM geben sie für die neue Einrichtung aus. Ibrahim hat weiterhin Glück, er ist ja schon fast ein Wirtschaftsprofi. Nach zwei Jahren ist der Gewinn auf 850.000 DM angewachsen. Seine Frau schlägt vor 500.000 DM in die Schweiz zu transferieren. Aber Ibrahim ist vom Spekulationsfieber gepackt. Warte noch, meint er, ich möchte noch die Million erreichen, um einmal im Leben ein echter Millionär zu sein. Bei jedem Gewinn trifft er sich mit Freunden im KaDeWe zu frisch eingeflogenem Lachs aus Alaska und bestem französischen Champagner. Die Kosten von rund 400 DM sind doch Peanuts! Bei der Bank wird er nur noch vom Direktor empfangen, auch dort bietet man ihm Champagner an. Der Bankdirektor steht zwar den japanischen Optionsscheinen skeptisch gegenüber, aber Broker Ibrahim beweist dem studierten Wirtschaftsmann, dass das Geschäft funktioniert.

So läuft es zwei fette Jahre lang. Dann kommt die Ölkrise. Ibrahim lernt, dass die japanischen Optionsgeschäfte vom Ölpreis abhängig sind. Nach einem Monat sind seine Aktien nur noch 400.000 DM wert, nach zwei Monaten 200.000 DM. Ibrahim will es noch einmal versuchen, dazu überzieht er sein Konto mit 52.000 DM. Schließlich verliert er alles. Übrig bleiben die Schulden. Die Spekulation wurde zur Sucht.

Also wieder zurück zu „Obst und Gemüse“. Ibrahim hatte inzwischen alles verkauft und muss von vorn anfangen. Für einen Kredit wendet er sich an seinen Bankdirektor. Dieser ist aber nicht mehr für ihn zu sprechen. Er muss mit einem Angestellten vorliebnehmen, der seinen Kreditwunsch in Höhe von 30.000 DM ablehnt. Auch seine Freunde helfen nicht, sie alle hätten ihr Geld fest angelegt. Schließlich leiht ihm sein Bruder die notwendige Summe. Ibrahim sucht sich in der Stadt einen günstigen Platz, wo er seinen Stand aufbaut. Das Geschäft geht gut. Bald kann er für 30.000 DM ein Geschäft für Obst und Gemüse und weitere Lebensmittel erwerben, das er zwei Jahre später für 200.000 DM verkaufen kann. Ein zweites Geschäft bringt nach dem Verkauf 165.000 DM.
Mit diesen Erlösen kann Ibrahim seine Schulden in Höhe von 250.000 DM bezahlen. Letztlich musste er 365.000 DM dafür aufbringen, eine bittere Erkenntnis.

Einmal bereitet Ibrahim in der Küche seines Geschäfts für seine fünf Mitarbeiter das Essen zu. Ein guter Verkaufsabschluss soll gefeiert werden. Ein Kunde schaut herein und sagt: Es riecht hier so gut, was ist denn das? Eiersalat, antwortet Ibrahim und reicht ihm eine Kostprobe in einem Fladenbrot. Dem Kunden schmeckt es und er möchte gleich eine Portion mitnehmen. Leider geht das nicht, sagt Ibrahim, aber ich kann ihnen morgen frischen Eiersalat anbieten. Noch nachts werden zwei Kilo Eiersalat zubereitet und in die Theke gestellt. Das Rezept stammt von der anatolischen Großmutter, Ibrahim erinnert sich gut und hat ein begabtes Händchen für die richtigen Proportionen: Eier, Frühlingszwiebeln, Schnittlauch, etwas Petersilie, Olivenöl, Pfeffer und Salz. „Alles ohne Mayonnaise“, betont Ibrahim.

Zur großen Überraschung hat der Eiersalat reißenden Absatz. Jeden Tag werden die herzustellenden Mengen größer. Dann fällt Ibrahim ein noch einen Kartoffelsalat nach dem Rezept seiner Mutter (ebenfalls ohne Mayonnaise) anzubieten. Auch dieser kommt bei den Kunden gut an. Nach einiger Zeit zeichnet es sich ab, dass die Kunden stärker an den Salaten als an den anderen Angeboten interessiert sind. Warum nicht noch andere Salate herstellen? Ibrahim braucht mehr Rezepte und wendet sich an Mutter und Großmutter. Zwei Monate später legt sich Ibrahim einen Anhänger zu, stattet ihn mit seinen Salaten aus, stellt ihn an den Markttagen auf dem Boxhagener Platz auf und öffnet die Klappe. Die Leute stehen Schlange! Nach drei Monaten bekommt er das erste Kaufangebot für seinen Laden, und nach einem Jahr mietet er für die Salatherstellung eine Küche an.

Die Menge der täglich zu verarbeitenden Eier steigt ins scheinbar Unermessliche. Bisher wurde der Eiersalat zu Hause in Ibrahims Küche hergestellt. Frau und Kinder mussten mithelfen, täglich hundert und mehr Eier zu kochen, abzupellen und zu zerkleinern. Der Geruch verteilte sich in der ganzen Wohnung. Die Freude am Eiersalat sank auf den Nullpunkt. So ist die neue Salat-Küche als große Erleichterung zu sehen. Ibrahim schafft zwei weitere Anhänger an und macht einen Laden in der Frankfurter Allee auf. Für die Produktion braucht er jetzt noch mehr Platz und mietet  eine ausgediente Schulküche mit 300 Quadratmetern an. Schließlich kann er mit fünf Anhängern die Märkte bedienen. „Und so bin ich durch einen Zufall Feinkost-Hersteller geworden“, beendet Ibrahim dieses Kapitel.

Seine Frau ist längst ins Geschäft eingestiegen, hat alles mit aufgebaut und ist leidenschaftlich dabei. Schwierige Lebensphasen meistern die beiden mit Selbstbewusstsein, gegenseitigem Vertrauen und Humor. Ibrahim erinnert sich an die Anfangsphasen der Ehe, als die beiden mit Maria noch bei seinen Eltern wohnten. Kamen Verwandte zu Besuch mischten sie sich ein: Warum trägt Maria keinen türkischen Namen? Oder sie sagten: Du bist jetzt Muslima, Silvia, weil Du einen türkischen Mann geheiratet hast. Doch Silvia und Ibrahim machten deutlich, dass sie so leben wollen, wie sie es für richtig halten. Ibrahims Eltern ließen sie in Ruhe. Dann kommt das zweite Kind, wieder ein Mädchen, und Ibrahim darf ihm einen türkischen Namen geben: Phylis. Familienglück, Geschäft und Vermögenslage sind perfekt, als nach einigen Jahren Silvia an Parkinson erkrankt. Sie leidet an einer besonders schmerzhaften Form der Krankheit. 10 Jahre lang kämpft sie dagegen, schließlich verliert sie. 28 Jahre hat ihre Ehe gedauert. „Wir waren sehr glücklich verheiratet. Nie fiel ein böses Wort. Selbst als ich unser ganzes Geld verloren habe, machte Silvia mir keine Vorwürfe. Im Gegenteil, sie ermunterte mich zu einem Neuanfang, und ich versprach ihr keine ‚Experimente’ mehr zu machen.“

Das ist jetzt 13 Jahre her. Ibrahim hat sein Geschäft ständig weiterentwickelt. Mit Kaiser’s Tengelmann vereinbart er, dass er deren Supermärkte mit Salaten beliefert. Es gibt Anfragen aus dem Westen Deutschlands. Erneut stehen Erweiterungen an. Er erwirbt in der Oberlandstraße eine Produktionsfläche von 840 Quadratmetern, in der jetzt 8 Angestellte für die Herstellung seiner Feinkostsalate zuständig sind. Dazu gehört auch Tochter Maria. Sie ist gelernte Maskenbildnerin (die deutsche Oma war ja bei der Oper), inzwischen verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Doch nun sattelt sie beruflich um und steigt in das Geschäft des Vaters ein. Vielleicht wird sie es mal übernehmen. Wenn nicht, sind ja noch die Enkel da, meint Ibrahim. Phylis, die zweite Tochter, hat ein Kind, ist Wirtschaftsingenieurin und arbeitet als Programmiererin. Beide Töchter sind mit einem Deutschen verheiratet. Ibrahim bedauert es, dass er früher keine Zeit hatte seinen Töchtern Türkisch beizubringen. Aber sie lernen von sich aus in Abendschulen Türkisch. So wie es seine Frau schon getan hatte. Und Maria lernt es auch noch im Betrieb von den Angestellten. Ibrahim hat jetzt eine neue Lebensgefährtin, engagiert sich in verschiedenen Vereinen und übernimmt dort Aufgaben. Besonders wichtig ist ihm die Verbindung zu seinen Landsleuten.


Alle zwei bis drei Jahre besucht Ibrahim sein Heimatdorf in Anatolien. Er liebt das Leben dort, trotz der einfachen Verhältnisse. Immerhin gibt es inzwischen Wasser und Strom. Von den ehemals 40 Familien leben nur noch vier Familien dort. Das Haus des Großvaters ist in sich zusammengefallen. Die Jungen sind in die Städte gezogen. Aber sie kommen zu Besuch und bringen viele Geschenke mit. Ibrahim schwärmt von der Butter und dem Käse, die dort hergestellt werden, und davon, wie gern er dem Schäfer bei seiner Arbeit zuschaut. Bei der nächsten Reise will er seinen zehnjährigen Enkelsohn mitnehmen. Oft denkt er an seine Mutter. Sie war Analphabetin und wusste nicht sein Geburtsdatum, aber sie konnte es genau beschreiben: „Du bist in dem Winter geboren, an dem es den meisten Schnee gegeben hat.“



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen