Mittwoch, 24. Mai 2017

33. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 18. Mai 2017

Dr. Dorothea Kolland – Kultur für alle

Dr. Dorothea Kolland war von 1981 bis 2012 Leiterin des Kulturamtes Neukölln. Sie hat in diesen 31 Jahren aus der „kulturellen Wüste“ Neuköllns eine lebendige Kulturlandschaft gemacht, die weit über die Bezirksgrenze rückt. Mit Überzeugungskraft, Geschick und Wissen setzte sie ihre Vision der „Dezentralen Kulturarbeit“ in die Praxis um. Sie organisierte die notwendigen Räume für die Neuköllner Kultur und machte sie zu bekannten Adressen. In Dorothea Kollands Amtszeit erhielt das Museum Neukölln 1987 den Museumspreis des Europarats; im von ihr geretteten Saalbau wurden mehr als 150 Ausstellungen gezeigt, er war Ort von unzähligen Lesungen, Theater- und Musikveranstaltungen und Festen; in der Galerie am Körnerpark fanden mehr als 170 Skulpturen-, Foto-, Experimental-Ausstellungen für besondere Zielgruppen (vor allem Kinder) statt; die Neuköllner Oper erhielt einen festen Spielort; das Kunst-Festival „48 Stunden Neukölln“ ist sowohl lokal als auch international aufgestellt. Für ihr bürgerschaftliches Engagement im Kulturbereich erhielt sie 1997 das Bundesverdienstkreuz. Dorothea Kolland ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Im Erzählcafé berichtet sie über ihre Anfangszeit als Kulturamtsleiterin. (Siehe auch:
Dr. Martin Steffens, Paul Schwingenschlögl in diesem Heft)

Dorothea Kolland wird 1947 in Selb geboren und wächst in Thierstein (Fichtelgebirge) auf, wo ihr Vater Pfarrer ist. Sie studiert in München und Berlin Musikwissenschaften und promoviert 1978 über die Jugendmusikbewegung. Zur Wahl dieses Themas erklärt sie: „Meine Eltern hatten sich bei einer dieser Singwochen kennengelernt, die von den jungen Leuten in den 1920er-Jahren organisiert wurden. Ich entdeckte zu Hause die alten Liederbücher und staunte über die unglaubliche Vielfalt des Liedguts.“ Dorothea beginnt zu forschen und schreibt darüber ihre Promotion. Später verfasst sie Aufsätze zur Musikgeschichte und über die Musik im und gegen den Faschismus. „Ich habe mein Leben damit verbracht, Kultur zu vermitteln. Schon als Schülerin begann ich, anderen zu helfen, eine Liebe zur Musik zu entwickeln.“ Ihre erste Stelle findet sie in Remscheid als Bildungsreferentin bei der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung. Trotz dieser „aufregenden Arbeit“ möchte Dorothea lieber wieder in Berlin (West) leben, wo ihr Mann noch studiert, und bewirbt sich 1981 auf eine ausgeschriebene Stelle der Kulturamtsleitung in Berlin-Neukölln.

Dass sie sich für Neukölln interessiert, ist kein Zufall. Ihre Forschung über die Jugendmusikbewegung hat sie auch nach Neukölln in das Arbeiterviertel der 1920er-Jahre geführt. Dort findet sie eine einmalige, auf die Bedürfnisse der dort lebenden jungen Menschen zugeschnittene Einrichtung vor: die Volksmusikschule. Sie wurde 1927 unter dem sozialdemokratischen Volksbildungsstadtrat Dr. Kurt Löwenstein im Sinne der Bildungspolitik der Weimarer Reformkräfte gegründet, das gesamte Volk am Musikleben teilhaben zu lassen. 1928 hatte die Volksmusikschule 20 Lehrkräfte und 450 Musikschüler. Im Fokus stand das gemeinsame Musizieren in Singkreisen und Instrumentalgruppen. Dorothea ist beeindruckt von der exzellenten Qualifikation der Lehrkräfte, wie die des damals schon bekannten Komponisten Paul Hindemith, Professor an der Musikhochschule, der ohne Honorar unterrichtete, oder die des Pianisten und Musikwissenschaftlers Dr. Hans Boettcher, der gemeinsam mit Fritz Jöde die musiksoziologische Zeitschrift „Musik und Gesellschaft“ herausgab. In der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit unmittelbar nach Abgabe der Promotion veröffentlicht Dorothea einen Reprint dieser Zeitschrift.

Dorothea ist neugierig , ob von diesem Impetus noch etwas in Neukölln zu spüren ist. Für die freie Stelle der Kulturamtsleitung sind 15 Bewerbungen eingegangen. „Heute wären es 150“, meint Dorothea. Sie wird ausgewählt und soll am 1. August antreten. Kurz darauf wird sie schwanger. „Das erschreckte die Arbeitgeber natürlich. Ich versprach, gleich nach dem gesetzlichen Mutterschutz weiterzuarbeiten. Ich war allein für den Unterhalt meiner Familie zuständig. Mein Mann studierte noch. Und ich wollte ja arbeiten“, sagt Dorothea und fügt ehrlich hinzu, dass es nicht einfach war, mit einem Baby zu starten, andererseits war es für sie persönlich ein perfekter Zeitpunkt.

Die Neuköllner Kulturlandschaft 1981
Dorotheas erstes Augenmerk richtet sich auf die sich neu zusammensetzende Bevölkerung seit dem Zuzug der Gastarbeiter in den 1970er-Jahren. Sie ist nicht mehr nur deutsch, und auf diese Entwicklung muss ihrer Meinung nach die Kulturarbeit reagieren. Dabei kann sie sich auf ihre Erfahrungen aus Remscheid stützen, wo sie Konzepte für eine Kulturarbeit mit eingewanderten Jugendlichen entwickelte und eine der ersten Fachtagungen dazu organisierte. In ihrem Bestreben, die Kulturarbeit zu verändern, findet sie in der Fachbereichsleiterin der Volkshochschule eine Verbündete. Gemeinsam erarbeiten sie Projekte, die sie mit „ausländischen“ (wie man damals sagte) Jugendlichen durchführen. Die notwendigen Gelder beschaffte Dorothea, denn sie weiß, wo und wie man Anträge stellt. In Remscheid wurden enge Kontakte nach Bonn und zum Familienministerium gepflegt. Von Seiten der Abteilung Volksbildung erfährt Dorothea noch wenig Hilfsbereitschaft. Aus der Sicht des Vorgesetzten ist sie eine junge Frau, die eigenwillige Ideen hat und „mit dem Kopf durch die Wand will“. ...„und dann bekommt sie auch noch ein Kind!“

Die Situation des Kulturamts (damals hieß es Kunstamt) in Neukölln im Jahr 1981 bezeichnet Dorothea als desolat. Mehr als zwei Jahre ist es ohne Leitung. Der frühere Verantwortliche war Operettenregisseur, hat den Ruf eines Alkoholikers und spulte die jährlich sich wiederholenden Veranstaltungen ohne neue Ideen ab. Höhepunkte waren im Sommer die Operetten-Aufführungen im Naturtheater Hasenheide und im Winter eine Konzertreihe im Abonnement, wofür er Berliner Ensembles einkaufte. Dorothea, die professionelle Musikerin und Musikwissenschaftlerin, strebt ein höheres Niveau an. Sie versteht ihre Arbeit als Volksbildung, will das Publikum fordern und sorgt dafür, dass bei den Konzerten mindestens ein Werk aus dem 20. Jahrhundert aufgeführt wird. Leider goutiert das Abo-Publikum dieses Angebot nicht. Es gibt Beschwerden und Abmeldungen. „Ich war knallhart, habe meine Vorstellungen durchgezogen, aber strategisch gesehen, war mein Verhalten bestimmt nicht vernünftig“, sagt Dorothea.

Kurz bevor sie in den Mutterschutz geht, findet im Saal des Gemeinschaftshauses Gropiusstadt ein Konzert statt. Nach einem Klavierkonzert soll es die Reformations-Sinfonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy geben. Dafür muss das Podium für das Orchester freigeräumt werden. Dorothea und ihr Mann sitzen im Publikum. Da nichts geschieht, bittet Dorothea einen der beiden Dienst habenden Hausmeister, den Flügel zur Seite zu bewegen. Doch dieser antwortet: Das ist nicht unser Job. Also schieben die hochschwangere Kulturamtsleiterin und ihr Ehemann den Flügel an die vorgesehene Stelle. „In diesem Moment fühlte ich mich mutterseelenallein. Wenn mein Mann nicht da gewesen wäre, hätte ich nicht weitergewusst.

1981 stehen der Kulturarbeit in Neukölln lediglich das Gemeinschaftshaus Gropiusstadt und das Heimatmuseum zur Verfügung. Das Gemeinschaftshaus wurde 1973 errichtet und „hatte mit zwei Mehrzweckräumen den Charme eines Kühlschranks“. Es untersteht dem Volksbildungsstadtrat und nicht dem Kulturamt und liegt an der städtischen Peripherie. Im Herzen von Neukölln befindet sich das Heimatmuseum, die einzige eigene Institution des Kulturamts, seit 1961 in den Räumen der ehemaligen Bibliothek neben dem Stadtbad (Ganghofer Straße). Das Heimatmuseum wurde 1897 von dem Volksschullehrer Emil Fischer gegründet und ursprünglich als schulhistorisches Kabinett in der alten Rixdorfer Schule eingerichtet. Es entstand in der Zeit, als die (Arbeiter-) Bevölkerung rapide zunahm, und das Thema Volksbildung immer wichtiger wurde.

Für Kunstausstellungen müssen die Flure des Rathauses und des Gemeinschaftshauses herhalten. „Dort konnte keine künstlerische Atmosphäre entstehen“, sagt Dorothea und erinnert sich an eine entscheidende Begebenheit: Um die Neuköllner Künstlerinnen und Künstler kennenzulernen, lädt sie zur 1. Neuköllner Freien Kunstausstellung ein. Jeder Künstler, jede Künstlerin hat das Recht ohne Begutachtung von einer Jury ein Bild in den Rathausfluren auszustellen. „Eine Ausstellung ohne Qualitätskriterien mochte ich eigentlich nicht, aber für die Künstler war es eine Errungenschaft.“ Dorothea bittet drei Künstler, eine Hängekommission zu bilden und die Ausstellung zu organisieren. Es ist Winter 1982 und die Zeit der Hausbesetzungen (weniger in Neukölln, meistens in Kreuzberg). Etwa 40 Künstlerinnen und Künstler reichen ihre Bilder ein. Ein Künstler gibt sein Bild verpackt ab, mit der Weisung, es verpackt zu lassen. Auf dem Packpapier steht geschrieben: GEGEN VEBRECHER IN STADT UND LAND. Dazu folgender Hintergrund: Der Künstler erlebt gerade, wie das Nachbargebäude neben seinem Atelier von der Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“ abgerissen wird, obwohl noch Menschen darin wohnen. Sein Atelierhaus steht ebenfalls auf der Abrissliste. „Dadurch, dass er bei seinem Text die Anführungsstriche weggelassen hat, war es zwar keine direkte Anklage, aber jeder wusste, wen er meinte.“ Als die Bilder im Rathaus aufgehängt werden, kommt der Baustadtrat vorbei, sieht den Spruch auf dem verpackten Bild und verbietet die Präsentation dieses Bildes. Das führt zu einem Aufstand der Neuköllner Künstler, die sonst eher friedlich gesinnt sind. Die Künstler bestehen auf der versprochenen Freiheit in der Kunstausstellung. Ihre Antwort: Am Tag der Eröffnung drehen alle ihre Bilder um. Ein Skandal, der wirkt. Dem Bürgermeister, eigentlich ein Kunstfreund, ist das alles sehr unangenehm. Er lädt zu einer Besprechung mit dem Vorsitzenden des Verbandes Bildender Künstler und der Hängekommission ein. Dort wird vereinbart: 1. So etwas darf nicht noch einmal vorkommen. 2. Der Bürgermeister wird sich so schnell wie möglich um einen Raum kümmern, wo Kunst frei ausgestellt werden kann ohne Einmischung durch andere Ressorts. „Das war ein wichtiger Entwicklungsschritt für das Kulturamt.“

Um herauszufinden, wie es mit Kunst und Kultur in Neukölln bestellt ist,  beauftragt Dorothea während der Zeit ihres Mutterschutzes zwei Kunsthistorikerinnen, eine Liste über die in Neukölln anwesenden Kunst- und  Musikschaffenden zusammenzustellen. In Kooperation mit den Zeitschriften TIP und ZITTY, dem Künstlerverband und der Freien Berliner Kunstausstellung finden sie heraus, dass 45 bildende Künstlerinnen und Künstler in Nord-Neukölln wohnen und arbeiten, zwei in der Gropiusstadt. Der Altersdurchschnitt beträgt 65 Jahre, einige wenige sind um die 30 Jahre alt. „Es handelte sich überwiegend um ältere Herren, darunter einige sehr kompetente. Dann gab es noch einige gute Musiker, auch gute Kirchenmusiker.“ Weiterhin findet sich die Amateurtheaterbühne Vineta, die einmal im Jahr an verschiedenen Orten gastiert, und das Figurentheater in der Schinkestraße, das ein Ost-Berliner Puppenspieler etabliert hat.

Dorothea wird allmählich klar, dass der Aufbau einer interkulturellen kommunalen Kulturlandschaft ein langer Prozess mit viel Geduld sein wird. Schon während der Babypause organisiert sie die ersten Internationalen Kulturtage in Neukölln, in die sie Künstler und Künstlerinnen nichtdeutscher Herkunft einbezieht. Im Rathaus Neukölln stellt der bekannte türkischer Maler Metin Talayman seine Bilder aus. „Das war eine Sensation! In unserem Rathaus ein türkischer Maler, mein Gott!“, sagt Dorothea ironisch. „Aber man darf nicht zögern und muss das einfach machen.“

Heimatmuseum
Der erste große Schritt ist ein neues Konzept für das Heimatmuseums. „Es war in einem konzeptionell unbeschreiblichen Zustand.“ Die Ausstellung besteht aus einer beliebigen Aneinanderreihung von Zinnsoldaten, ausgestopften Tieren, Scherben aus den Ausgrabungen in Rudow und Buckow (die wichtigsten Funde landeten im Museum für Vor- und Frühgeschichte in Charlottenburg), Pferdeknochen aus dem 7. Jahrhundert, einem mittelalterlichen Frauenkamm, gefunden im Körnerpark etc. Das Museum besuchen vor allem Grundschulkinder, denen ein Mitarbeiter (ohne Museumsqualifikation) liebevoll die Ausstellung erklärt.
                                   
Nach Dorotheas Vorstellung soll das Heimatmuseum ein Ort regionalgeschichtlicher Forschung werden. Noch fehlen Mittel und Fachkräfte, deshalb lässt sie den Museumsraum ausräumen, um zunächst im Wechsel Themen zu präsentieren, „zu denen die Menschen eine Beziehung haben“. Dabei helfen Spenden Neuköllner Bürger, wie ein mit Notgeld gefüllter Koffer, der Anlass bietet, über die Inflationszeit zu informieren. Die erste eigene Ausstellung des Kulturamts behandelt die Geschichte des Böhmischen Dorfs. Gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Ernst-Abbe-Schule wird die Geschichte der Namensgebung ihrer Schule und damit ein Abschnitt der Neuköllner Zeitgeschichte erarbeitet. Dorothea steuert für eine Ausstellung ihre von der Großmutter geerbten Sammelbilder von „Liebig’s Fleischextrakt“ zur Verfügung, „die viele noch kennen und entzückend finden“.

Mit  der ersten rot-grünen Koalition, die bezirkliche Kulturarbeit ernst nimmt, ergibt sich ab 1982 die Möglichkeit, ABM-Stellen einzurichten. Einige wenige werden in feste Stellen umgewandelt, so dass Fachkräfte eingestellt werden können, die die Neuausrichtung des Museums weiter entwickeln. Die Wahl fällt auf Udo Gößwald, der später die Museumsleitung übernehmen wird. Damit hat das Museum den Einstieg in die Professionalität geschafft. 2010 zieht das Museum in den Gutshof Britz um.

Galerie im Körnerpark
An einem Tag im Jahr 1983 ruft der neue Hochbauamtsleiter im Kulturamt an und bittet Dorothea um einen Termin im Körnerpark. Dorothea hatte noch keine Gelegenheit, den Körnerpark kennenzulernen und ist bei dessen Anblick begeistert. Der Architekt führt sie in das den Park abgrenzende Quergebäude : Können Sie sich vorstellen, daraus eine Galerie zu machen? „Mich traf der Schlag, das war das Dringendste, was wir brauchten! Ich sah sofort, dass das eine wunderschöne Galerie werden kann!“ Das Gebäude, von seinem Erbauer Franz Körner ursprünglich als Orangerie vorgesehen, war durch die Vibration der Tempelhof ansteuernden Flugzeuge baufällig geworden. Das Bezirksamt wollte es künftig an ein gehobenes Restaurant vermieten, doch man sah davon ab, weil man die anwohnende Bevölkerung als nicht ausreichend zahlungskräftig einschätzte. Einen Teil des Gebäudes nutzt zu der Zeit der Maler und Bildhauer Markus Lüperts, um zehn monumentale Bilder für den Neubau des Krankenhauses Neukölln zu malen. Nach einem Kunst-am-Bau-Wettbewerb bekam er für seinen Beitrag den Zuschlag und das Recht, bis zur Fertigstellung seines Auftrags den Seitenflügel als Atelier zu nutzen, in dem  er nun seit vielen Jahren arbeitet, danach soll Lüpertz  das Atelier aufgeben. Aber er zögert die Fertigstellung seines letzten Bildes immer weiter heraus. Letztlich vereinbart Dorothea mit ihm, die Eröffnung der Galerie mit einer Ausstellung seiner Arbeiten zu feiern und damit endlich den Raum freizumachen.

Innerhalb der Bezirksverwaltung gibt es Uneinigkeit über die künftige Nutzung des Gebäudes. So plant der Baustadtrat, dort im Winter die Palmen abzustellen, die für den Körnerpark angeschafft werden sollen. Man einigt sich, das Gebäude lediglich im Sommer als Galerie zu nutzen und im Winter den Palmen das Vorrecht einzuräumen, nach der Devise: „Besser den Spatz in der Hand...“ Nach der erfolgreichen Galerieeröffnung mit „Gott und der Welt“, wie Dorothea erstaunt berichtet, schlägt der Baustadtrat vor, für die Unterbringung der Palmen eine Glaswand einzuziehen, um die Galerie das ganze Jahr bespielen zu können. Nach dem ersten Winter stellt sich heraus, dass der nun abgetrennte Raum für die Palmen zu klein und der Aufwand für den Gärtner zu groß ist, so dass die Palmen künftig in einem anderen Gewächshaus des Bezirks untergebracht werden.

Die Galerie wird in das Vermögen des Kulturamts übertragen. „Bisher haben wir alle Aufgaben für die Galerie zusätzlich gemacht. Wir hatten keinen Extra-Pfennig, weder für die Planung, noch für die Ausstattung.“ Es trifft sich gut, dass die Sekretärin des Stadtrats aufgrund ihrer guten Kontakte zur Kulturverwaltung des Senats erfährt, dass das Ausstellungssystem einer in New York gezeigten Berliner Ausstellung nicht mehr gebraucht wird und abgeholt werden kann. „So kam das erste Stellwandsystem in die Galerie, mit Rückwänden, auf die wir etwas hängen konnten. Es war etwas schwerfällig, aber wir konnten damit arbeiten.“ Für das Galerie-Personal werden zwei ABM-Stellen bereitgestellt. Jahrelang herrscht das Arbeitsprinzip: Man nimmt, was man bekommen kann, und im Laufe der Zeit wird das Provisorium Gewohnheitsrecht.

Seit 1989 begann auch Berliner Kulturpolitik sich für eine Stadtteil-Kulturarbeit zu interessieren. „Wir bekamen die erste rot-grüne Koalition. Vorher wurde das überhaupt nicht ernst genommen.“ Neukölln bekommt sechs neue Stellen, zwei für das Museum, zwei für die Musikschule, eine für die Galerie und eine für das Gemeinschaftshaus.

Der Saalbau
An ihrem ersten Arbeitstag am 1. August 1981 führt der Hausmeister Dorothea zum Saalbau Neukölln am U-Bahnhof Karl-Marx-Straße. Der einst schöne und beliebte Veranstaltungsort modert vor sich hin und wartet auf den Abriss. Zwei Putzfrauen sitzen am Tisch und überbrücken strickend ihre Arbeitszeit. Dorothea kann es nicht fassen, dass dieses Gebäude mit zwei Sälen brach liegt, angesichts des Mangels an Veranstaltungsräumen in Nord-Neukölln. Noch bis vor kurzem nutzte die Musikschule einen Saal für Tanz, Ballett und das Blockflötenensemble, manchmal wurden Kinderfilme gezeigt. Viele Neuköllner Kinder verbinden wunderbare Erinnerungen mit dem Saalbau.

Dorothea wendet sich an den Stadtrat und erkundigt sich nach den Plänen. Barsch verbietet er ihr, weiterhin über den Saalbau zu sprechen. Also redet Dorothea bei jeder passenden Gelegenheit darüber, dass in Nord-Neukölln dringend ein Raum benötigt wird und sucht Verbündete, die sie in den eigenen Reihen, der Kulturverwaltung des Senats und im Abgeordnetenhaus findet. Es gibt einige Politiker, die in Neukölln aufgewachsen sind und den Saalbau noch als intaktes Gebäude kennen. Ihnen berichtet sie von den Plänen des Bezirksamts, anstelle des Saalbaus in dessen Nähe ein Mehrzweckhaus mit einem großen Saal für die Volksbildung zu errichten. „Sicher könnte man damit viele Fliegen mit einer Klappe schlagen, aber eine Kultur-Atmosphäre würde dort nie entstehen.“ Da mit den gleichzeitig stattfindenden Vorbereitungen der 750-Jahrfeier Berlins historische Gebäude eine neue Bewertung erfahren, gelingt es, die Mehrheit der Abgeordneten zu überzeugen. Sie stimmen für den Wiederaufbau und die Finanzierung des Saalbaus, der unter Denkmalschutz gestellt wird. Bis zur Eröffnung 1988 gibt es heftige politische Auseinandersetzungen um die Zukunft des Hauses („Wem gehört die Stadtkrone?“). Die in Neukölln regierende CDU entmachtet zwischenzeitlich das Kulturamt, indem sie den Saalbau aus dessen Zuständigkeit herausnimmt und dessen Sachkunde für  unerwünscht erklärt. Nach den Wahlen stellt die SPD den neuen Bürgermeister. Dessen erste Amtshandlung ist es, den Saal dem Kulturamt zurückzugeben. „Und das Gemeinschaftshaus bekamen wir noch dazu. Damit war das Kulturamt ganz gut ausgestattet.“

Neuköllner Oper
Seit ihrem Studium ist Dorothea mit dem Komponisten und Regisseur Winfried Radeke bekannt. Er leitete einen Kammerchor, aus dem 1976 die Neuköllner Oper hervorging. Das Ensemble tritt an verschiedenen Spielorten auf. „Als ich dann Kulturamtsleiterin wurde, kam er hoffnungsvoll zu mir und bat mich, ihn bei der Suche nach einem festen Theaterstandort zu unterstützen. Ich habe mich für ihn bemüht. Seit einiger Zeit begann  ich in Richtung Passage zu spekulieren.“ Die Passage ist ein eindrucksvolles, denkmalgeschütztes Geschäftshaus mit Kino und darüber liegendem Ballsaal aus dem Jahr 1910, welches fast an das Grundstück des Saalbaus angrenzt. Es gehört einem privaten Eigentümer. Der ehemalige Kinosaal wird von einem Gebrauchtmöbelladen genutzt. Dorothea hat gehört, dass der Besitzer die Räume an einen Fernsehsender vermieten will. Eines Tages geht sie an seinem Haus vorbei, als er gerade auf einem Baugerüst steht. Sie hält an und fragt spontan: Wie wäre es, wenn die Neuköllner Oper hier einziehen würde? – Das ist ein neuer Gedanke für ihn, dem er sich nicht verschließen will. Bei einer Tasse Kaffee tauschen die beiden ihre Interessen aus und schmieden erste Pläne. „Das Glück war, dass der Eigentümer Sinn für das Theater hat. Seine Eltern besaßen eine Marionettenbühne, mit der sie nach dem Krieg in einem Leiterwagen von Schule zu Schule gezogen sind und Puppentheater gespielt haben.“ Es folgen viele Sitzungen, in denen diskutiert wird, welche Nutzungen sich im Haus vertragen würden und wie das Projekt finanziert werden könnte. Ein kulturelles Kino würde die Opernnutzung an diesem Standort gut ergänzen. So könnte ein „Ankerpunkt“ im Haus entstehen. Die Betreiber des Yorck-Kinos melden Interesse an. Schließlich stellt die Lottostiftung das Geld für den Umbau bereit, einen Teil der Kosten übernimmt der Hausbesitzer, es wird ein langfristiger Mietvertrag geschlossen, das Bezirksamt zahlt die (moderate) Miete. Das Laientheater Vineta erhält das Recht, einmal im Jahr die Bühne der Neuköllner Oper zu nutzen. Vor dem Umbau dürfen Studierende der Universität der Künste das ganze Haus für eine Hinterhofoper bespielen und es somit der Kultur weihen. Berlin ist gerade Kulturhauptstadt Europas. In demselben Jahr (1988) zieht die Neuköllner Oper in die Passage ein. Sechs Monate später wird das Kino eingeweiht. „Wir standen oben in den Räumen der Oper, zitternd und bebend, ob die Lautsprecher richtig eingestellt sind und die Dämmung so perfekt eingezogen ist, dass kein Ton zu uns dringt. Es hat geklappt!“ Viele Schwierigkeiten müssen noch bewältigt werden. „Da alle das Projekt wollten, haben wir es geschafft.“

Kulturelle Bildung
Parallel zu den Bemühungen um Räumlichkeiten für die inzwischen gut entwickelte Kulturlandschaft Neuköllns kümmert sich das Kulturamt auch um die Künstler und Kulturschaffenden selbst: „Die Förderung kultureller Bildung ist zentrale Aufgabe kommunaler Kulturarbeit.“ So lobt es den Neuköllner Kunstpreis aus, organisiert ABM-Stellen und sorgt für kostenlose Ausstellungsmöglichkeiten. Dorothea ist Mitbegründerin des Kulturnetzwerkes Neukölln e.V., das bis heute 59 Mitglieder zählt: „Ohne solidarischen Schulterschluss der Kultureinrichtungen war unser riesiges Konstrukt nicht zu stemmen“.

Schließlich stehen auch die Kinder im Fokus: Nach dem Umzug des Heimatmuseums nach Britz im Jahr 2010 werden die Räumlichkeiten in der Ganghofer Straße in ein „Kinderkünstezentrum“ umgewandelt, als erste künstlerische Einrichtung für ganz Berlin, wo Kinder unter sechs Jahren unter Anleitung künstlerische Erfahrungen machen können. „Natürlich zu wenig, aber ein wichtiger Anfang.“ Schulkindern und Jugendlichen steht in Räumen hinter der Alten Post die Einrichtung „Young Arts Neukölln“ zur Verfügung, wo sie in Zusammenarbeit mit den Schulen und Kunstschaffenden Kurse und Workshops zu Bildender Kunst, Fotografie und Theater belegen können. „Übrigens waren wir der erste Bezirk, der im Haushalt einen Topf für kulturelle Bildung hatte“, sagt Dorothea stolz.

Heute ist die Neuköllner Kulturlandschaft gut aufgestellt – das wichtigste ist, sie zu stabilisieren. Sie leuchtet zwar über den Bezirk hinaus, wie mit dem großen Festival „48 Stunden Neukölln“ – aber immer wieder flackernd, denn arm ist sie bis heute.


                                                                    


32. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 4. Mai 2017

Christoph und Michael Mehling
Unsere Jugend in Neukölln - Straßenkinder


Die beiden Brüder Christoph und Michael Mehling, Jahrgang 1947 und 1955, entstammen einer kinderreichen Arztfamilie. Ihr Vater unterhielt in der Nachkriegszeit eine Praxis an der Hasenheide. Alle neun Kinder, die seine Frau zur Welt brachte, hat er selbst entbunden. Sechs von ihnen leben noch. Drei Geschwister sind heute beim Erzählcafé dabei. Zu den beiden Brüdern gesellt sich Ruth Weber, geborene Mehling, die Älteste, Jahrgang 1942, um zu hören, wie die beiden die Zeit ihrer Jugend in Neukölln betrachten und bewerten. Ruth hat übrigens ihre Geschichte schon erzählt; sie ist im ersten Band der „Körnerkiezgeschichte(n)“ veröffentlicht.

Christoph und Michael wachsen in der Leykestraße nahe der U-Bahn-Station Leinestraße auf, wo die immer größer werdende Familie nach dem Krieg endlich eine eigene, 110 Quadratmeter große Wohnung gefunden hat - mit Ofenheizung, Bad und Badewanne. Die Leykestraße hat Asphaltbelag und kein Kopfsteinpflaster, wie so viele andere Wohnstraßen, und eignet sich deshalb hervorragend als Spielstraße. Sie ist zum Beispiel ein Treffpunkt der Rollschuhfahrer. Der Autoverkehr hält sich in Grenzen, und die Straße ist die einzige, aber auch beste Möglichkeit für Kinder sich draußen aufzuhalten. In der Nachkriegszeit leben in Neukölln viele Kinder in großen Familien. Die Eltern, oft ist es nur noch die Mutter, weil der Vater im Krieg geblieben ist, haben wenig Zeit, sich um die Kinder zu kümmern; Vorrang hat die Existenzsicherung. Christophs und Michaels Freunde treffen sich – zumindest im Sommer – täglich nach der Schule auf der Leykestraße zum Spielen, allerdings im zeitlichen Abstand von acht Jahren. Als Michael so alt ist, dass er allein draußen spielen darf, ist Christoph schon fast erwachsen.

Die Kinder rufen von der Straße aus die Namen ihrer Freunde: „Peter, Paul, kommt ‘runter.“ Bald hat sich eine Clique versammelt, die gemeinsam Spiele verabredet, aber auch gehörigen Unsinn anstellt. „Dazu gehörten die Klingelzüge“, erzählt Michael, „es war eine beliebte Freizeitbeschäftigung durch die Häuser zu ziehen, an den Wohnungen zu klingeln und dann wegzurennen.“ Die mechanischen Klingeln werden mit einem Hebel in Gang gesetzt. Eine Steigerung der Gemeinheit ist es, den hochgedrückten Hebel mit einer Schnur am Knauf der Wohnungstür festzubinden, so dass das Klingeln nicht mehr aufhört. Öffnet jemand wutentbrannt die Tür, zerreißt die Schnur und niemand steht davor. Einmal löst sich eine Klingel aus der Wand. Aber die Kinder sind längst über alle Berge.

Doch es gibt auch harmlose Spiele. Die Baumscheiben bieten sich zum Murmeln an. Die Kinder haben Säckchen mit kleinen, verschieden farbigen Kugeln aus Ton, die in ein Loch gerollt werden müssen. Besondere Schätze sind die größeren bunten Glaskugeln, die Bucker genannt werden. Wenn alle Kugeln beieinander liegen, hat man drauf, und sie verteilen sich in alle Himmelsrichtungen.

Manchmal spielen die Kinder mit Münzen und nennen es Klimpern. Man wirft die Münzen an eine Wand. Derjenige, dessen Geldstück am dichtesten zur Wand liegt, darf sich den gesamten Haufen nehmen, muss ihn auf den Handrücken legen, hochwerfen und dann versuchen, so viele Münzen wie möglich zu fangen.

Geschicklichkeit erfordert das Spiel „Kante“, bei dem die Kinder mit einem Tennisball die Kante eines Sockelputzes oder einer Fliesenschicht treffen müssen, damit der Ball weit und gerade zurückspringt. Wer es am besten macht bekommt Punkte. Beim „Schilderwerfen“ muss man bestimmte Emailleschilder, die beispielsweise neben den Hauseingängen an der Fassade angebracht sind, von einem bestimmten Ausgangspunkt treffen, ohne die im Weg stehende Laterne mitzunehmen.

Beliebt ist auch das Fischer-Spiel: Eine Gruppe ruft dem auf dem gegenüber liegenden Bürgersteig stehenden Kind zu: ”Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser?” Es antwortet zum Beispiel: "Drei Faden tief!” Das bedeutet, dass die Kinder mit drei Sätzen die Straße überqueren müssen. Während alle versuchen, an das andere Ufer zu gelangen, versucht der Fischer durch Abschlagen neue Fischer zu fangen, die ihm dann bei der nächsten Überquerung helfen.

Die älteren Jungen, zu denen Christoph zählt, nutzen die breitere Bordsteinkante, um Wettrennen mit kleinen Modell-Rennautos auszutragen. Wer als erster die Laterne erreicht, ohne dass das Auto nach dem Anschubsen herunterfällt, hat gewonnen. Ganz Schlaue kleben mit Kaugummi kleine Gewichte (aus Schrauben oder Nägel) in das Auto, damit es besser fährt. Christoph kann leider nicht mithalten, weil er kein eigenes dieser heiß begehrten Rennautos besitzt. Er schaut nur zu.
Beim Trieseln wickeln die Kinder eine Peitschenschnur um einen mit Rillen und einem Nagel an der Spitze versehenen Holzkreisel und werfen ihn so auf den Asphalt, dass er sich dreht. Mit weiteren Peitschenschlägen versuchen sie nun, den Triesel anzutreiben und so lange wie möglich am Drehen zu halten. Dabei muss man sich angesichts des unebenen Asphaltbelags geschickt anstellen, sonst fällt der Triesel um.

Natürlich wird Fußball gespielt. In der Leykestraße gibt es nahe dem alten Wasserturm ein freies Grundstück, das sich trotz der alten Bäumen ideal zum Fußballspielen eignet. Allerdings trifft der Ball auch mal das anliegende Bürogebäude des Wasserwerks, wo ein paar Scheiben zu Bruch gehen. Der Ärger bleibt nicht aus. Weniger Probleme gibt es auf der Lessinghöhe, der benachbarten Grünanlage. Doch dort fehlt eine glatte Hauswand, an der man auch allein kicken kann.

Auch bei einem Versteckspiel wird der Fußball eingesetzt. Sobald ein Kind in seinem Versteck gefunden wird, muss der Sucher den Fußball an eine Säule schießen. Eine andere Variante ist „Räuber und Gendarm“. Die Kinder nehmen das Ritual sehr ernst, um zu bestimmen, wer Räuber und wer Gendarm sein soll. Dazu muss sich ein Kind nach unten beugen; ein anderes zeigt auf einen der rundum aufgestellten Mitspieler und fragt: „Soll dieser ein Gendarm oder Räuber sein?“ Und das nach unten schauende Kind sagt dann entweder „Räuber“ oder „Gendarm“. Damit soll eine neutrale Wahl ohne Schummeln getroffen werden.

Oft spielen nur die Jungen miteinander, vor allem, wenn sie älter sind. Die meisten Mädchen interessieren sich eher für Puppen und etwas sanftere Spiele, wie das Fadenspiel „Abnehmen“, Hopse oder Gummitwist. Einmal beobachten ältere Jungen, wie Christoph mit einigen Mädchen Hopse spielt, und sie lachen ihn fürchterlich aus. Christoph ist für sein Alter sehr groß, deshalb schätzen sie ihn älter als er ist. Für Christoph ist es eine unangenehme Erfahrung. Damit ist ihm das unschuldige Zusammensein mit den Mädchen endgültig verleidet worden.

Als Christoph 1959 von der Evangelischen Schule auf das Abrecht-Dürer-Gymnasium wechselt, führt ihn sein Schulweg durch den Körnerpark, wo er sich mit seinen Freunden nach der Schule gern noch ein wenig aufhält und mit ihnen bespielweise „Einkriegen“ spielt. Dann wird der Körnerpark Mitte der 1960er-Jahre wegen Baufälligkeit gesperrt, und die schöne Zeit des Ausspannens nach dem Unterricht fällt weg; aber auch die strengen Ermahnungen, nach der Schule nicht zu bummeln, bleiben aus. Es dauert leider mehrere Jahre bis der Körnerpark wieder geöffnet wird.

Michael, der jüngere Bruder, hat einen größeren Freiheitsdrang und möchte immer wieder Neues ausprobieren. Er ist mit einer Gruppe von Straßenkindern befreundet, die nur „Blödsinn im Kopf“ haben. Natürlich stellt er sich auch einer Mutprobe. „Man musste eben jeden Mist mitmachen“, erklärt Michael. In einer Ecke im Körnerpark steht eine große Platane mit langen Ästen. Wer sich traut, kann sich an einem besonders langen Ast festhalten und mit ihm auf die Balustrade schwingen. Michael versucht es. Er schwingt hin und her, schwebt über dem tiefen Abhang, erreicht mit den Füßen aber nicht die Balustrade. Nach mehrmaligen Versuchen muss er sich fallen lassen. Er kann sich abrollen, alles geht gut. Dass ihm dabei mulmig war, darf er nicht zeigen.

Die Kinder einer Straße fühlen sich zusammengehörig. Vor allem dann, wenn Kinder aus anderen Straßen in ihr „Revier“ eindringen wollen. Sie schließen sich zu einer Bande zusammen, um sich besser verteidigen zu können, und geben sich Namen. Michael erinnert sich an die „Köpperbande“, die sich auf dem Buddelplatz an der Kopfstraße herumtrieb. Im Jahnpark treffen sich die „Jungs von den Eichen“. Nahe dem Jugendfreizeitheim an der Oderstraße treibt die „Oderstraßenbande“ ihr Unwesen. Und es gibt die „Schillerbande“.  Sobald sich Kinder aus einer anderen Bande nähern, gibt es Rangeleien und auch Prügel. Auch Michael und seine Freunde geraten öfter in eine Schlägerei.

Später, „in meiner Sturm-und-Drang-Phase“, wie Michael diese Zeit charakterisiert, fühlen sich Michael, sein anderer Bruder Theo und einige seiner besten Freunde zur Schillerbande hingezogen. Sie sind jetzt 12 und 15 Jahre alt. In jeder Bande gibt es einen Anführer, eine Art Respektsperson, mit der man sich gutstellen muss. Zum Beispiel kann man ihm ein Bier ausgeben, auch wenn er minderjährig ist. Damals dürfen Kinder noch das Bier für ihre Eltern holen. Niemand der Erwachsenen fragt nach. Michael und sein Bruder schmeicheln sich durch kleine Gaben beim Anführer ein und werden in der Bande akzeptiert, obwohl sie eigentlich als christlich erzogene Arztkinder eine andere soziale Herkunft haben als die Arbeiterkinder ihres Quartiers. Aber ihr Vater ist als Arzt in Neukölln bekannt und beliebt, und sie profitieren davon.

Das Leben in der Bande wird zunehmend aggressiver. Jeder will beweisen, dass er ein Held ist. Und da das Geld in allen Familien knapp ist, geht es vor allem darum. Die Kinder haben zum Beispiel beobachtet, dass gelegentlich in die im Bürgersteig liegenden Lichtschächte vor den Kellerfenstern etwas hineinfällt, oft kleine Münzen. So inspizieren sie diese Schächte, und wo sie ein Geldstück oder eine andere Kostbarkeit erblicken versuchen sie, diese mit einem an einer Angel angebundenen Magneten herauszufischen. Erfolgreicher sind sie auf ihren „Klauzügen“, wo mehrere Kinder einen Ladenbetreten, den Verkäufer ablenken und sich schnell ein paar Bonbons und andere Süßigkeiten einstecken. Oder sie knacken Zigarettenautomaten und teilen sich die Beute untereinander auf. Die Steigerung ist der Einbruch in eine Kneipe, an der Theo beteiligt ist. Die Kinder wussten, dass das Bier und andere Waren über eine Bodenklappe vom Bürgersteig aus in den Keller geliefert wird. Eines Nachts brechen sie diese Klappe auf und rauben den Keller aus.

Theo wird erwischt und kommt sofort in den Jugendknast, ins „Café Schönstedt“, der sich im Seitenflügel des Neuköllner Amtsgerichts in der Schönstedtstraße befindet.
Dort steckt man ihn zwei Tage in den „Bunker“, das bedeutet Isolierhaft. Da er nicht vorbestraft ist, und sein Vater sich für ihn einsetzt, kommt er nach ein paar Tagen wieder heraus. Die Strafe hat ihre Wirkung. Theo – und auch Michael – suchen sich andere Hobbies und treten in einen Sportverein ein.

Christoph hat aus seiner Zeit der Pubertät nicht solche Eskapaden vorzuweisen. Er ist ein ruhigerer Typ. Aber auch er versucht an Geld zu kommen. Mit Taschengeld kann er angesichts der vielen Geschwister nicht rechnen. Allerdings werden gute Zeugnisse mit einem kleinen Obolus belohnt. Beim Altmetallsammeln kann man auch etwas verdienen. Und so hält er sich mit seinen Freunden gern auf den Ruinengrundstücken im Rollberge-Gebiet auf, um etwas Verwertbares zu finden. Oder die Kinder sammeln Kronenkorken, um das Metall zu verkaufen.

Zu Hause ist das Leben einfach, aber das Notwendig ist vorhanden. Doch es gibt kein Radio, von einem späteren Fernsehapparat ist ganz zu schweigen. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 darf sich der siebenjährige Christoph bei der Nachbarin anhören, die einen alten Volksempfänger besitzt. Dummerweise spielt er mit der Schnur und zieht im spannendsten Moment aus Versehen den Stecker heraus. Es ist ihm schrecklich peinlich. Der Vater löst das Problem auf seine Weise: Er stellt sich ans geöffnete Fenster und lauscht in diesen heißen Sommertagen den Radiotönen aus den Nachbarwohnungen. Erst 1973 schaffen sich die Eltern einen Fernseher an. Christoph beschreibt seine Mutter als bescheidene Frau, die Krankenschwester war. 1958 wird die jüngste Schwester geboren. Später hilft die Mutter in der Praxis. Für die Erziehung ist der Vater zuständig, der auch mal den Stock einsetzt. Aber er entzieht ihnen nie die Zuwendung. Alle Kinder sollen eine gute Ausbildung bekommen. Dafür tun die Eltern alles.

Christoph und Michael sind wie ihre Schwester Ruth Grundschullehrer geworden, einer in Tempelhof, der andere in Neukölln. Angesichts des Kinderreichtums in der Familie liegt dieser Entschluss nahe. Sie haben früh verstanden, dass Kinder - in der Familie und von der Straße - voneinander lernen  und dass sie auch ohne teure Hilfsmittel Phantasie entwickeln und wichtige soziale Erfahrungen machen können. Das haben sie versucht ihren Schulkindern weiterzugeben, auch wenn sich die späteren Lebens- und Erziehungsbedingungen sehr verändert haben.