Mittwoch, 24. Mai 2017

32. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 4. Mai 2017

Christoph und Michael Mehling
Unsere Jugend in Neukölln - Straßenkinder


Die beiden Brüder Christoph und Michael Mehling, Jahrgang 1947 und 1955, entstammen einer kinderreichen Arztfamilie. Ihr Vater unterhielt in der Nachkriegszeit eine Praxis an der Hasenheide. Alle neun Kinder, die seine Frau zur Welt brachte, hat er selbst entbunden. Sechs von ihnen leben noch. Drei Geschwister sind heute beim Erzählcafé dabei. Zu den beiden Brüdern gesellt sich Ruth Weber, geborene Mehling, die Älteste, Jahrgang 1942, um zu hören, wie die beiden die Zeit ihrer Jugend in Neukölln betrachten und bewerten. Ruth hat übrigens ihre Geschichte schon erzählt; sie ist im ersten Band der „Körnerkiezgeschichte(n)“ veröffentlicht.

Christoph und Michael wachsen in der Leykestraße nahe der U-Bahn-Station Leinestraße auf, wo die immer größer werdende Familie nach dem Krieg endlich eine eigene, 110 Quadratmeter große Wohnung gefunden hat - mit Ofenheizung, Bad und Badewanne. Die Leykestraße hat Asphaltbelag und kein Kopfsteinpflaster, wie so viele andere Wohnstraßen, und eignet sich deshalb hervorragend als Spielstraße. Sie ist zum Beispiel ein Treffpunkt der Rollschuhfahrer. Der Autoverkehr hält sich in Grenzen, und die Straße ist die einzige, aber auch beste Möglichkeit für Kinder sich draußen aufzuhalten. In der Nachkriegszeit leben in Neukölln viele Kinder in großen Familien. Die Eltern, oft ist es nur noch die Mutter, weil der Vater im Krieg geblieben ist, haben wenig Zeit, sich um die Kinder zu kümmern; Vorrang hat die Existenzsicherung. Christophs und Michaels Freunde treffen sich – zumindest im Sommer – täglich nach der Schule auf der Leykestraße zum Spielen, allerdings im zeitlichen Abstand von acht Jahren. Als Michael so alt ist, dass er allein draußen spielen darf, ist Christoph schon fast erwachsen.

Die Kinder rufen von der Straße aus die Namen ihrer Freunde: „Peter, Paul, kommt ‘runter.“ Bald hat sich eine Clique versammelt, die gemeinsam Spiele verabredet, aber auch gehörigen Unsinn anstellt. „Dazu gehörten die Klingelzüge“, erzählt Michael, „es war eine beliebte Freizeitbeschäftigung durch die Häuser zu ziehen, an den Wohnungen zu klingeln und dann wegzurennen.“ Die mechanischen Klingeln werden mit einem Hebel in Gang gesetzt. Eine Steigerung der Gemeinheit ist es, den hochgedrückten Hebel mit einer Schnur am Knauf der Wohnungstür festzubinden, so dass das Klingeln nicht mehr aufhört. Öffnet jemand wutentbrannt die Tür, zerreißt die Schnur und niemand steht davor. Einmal löst sich eine Klingel aus der Wand. Aber die Kinder sind längst über alle Berge.

Doch es gibt auch harmlose Spiele. Die Baumscheiben bieten sich zum Murmeln an. Die Kinder haben Säckchen mit kleinen, verschieden farbigen Kugeln aus Ton, die in ein Loch gerollt werden müssen. Besondere Schätze sind die größeren bunten Glaskugeln, die Bucker genannt werden. Wenn alle Kugeln beieinander liegen, hat man drauf, und sie verteilen sich in alle Himmelsrichtungen.

Manchmal spielen die Kinder mit Münzen und nennen es Klimpern. Man wirft die Münzen an eine Wand. Derjenige, dessen Geldstück am dichtesten zur Wand liegt, darf sich den gesamten Haufen nehmen, muss ihn auf den Handrücken legen, hochwerfen und dann versuchen, so viele Münzen wie möglich zu fangen.

Geschicklichkeit erfordert das Spiel „Kante“, bei dem die Kinder mit einem Tennisball die Kante eines Sockelputzes oder einer Fliesenschicht treffen müssen, damit der Ball weit und gerade zurückspringt. Wer es am besten macht bekommt Punkte. Beim „Schilderwerfen“ muss man bestimmte Emailleschilder, die beispielsweise neben den Hauseingängen an der Fassade angebracht sind, von einem bestimmten Ausgangspunkt treffen, ohne die im Weg stehende Laterne mitzunehmen.

Beliebt ist auch das Fischer-Spiel: Eine Gruppe ruft dem auf dem gegenüber liegenden Bürgersteig stehenden Kind zu: ”Herr Fischer, Herr Fischer, wie tief ist das Wasser?” Es antwortet zum Beispiel: "Drei Faden tief!” Das bedeutet, dass die Kinder mit drei Sätzen die Straße überqueren müssen. Während alle versuchen, an das andere Ufer zu gelangen, versucht der Fischer durch Abschlagen neue Fischer zu fangen, die ihm dann bei der nächsten Überquerung helfen.

Die älteren Jungen, zu denen Christoph zählt, nutzen die breitere Bordsteinkante, um Wettrennen mit kleinen Modell-Rennautos auszutragen. Wer als erster die Laterne erreicht, ohne dass das Auto nach dem Anschubsen herunterfällt, hat gewonnen. Ganz Schlaue kleben mit Kaugummi kleine Gewichte (aus Schrauben oder Nägel) in das Auto, damit es besser fährt. Christoph kann leider nicht mithalten, weil er kein eigenes dieser heiß begehrten Rennautos besitzt. Er schaut nur zu.
Beim Trieseln wickeln die Kinder eine Peitschenschnur um einen mit Rillen und einem Nagel an der Spitze versehenen Holzkreisel und werfen ihn so auf den Asphalt, dass er sich dreht. Mit weiteren Peitschenschlägen versuchen sie nun, den Triesel anzutreiben und so lange wie möglich am Drehen zu halten. Dabei muss man sich angesichts des unebenen Asphaltbelags geschickt anstellen, sonst fällt der Triesel um.

Natürlich wird Fußball gespielt. In der Leykestraße gibt es nahe dem alten Wasserturm ein freies Grundstück, das sich trotz der alten Bäumen ideal zum Fußballspielen eignet. Allerdings trifft der Ball auch mal das anliegende Bürogebäude des Wasserwerks, wo ein paar Scheiben zu Bruch gehen. Der Ärger bleibt nicht aus. Weniger Probleme gibt es auf der Lessinghöhe, der benachbarten Grünanlage. Doch dort fehlt eine glatte Hauswand, an der man auch allein kicken kann.

Auch bei einem Versteckspiel wird der Fußball eingesetzt. Sobald ein Kind in seinem Versteck gefunden wird, muss der Sucher den Fußball an eine Säule schießen. Eine andere Variante ist „Räuber und Gendarm“. Die Kinder nehmen das Ritual sehr ernst, um zu bestimmen, wer Räuber und wer Gendarm sein soll. Dazu muss sich ein Kind nach unten beugen; ein anderes zeigt auf einen der rundum aufgestellten Mitspieler und fragt: „Soll dieser ein Gendarm oder Räuber sein?“ Und das nach unten schauende Kind sagt dann entweder „Räuber“ oder „Gendarm“. Damit soll eine neutrale Wahl ohne Schummeln getroffen werden.

Oft spielen nur die Jungen miteinander, vor allem, wenn sie älter sind. Die meisten Mädchen interessieren sich eher für Puppen und etwas sanftere Spiele, wie das Fadenspiel „Abnehmen“, Hopse oder Gummitwist. Einmal beobachten ältere Jungen, wie Christoph mit einigen Mädchen Hopse spielt, und sie lachen ihn fürchterlich aus. Christoph ist für sein Alter sehr groß, deshalb schätzen sie ihn älter als er ist. Für Christoph ist es eine unangenehme Erfahrung. Damit ist ihm das unschuldige Zusammensein mit den Mädchen endgültig verleidet worden.

Als Christoph 1959 von der Evangelischen Schule auf das Abrecht-Dürer-Gymnasium wechselt, führt ihn sein Schulweg durch den Körnerpark, wo er sich mit seinen Freunden nach der Schule gern noch ein wenig aufhält und mit ihnen bespielweise „Einkriegen“ spielt. Dann wird der Körnerpark Mitte der 1960er-Jahre wegen Baufälligkeit gesperrt, und die schöne Zeit des Ausspannens nach dem Unterricht fällt weg; aber auch die strengen Ermahnungen, nach der Schule nicht zu bummeln, bleiben aus. Es dauert leider mehrere Jahre bis der Körnerpark wieder geöffnet wird.

Michael, der jüngere Bruder, hat einen größeren Freiheitsdrang und möchte immer wieder Neues ausprobieren. Er ist mit einer Gruppe von Straßenkindern befreundet, die nur „Blödsinn im Kopf“ haben. Natürlich stellt er sich auch einer Mutprobe. „Man musste eben jeden Mist mitmachen“, erklärt Michael. In einer Ecke im Körnerpark steht eine große Platane mit langen Ästen. Wer sich traut, kann sich an einem besonders langen Ast festhalten und mit ihm auf die Balustrade schwingen. Michael versucht es. Er schwingt hin und her, schwebt über dem tiefen Abhang, erreicht mit den Füßen aber nicht die Balustrade. Nach mehrmaligen Versuchen muss er sich fallen lassen. Er kann sich abrollen, alles geht gut. Dass ihm dabei mulmig war, darf er nicht zeigen.

Die Kinder einer Straße fühlen sich zusammengehörig. Vor allem dann, wenn Kinder aus anderen Straßen in ihr „Revier“ eindringen wollen. Sie schließen sich zu einer Bande zusammen, um sich besser verteidigen zu können, und geben sich Namen. Michael erinnert sich an die „Köpperbande“, die sich auf dem Buddelplatz an der Kopfstraße herumtrieb. Im Jahnpark treffen sich die „Jungs von den Eichen“. Nahe dem Jugendfreizeitheim an der Oderstraße treibt die „Oderstraßenbande“ ihr Unwesen. Und es gibt die „Schillerbande“.  Sobald sich Kinder aus einer anderen Bande nähern, gibt es Rangeleien und auch Prügel. Auch Michael und seine Freunde geraten öfter in eine Schlägerei.

Später, „in meiner Sturm-und-Drang-Phase“, wie Michael diese Zeit charakterisiert, fühlen sich Michael, sein anderer Bruder Theo und einige seiner besten Freunde zur Schillerbande hingezogen. Sie sind jetzt 12 und 15 Jahre alt. In jeder Bande gibt es einen Anführer, eine Art Respektsperson, mit der man sich gutstellen muss. Zum Beispiel kann man ihm ein Bier ausgeben, auch wenn er minderjährig ist. Damals dürfen Kinder noch das Bier für ihre Eltern holen. Niemand der Erwachsenen fragt nach. Michael und sein Bruder schmeicheln sich durch kleine Gaben beim Anführer ein und werden in der Bande akzeptiert, obwohl sie eigentlich als christlich erzogene Arztkinder eine andere soziale Herkunft haben als die Arbeiterkinder ihres Quartiers. Aber ihr Vater ist als Arzt in Neukölln bekannt und beliebt, und sie profitieren davon.

Das Leben in der Bande wird zunehmend aggressiver. Jeder will beweisen, dass er ein Held ist. Und da das Geld in allen Familien knapp ist, geht es vor allem darum. Die Kinder haben zum Beispiel beobachtet, dass gelegentlich in die im Bürgersteig liegenden Lichtschächte vor den Kellerfenstern etwas hineinfällt, oft kleine Münzen. So inspizieren sie diese Schächte, und wo sie ein Geldstück oder eine andere Kostbarkeit erblicken versuchen sie, diese mit einem an einer Angel angebundenen Magneten herauszufischen. Erfolgreicher sind sie auf ihren „Klauzügen“, wo mehrere Kinder einen Ladenbetreten, den Verkäufer ablenken und sich schnell ein paar Bonbons und andere Süßigkeiten einstecken. Oder sie knacken Zigarettenautomaten und teilen sich die Beute untereinander auf. Die Steigerung ist der Einbruch in eine Kneipe, an der Theo beteiligt ist. Die Kinder wussten, dass das Bier und andere Waren über eine Bodenklappe vom Bürgersteig aus in den Keller geliefert wird. Eines Nachts brechen sie diese Klappe auf und rauben den Keller aus.

Theo wird erwischt und kommt sofort in den Jugendknast, ins „Café Schönstedt“, der sich im Seitenflügel des Neuköllner Amtsgerichts in der Schönstedtstraße befindet.
Dort steckt man ihn zwei Tage in den „Bunker“, das bedeutet Isolierhaft. Da er nicht vorbestraft ist, und sein Vater sich für ihn einsetzt, kommt er nach ein paar Tagen wieder heraus. Die Strafe hat ihre Wirkung. Theo – und auch Michael – suchen sich andere Hobbies und treten in einen Sportverein ein.

Christoph hat aus seiner Zeit der Pubertät nicht solche Eskapaden vorzuweisen. Er ist ein ruhigerer Typ. Aber auch er versucht an Geld zu kommen. Mit Taschengeld kann er angesichts der vielen Geschwister nicht rechnen. Allerdings werden gute Zeugnisse mit einem kleinen Obolus belohnt. Beim Altmetallsammeln kann man auch etwas verdienen. Und so hält er sich mit seinen Freunden gern auf den Ruinengrundstücken im Rollberge-Gebiet auf, um etwas Verwertbares zu finden. Oder die Kinder sammeln Kronenkorken, um das Metall zu verkaufen.

Zu Hause ist das Leben einfach, aber das Notwendig ist vorhanden. Doch es gibt kein Radio, von einem späteren Fernsehapparat ist ganz zu schweigen. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 darf sich der siebenjährige Christoph bei der Nachbarin anhören, die einen alten Volksempfänger besitzt. Dummerweise spielt er mit der Schnur und zieht im spannendsten Moment aus Versehen den Stecker heraus. Es ist ihm schrecklich peinlich. Der Vater löst das Problem auf seine Weise: Er stellt sich ans geöffnete Fenster und lauscht in diesen heißen Sommertagen den Radiotönen aus den Nachbarwohnungen. Erst 1973 schaffen sich die Eltern einen Fernseher an. Christoph beschreibt seine Mutter als bescheidene Frau, die Krankenschwester war. 1958 wird die jüngste Schwester geboren. Später hilft die Mutter in der Praxis. Für die Erziehung ist der Vater zuständig, der auch mal den Stock einsetzt. Aber er entzieht ihnen nie die Zuwendung. Alle Kinder sollen eine gute Ausbildung bekommen. Dafür tun die Eltern alles.

Christoph und Michael sind wie ihre Schwester Ruth Grundschullehrer geworden, einer in Tempelhof, der andere in Neukölln. Angesichts des Kinderreichtums in der Familie liegt dieser Entschluss nahe. Sie haben früh verstanden, dass Kinder - in der Familie und von der Straße - voneinander lernen  und dass sie auch ohne teure Hilfsmittel Phantasie entwickeln und wichtige soziale Erfahrungen machen können. Das haben sie versucht ihren Schulkindern weiterzugeben, auch wenn sich die späteren Lebens- und Erziehungsbedingungen sehr verändert haben.




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