Dr. Dorothea Kolland
– Kultur für alle
Dr. Dorothea Kolland
war von 1981 bis 2012 Leiterin des Kulturamtes Neukölln. Sie hat in diesen 31
Jahren aus der „kulturellen Wüste“ Neuköllns eine lebendige Kulturlandschaft gemacht,
die weit über die Bezirksgrenze rückt. Mit Überzeugungskraft, Geschick und
Wissen setzte sie ihre Vision der „Dezentralen Kulturarbeit“ in die Praxis um.
Sie organisierte die notwendigen Räume für die Neuköllner Kultur und machte sie
zu bekannten Adressen. In Dorothea Kollands Amtszeit erhielt das Museum
Neukölln 1987 den Museumspreis des Europarats; im von ihr geretteten Saalbau
wurden mehr als 150 Ausstellungen gezeigt, er war Ort von unzähligen Lesungen,
Theater- und Musikveranstaltungen und Festen; in der Galerie am Körnerpark
fanden mehr als 170 Skulpturen-, Foto-, Experimental-Ausstellungen für
besondere Zielgruppen (vor allem Kinder) statt; die Neuköllner Oper erhielt
einen festen Spielort; das Kunst-Festival „48 Stunden Neukölln“ ist sowohl
lokal als auch international aufgestellt. Für ihr bürgerschaftliches
Engagement im Kulturbereich erhielt sie 1997 das Bundesverdienstkreuz. Dorothea
Kolland ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Im Erzählcafé
berichtet sie über ihre Anfangszeit als Kulturamtsleiterin. (Siehe auch:
Dr. Martin Steffens,
Paul Schwingenschlögl in diesem Heft)
Dorothea Kolland wird 1947 in Selb geboren und wächst in
Thierstein (Fichtelgebirge) auf, wo ihr Vater Pfarrer ist. Sie studiert in
München und Berlin Musikwissenschaften und promoviert 1978 über die
Jugendmusikbewegung. Zur Wahl dieses Themas erklärt sie: „Meine Eltern hatten
sich bei einer dieser Singwochen kennengelernt, die von den jungen Leuten in
den 1920er-Jahren organisiert wurden. Ich entdeckte zu Hause die alten
Liederbücher und staunte über die unglaubliche Vielfalt des Liedguts.“ Dorothea
beginnt zu forschen und schreibt darüber ihre Promotion. Später verfasst sie Aufsätze
zur Musikgeschichte und über die Musik im und gegen den Faschismus. „Ich habe
mein Leben damit verbracht, Kultur zu vermitteln. Schon als Schülerin begann
ich, anderen zu helfen, eine Liebe zur Musik zu entwickeln.“ Ihre erste Stelle findet
sie in Remscheid als Bildungsreferentin bei der Bundesvereinigung Kulturelle
Jugendbildung. Trotz dieser „aufregenden Arbeit“ möchte Dorothea lieber wieder
in Berlin (West) leben, wo ihr Mann noch studiert, und bewirbt sich 1981 auf
eine ausgeschriebene Stelle der Kulturamtsleitung in Berlin-Neukölln.
Dass sie sich für Neukölln interessiert, ist kein Zufall.
Ihre Forschung über die Jugendmusikbewegung hat sie auch nach Neukölln in das
Arbeiterviertel der 1920er-Jahre geführt. Dort findet sie eine einmalige, auf
die Bedürfnisse der dort lebenden jungen Menschen zugeschnittene Einrichtung
vor: die Volksmusikschule. Sie wurde 1927 unter dem sozialdemokratischen
Volksbildungsstadtrat Dr. Kurt Löwenstein im Sinne der Bildungspolitik der Weimarer
Reformkräfte gegründet, das gesamte Volk am Musikleben teilhaben zu lassen. 1928
hatte die Volksmusikschule 20 Lehrkräfte und 450 Musikschüler. Im Fokus stand
das gemeinsame Musizieren in Singkreisen und Instrumentalgruppen. Dorothea ist
beeindruckt von der exzellenten Qualifikation der Lehrkräfte, wie die des
damals schon bekannten Komponisten Paul Hindemith, Professor an der Musikhochschule,
der ohne Honorar unterrichtete, oder die des Pianisten und Musikwissenschaftlers
Dr. Hans Boettcher, der gemeinsam mit Fritz Jöde die musiksoziologische Zeitschrift
„Musik und Gesellschaft“ herausgab. In der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit
unmittelbar nach Abgabe der Promotion veröffentlicht Dorothea einen Reprint
dieser Zeitschrift.
Dorothea ist neugierig , ob von diesem Impetus noch etwas in
Neukölln zu spüren ist. Für die freie Stelle der Kulturamtsleitung sind 15
Bewerbungen eingegangen. „Heute wären es 150“, meint Dorothea. Sie wird
ausgewählt und soll am 1. August antreten. Kurz darauf wird sie schwanger. „Das
erschreckte die Arbeitgeber natürlich. Ich versprach, gleich nach dem gesetzlichen
Mutterschutz weiterzuarbeiten. Ich war allein für den Unterhalt meiner Familie zuständig.
Mein Mann studierte noch. Und ich wollte ja arbeiten“, sagt Dorothea und fügt ehrlich
hinzu, dass es nicht einfach war, mit einem Baby zu starten, andererseits war
es für sie persönlich ein perfekter Zeitpunkt.
Die Neuköllner
Kulturlandschaft 1981
Dorotheas erstes Augenmerk richtet sich auf die sich neu zusammensetzende
Bevölkerung seit dem Zuzug der Gastarbeiter in den 1970er-Jahren. Sie ist nicht
mehr nur deutsch, und auf diese Entwicklung muss ihrer Meinung nach die Kulturarbeit
reagieren. Dabei kann sie sich auf ihre Erfahrungen aus Remscheid stützen, wo
sie Konzepte für eine Kulturarbeit mit eingewanderten Jugendlichen entwickelte
und eine der ersten Fachtagungen dazu organisierte. In ihrem Bestreben, die
Kulturarbeit zu verändern, findet sie in der Fachbereichsleiterin der Volkshochschule
eine Verbündete. Gemeinsam erarbeiten sie Projekte, die sie mit „ausländischen“
(wie man damals sagte) Jugendlichen durchführen. Die notwendigen Gelder
beschaffte Dorothea, denn sie weiß, wo und wie man Anträge stellt. In Remscheid
wurden enge Kontakte nach Bonn und zum Familienministerium gepflegt. Von Seiten
der Abteilung Volksbildung erfährt Dorothea noch wenig Hilfsbereitschaft. Aus
der Sicht des Vorgesetzten ist sie eine junge Frau, die eigenwillige Ideen hat
und „mit dem Kopf durch die Wand will“. ...„und dann bekommt sie auch noch ein
Kind!“
Die Situation des Kulturamts (damals hieß es Kunstamt) in
Neukölln im Jahr 1981 bezeichnet Dorothea als desolat. Mehr als zwei Jahre ist
es ohne Leitung. Der frühere Verantwortliche war Operettenregisseur, hat den
Ruf eines Alkoholikers und spulte die jährlich sich wiederholenden
Veranstaltungen ohne neue Ideen ab. Höhepunkte waren im Sommer die Operetten-Aufführungen
im Naturtheater Hasenheide und im Winter eine Konzertreihe im Abonnement, wofür
er Berliner Ensembles einkaufte. Dorothea, die professionelle Musikerin und
Musikwissenschaftlerin, strebt ein höheres Niveau an. Sie versteht ihre Arbeit
als Volksbildung, will das Publikum fordern und sorgt dafür, dass bei den
Konzerten mindestens ein Werk aus dem 20. Jahrhundert aufgeführt wird. Leider
goutiert das Abo-Publikum dieses Angebot nicht. Es gibt Beschwerden und
Abmeldungen. „Ich war knallhart, habe meine Vorstellungen durchgezogen, aber strategisch
gesehen, war mein Verhalten bestimmt nicht vernünftig“, sagt Dorothea.
Kurz bevor sie in den Mutterschutz
geht, findet im Saal des Gemeinschaftshauses Gropiusstadt ein Konzert statt.
Nach einem Klavierkonzert soll es die Reformations-Sinfonie von Felix
Mendelssohn-Bartholdy geben. Dafür muss das Podium für das Orchester freigeräumt
werden. Dorothea und ihr Mann sitzen im Publikum. Da nichts geschieht, bittet
Dorothea einen der beiden Dienst habenden Hausmeister, den Flügel zur Seite zu
bewegen. Doch dieser antwortet: Das ist nicht unser Job. Also schieben die
hochschwangere Kulturamtsleiterin und ihr Ehemann den Flügel an die vorgesehene
Stelle. „In diesem Moment fühlte ich mich mutterseelenallein. Wenn mein Mann
nicht da gewesen wäre, hätte ich nicht weitergewusst.
1981 stehen der Kulturarbeit in Neukölln lediglich das
Gemeinschaftshaus Gropiusstadt und das Heimatmuseum zur Verfügung. Das
Gemeinschaftshaus wurde 1973 errichtet und „hatte mit zwei Mehrzweckräumen den
Charme eines Kühlschranks“. Es untersteht dem Volksbildungsstadtrat und nicht
dem Kulturamt und liegt an der städtischen Peripherie. Im Herzen von Neukölln
befindet sich das Heimatmuseum, die einzige eigene Institution des Kulturamts, seit
1961 in den Räumen der ehemaligen Bibliothek neben dem Stadtbad (Ganghofer
Straße). Das Heimatmuseum wurde 1897 von dem Volksschullehrer Emil Fischer
gegründet und ursprünglich als schulhistorisches Kabinett in der alten
Rixdorfer Schule eingerichtet. Es entstand in der Zeit, als die (Arbeiter-) Bevölkerung
rapide zunahm, und das Thema Volksbildung immer wichtiger wurde.
Für Kunstausstellungen müssen die Flure des Rathauses und
des Gemeinschaftshauses herhalten. „Dort konnte keine künstlerische Atmosphäre
entstehen“, sagt Dorothea und erinnert sich an eine entscheidende Begebenheit:
Um die Neuköllner Künstlerinnen und Künstler kennenzulernen, lädt sie zur 1.
Neuköllner Freien Kunstausstellung ein. Jeder Künstler, jede Künstlerin hat das
Recht ohne Begutachtung von einer Jury ein Bild in den Rathausfluren auszustellen.
„Eine Ausstellung ohne Qualitätskriterien mochte ich eigentlich nicht, aber für
die Künstler war es eine Errungenschaft.“ Dorothea bittet drei Künstler, eine
Hängekommission zu bilden und die Ausstellung zu organisieren. Es ist Winter 1982
und die Zeit der Hausbesetzungen (weniger in Neukölln, meistens in Kreuzberg).
Etwa 40 Künstlerinnen und Künstler reichen ihre Bilder ein. Ein Künstler gibt
sein Bild verpackt ab, mit der Weisung, es verpackt zu lassen. Auf dem
Packpapier steht geschrieben: GEGEN VEBRECHER IN STADT UND LAND. Dazu folgender
Hintergrund: Der Künstler erlebt gerade, wie das Nachbargebäude neben seinem
Atelier von der Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“ abgerissen wird,
obwohl noch Menschen darin wohnen. Sein Atelierhaus steht ebenfalls auf der
Abrissliste. „Dadurch, dass er bei seinem Text die Anführungsstriche
weggelassen hat, war es zwar keine direkte Anklage, aber jeder wusste, wen er
meinte.“ Als die Bilder im Rathaus aufgehängt werden, kommt der Baustadtrat
vorbei, sieht den Spruch auf dem verpackten Bild und verbietet die Präsentation
dieses Bildes. Das führt zu einem Aufstand der Neuköllner Künstler, die sonst
eher friedlich gesinnt sind. Die Künstler bestehen auf der versprochenen
Freiheit in der Kunstausstellung. Ihre Antwort: Am Tag der Eröffnung drehen
alle ihre Bilder um. Ein Skandal, der wirkt. Dem Bürgermeister, eigentlich ein
Kunstfreund, ist das alles sehr unangenehm. Er lädt zu einer Besprechung mit
dem Vorsitzenden des Verbandes Bildender Künstler und der Hängekommission ein.
Dort wird vereinbart: 1. So etwas darf nicht noch einmal vorkommen. 2. Der
Bürgermeister wird sich so schnell wie möglich um einen Raum kümmern, wo Kunst
frei ausgestellt werden kann ohne Einmischung durch andere Ressorts. „Das war
ein wichtiger Entwicklungsschritt für das Kulturamt.“
Um herauszufinden, wie es mit Kunst und Kultur in Neukölln
bestellt ist, beauftragt Dorothea
während der Zeit ihres Mutterschutzes zwei Kunsthistorikerinnen, eine Liste
über die in Neukölln anwesenden Kunst- und
Musikschaffenden zusammenzustellen. In Kooperation mit den Zeitschriften
TIP und ZITTY, dem Künstlerverband und der Freien Berliner Kunstausstellung
finden sie heraus, dass 45 bildende Künstlerinnen und Künstler in Nord-Neukölln
wohnen und arbeiten, zwei in der Gropiusstadt. Der Altersdurchschnitt beträgt 65
Jahre, einige wenige sind um die 30 Jahre alt. „Es handelte sich überwiegend um
ältere Herren, darunter einige sehr kompetente. Dann gab es noch einige gute
Musiker, auch gute Kirchenmusiker.“ Weiterhin findet sich die
Amateurtheaterbühne Vineta, die einmal im Jahr an verschiedenen Orten gastiert,
und das Figurentheater in der Schinkestraße, das ein Ost-Berliner Puppenspieler
etabliert hat.
Dorothea wird allmählich klar, dass der Aufbau einer
interkulturellen kommunalen Kulturlandschaft ein langer Prozess mit viel Geduld
sein wird. Schon während der Babypause organisiert sie die ersten Internationalen
Kulturtage in Neukölln, in die sie Künstler und Künstlerinnen nichtdeutscher
Herkunft einbezieht. Im Rathaus Neukölln stellt der bekannte türkischer Maler Metin
Talayman seine Bilder aus. „Das war eine Sensation! In unserem Rathaus ein
türkischer Maler, mein Gott!“, sagt Dorothea ironisch. „Aber man darf nicht
zögern und muss das einfach machen.“
Heimatmuseum
Der erste große Schritt ist ein neues Konzept für das Heimatmuseums.
„Es war in einem konzeptionell unbeschreiblichen Zustand.“ Die Ausstellung
besteht aus einer beliebigen Aneinanderreihung von Zinnsoldaten, ausgestopften
Tieren, Scherben aus den Ausgrabungen in Rudow und Buckow (die wichtigsten
Funde landeten im Museum für Vor- und Frühgeschichte in Charlottenburg),
Pferdeknochen aus dem 7. Jahrhundert, einem mittelalterlichen Frauenkamm,
gefunden im Körnerpark etc. Das Museum besuchen vor allem Grundschulkinder,
denen ein Mitarbeiter (ohne Museumsqualifikation) liebevoll die Ausstellung
erklärt.
Nach Dorotheas Vorstellung soll das Heimatmuseum ein Ort
regionalgeschichtlicher Forschung werden. Noch fehlen Mittel und Fachkräfte, deshalb
lässt sie den Museumsraum ausräumen, um zunächst im Wechsel Themen zu
präsentieren, „zu denen die Menschen eine Beziehung haben“. Dabei helfen
Spenden Neuköllner Bürger, wie ein mit Notgeld gefüllter Koffer, der Anlass
bietet, über die Inflationszeit zu informieren. Die erste eigene Ausstellung
des Kulturamts behandelt die Geschichte des Böhmischen Dorfs. Gemeinsam mit
Schülerinnen und Schülern der Ernst-Abbe-Schule wird die Geschichte der
Namensgebung ihrer Schule und damit ein Abschnitt der Neuköllner Zeitgeschichte
erarbeitet. Dorothea steuert für eine Ausstellung ihre von der Großmutter
geerbten Sammelbilder von „Liebig’s Fleischextrakt“ zur Verfügung, „die viele
noch kennen und entzückend finden“.
Mit der ersten
rot-grünen Koalition, die bezirkliche Kulturarbeit ernst nimmt, ergibt sich ab 1982
die Möglichkeit, ABM-Stellen einzurichten. Einige wenige werden in feste
Stellen umgewandelt, so dass Fachkräfte eingestellt werden können, die die
Neuausrichtung des Museums weiter entwickeln. Die Wahl fällt auf Udo Gößwald,
der später die Museumsleitung übernehmen wird. Damit hat das Museum den
Einstieg in die Professionalität geschafft. 2010 zieht das Museum in den
Gutshof Britz um.
Galerie im Körnerpark
An einem Tag im Jahr 1983 ruft der neue Hochbauamtsleiter im
Kulturamt an und bittet Dorothea um einen Termin im Körnerpark. Dorothea hatte
noch keine Gelegenheit, den Körnerpark kennenzulernen und ist bei dessen
Anblick begeistert. Der Architekt führt sie in das den Park abgrenzende
Quergebäude : Können Sie sich vorstellen, daraus eine Galerie zu machen? „Mich
traf der Schlag, das war das Dringendste, was wir brauchten! Ich sah sofort,
dass das eine wunderschöne Galerie werden kann!“ Das Gebäude, von seinem
Erbauer Franz Körner ursprünglich als Orangerie vorgesehen, war durch die Vibration
der Tempelhof ansteuernden Flugzeuge baufällig geworden. Das Bezirksamt wollte
es künftig an ein gehobenes Restaurant vermieten, doch man sah davon ab, weil
man die anwohnende Bevölkerung als nicht ausreichend zahlungskräftig
einschätzte. Einen Teil des Gebäudes nutzt zu der Zeit der Maler und Bildhauer
Markus Lüperts, um zehn monumentale Bilder für den Neubau des Krankenhauses Neukölln
zu malen. Nach einem Kunst-am-Bau-Wettbewerb bekam er für seinen Beitrag den
Zuschlag und das Recht, bis zur Fertigstellung seines Auftrags den Seitenflügel
als Atelier zu nutzen, in dem er nun seit
vielen Jahren arbeitet, danach soll Lüpertz
das Atelier aufgeben. Aber er zögert die Fertigstellung seines letzten
Bildes immer weiter heraus. Letztlich vereinbart Dorothea mit ihm, die Eröffnung
der Galerie mit einer Ausstellung seiner Arbeiten zu feiern und damit endlich
den Raum freizumachen.
Innerhalb der Bezirksverwaltung gibt es Uneinigkeit über die
künftige Nutzung des Gebäudes. So plant der Baustadtrat, dort im Winter die
Palmen abzustellen, die für den Körnerpark angeschafft werden sollen. Man
einigt sich, das Gebäude lediglich im Sommer als Galerie zu nutzen und im
Winter den Palmen das Vorrecht einzuräumen, nach der Devise: „Besser den Spatz
in der Hand...“ Nach der erfolgreichen Galerieeröffnung mit „Gott und der Welt“,
wie Dorothea erstaunt berichtet, schlägt der Baustadtrat vor, für die
Unterbringung der Palmen eine Glaswand einzuziehen, um die Galerie das ganze
Jahr bespielen zu können. Nach dem ersten Winter stellt sich heraus, dass der
nun abgetrennte Raum für die Palmen zu klein und der Aufwand für den Gärtner zu
groß ist, so dass die Palmen künftig in einem anderen Gewächshaus des Bezirks
untergebracht werden.
Die Galerie wird in das Vermögen des Kulturamts übertragen.
„Bisher haben wir alle Aufgaben für die Galerie zusätzlich gemacht. Wir hatten
keinen Extra-Pfennig, weder für die Planung, noch für die Ausstattung.“ Es
trifft sich gut, dass die Sekretärin des Stadtrats aufgrund ihrer guten
Kontakte zur Kulturverwaltung des Senats erfährt, dass das Ausstellungssystem
einer in New York gezeigten Berliner Ausstellung nicht mehr gebraucht wird und
abgeholt werden kann. „So kam das erste Stellwandsystem in die Galerie, mit
Rückwänden, auf die wir etwas hängen konnten. Es war etwas schwerfällig, aber
wir konnten damit arbeiten.“ Für das Galerie-Personal werden zwei ABM-Stellen
bereitgestellt. Jahrelang herrscht das Arbeitsprinzip: Man nimmt, was man
bekommen kann, und im Laufe der Zeit wird das Provisorium Gewohnheitsrecht.
Seit 1989 begann auch Berliner Kulturpolitik sich für eine
Stadtteil-Kulturarbeit zu interessieren. „Wir bekamen die erste rot-grüne
Koalition. Vorher wurde das überhaupt nicht ernst genommen.“ Neukölln bekommt
sechs neue Stellen, zwei für das Museum, zwei für die Musikschule, eine für die
Galerie und eine für das Gemeinschaftshaus.
Der Saalbau
An ihrem ersten Arbeitstag am 1. August 1981 führt der
Hausmeister Dorothea zum Saalbau Neukölln am U-Bahnhof Karl-Marx-Straße. Der einst
schöne und beliebte Veranstaltungsort modert vor sich hin und wartet auf den
Abriss. Zwei Putzfrauen sitzen am Tisch und überbrücken strickend ihre
Arbeitszeit. Dorothea kann es nicht fassen, dass dieses Gebäude mit zwei Sälen
brach liegt, angesichts des Mangels an Veranstaltungsräumen in Nord-Neukölln.
Noch bis vor kurzem nutzte die Musikschule einen Saal für Tanz, Ballett und das
Blockflötenensemble, manchmal wurden Kinderfilme gezeigt. Viele Neuköllner
Kinder verbinden wunderbare Erinnerungen mit dem Saalbau.
Dorothea wendet sich an den Stadtrat und erkundigt sich nach
den Plänen. Barsch verbietet er ihr, weiterhin über den Saalbau zu sprechen.
Also redet Dorothea bei jeder passenden Gelegenheit darüber, dass in
Nord-Neukölln dringend ein Raum benötigt wird und sucht Verbündete, die sie in
den eigenen Reihen, der Kulturverwaltung des Senats und im Abgeordnetenhaus
findet. Es gibt einige Politiker, die in Neukölln aufgewachsen sind und den
Saalbau noch als intaktes Gebäude kennen. Ihnen berichtet sie von den Plänen
des Bezirksamts, anstelle des Saalbaus in dessen Nähe ein Mehrzweckhaus mit
einem großen Saal für die Volksbildung zu errichten. „Sicher könnte man damit
viele Fliegen mit einer Klappe schlagen, aber eine Kultur-Atmosphäre würde dort
nie entstehen.“ Da mit den gleichzeitig stattfindenden Vorbereitungen der 750-Jahrfeier
Berlins historische Gebäude eine neue Bewertung erfahren, gelingt es, die
Mehrheit der Abgeordneten zu überzeugen. Sie stimmen für den Wiederaufbau und
die Finanzierung des Saalbaus, der unter Denkmalschutz gestellt wird. Bis zur
Eröffnung 1988 gibt es heftige politische Auseinandersetzungen um die Zukunft
des Hauses („Wem gehört die Stadtkrone?“). Die in Neukölln regierende CDU entmachtet
zwischenzeitlich das Kulturamt, indem sie den Saalbau aus dessen Zuständigkeit herausnimmt
und dessen Sachkunde für unerwünscht
erklärt. Nach den Wahlen stellt die SPD den neuen Bürgermeister. Dessen erste
Amtshandlung ist es, den Saal dem Kulturamt zurückzugeben. „Und das Gemeinschaftshaus
bekamen wir noch dazu. Damit war das Kulturamt ganz gut ausgestattet.“
Neuköllner Oper
Seit ihrem Studium ist Dorothea mit dem Komponisten und
Regisseur Winfried Radeke bekannt. Er leitete einen Kammerchor, aus dem 1976
die Neuköllner Oper hervorging. Das Ensemble tritt an verschiedenen Spielorten
auf. „Als ich dann Kulturamtsleiterin wurde, kam er hoffnungsvoll zu mir und
bat mich, ihn bei der Suche nach einem festen Theaterstandort zu unterstützen.
Ich habe mich für ihn bemüht. Seit einiger Zeit begann ich in Richtung Passage zu spekulieren.“ Die
Passage ist ein eindrucksvolles, denkmalgeschütztes Geschäftshaus mit Kino und darüber
liegendem Ballsaal aus dem Jahr 1910, welches fast an das Grundstück des
Saalbaus angrenzt. Es gehört einem privaten Eigentümer. Der ehemalige Kinosaal
wird von einem Gebrauchtmöbelladen genutzt. Dorothea hat gehört, dass der
Besitzer die Räume an einen Fernsehsender vermieten will. Eines Tages geht sie
an seinem Haus vorbei, als er gerade auf einem Baugerüst steht. Sie hält an und
fragt spontan: Wie wäre es, wenn die Neuköllner Oper hier einziehen würde? – Das
ist ein neuer Gedanke für ihn, dem er sich nicht verschließen will. Bei einer
Tasse Kaffee tauschen die beiden ihre Interessen aus und schmieden erste Pläne.
„Das Glück war, dass der Eigentümer Sinn für das Theater hat. Seine Eltern
besaßen eine Marionettenbühne, mit der sie nach dem Krieg in einem Leiterwagen
von Schule zu Schule gezogen sind und Puppentheater gespielt haben.“ Es folgen
viele Sitzungen, in denen diskutiert wird, welche Nutzungen sich im Haus
vertragen würden und wie das Projekt finanziert werden könnte. Ein kulturelles Kino
würde die Opernnutzung an diesem Standort gut ergänzen. So könnte ein „Ankerpunkt“
im Haus entstehen. Die Betreiber des Yorck-Kinos melden Interesse an.
Schließlich stellt die Lottostiftung das Geld für den Umbau bereit, einen Teil der
Kosten übernimmt der Hausbesitzer, es wird ein langfristiger Mietvertrag
geschlossen, das Bezirksamt zahlt die (moderate) Miete. Das Laientheater Vineta
erhält das Recht, einmal im Jahr die Bühne der Neuköllner Oper zu nutzen. Vor
dem Umbau dürfen Studierende der Universität der Künste das ganze Haus für eine
Hinterhofoper bespielen und es somit der Kultur weihen. Berlin ist gerade Kulturhauptstadt
Europas. In demselben Jahr (1988) zieht die Neuköllner Oper in die Passage ein.
Sechs Monate später wird das Kino eingeweiht. „Wir standen oben in den Räumen
der Oper, zitternd und bebend, ob die Lautsprecher richtig eingestellt sind und
die Dämmung so perfekt eingezogen ist, dass kein Ton zu uns dringt. Es hat
geklappt!“ Viele Schwierigkeiten müssen noch bewältigt werden. „Da alle das
Projekt wollten, haben wir es geschafft.“
Kulturelle Bildung
Parallel zu den Bemühungen um Räumlichkeiten für die inzwischen
gut entwickelte Kulturlandschaft Neuköllns kümmert sich das Kulturamt auch um
die Künstler und Kulturschaffenden selbst: „Die Förderung kultureller Bildung
ist zentrale Aufgabe kommunaler Kulturarbeit.“ So lobt es den Neuköllner
Kunstpreis aus, organisiert ABM-Stellen und sorgt für kostenlose Ausstellungsmöglichkeiten.
Dorothea ist Mitbegründerin des Kulturnetzwerkes Neukölln e.V., das bis heute
59 Mitglieder zählt: „Ohne solidarischen Schulterschluss der
Kultureinrichtungen war unser riesiges Konstrukt nicht zu stemmen“.
Schließlich stehen auch die Kinder im Fokus: Nach dem Umzug
des Heimatmuseums nach Britz im Jahr 2010 werden die Räumlichkeiten in der
Ganghofer Straße in ein „Kinderkünstezentrum“ umgewandelt, als erste
künstlerische Einrichtung für ganz Berlin, wo Kinder unter sechs Jahren unter
Anleitung künstlerische Erfahrungen machen können. „Natürlich zu wenig, aber
ein wichtiger Anfang.“ Schulkindern und Jugendlichen steht in Räumen hinter der
Alten Post die Einrichtung „Young Arts Neukölln“ zur Verfügung, wo sie in
Zusammenarbeit mit den Schulen und Kunstschaffenden Kurse und Workshops zu
Bildender Kunst, Fotografie und Theater belegen können. „Übrigens waren wir der
erste Bezirk, der im Haushalt einen Topf für kulturelle Bildung hatte“, sagt
Dorothea stolz.
Heute ist die Neuköllner Kulturlandschaft gut aufgestellt –
das wichtigste ist, sie zu stabilisieren. Sie leuchtet zwar über den Bezirk
hinaus, wie mit dem großen Festival „48 Stunden Neukölln“ – aber immer wieder
flackernd, denn arm ist sie bis heute.
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