Freitag, 23. Juni 2017

35. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 15. Juni 2017


Dr. Bernhard Bremberger – Kulturhistoriker

„Erzählen ist eigentlich nicht mein Ding“, sagt Dr. Bernhard Bremberger und packt aus einer großen Tasche Bücher, Schriftstücke, Fotos und andere Objekte aus. „Meistens trage ich nach einem Manuskript vor. Doch für heute habe ich nur Stichworte vorbereitet, und diese Gegenstände sollen meinen Vortrag unterstützen.“ Dann lässt er eine Karikatur aus dem frühen 18. Jahrhundert herumgehen, die einen „Büchernarren“ zeigt in einem Raum mit vollgestellten, wandhohen Bücherregalen.[1] Manche zählen mich auch zu dieser Spezies, meint er ironisch.

Bernhard Bremberger kommt 1953 in Darmstadt zur Welt. Sein Vater ist Postbetriebsinspektor; seine Mutter stammt aus dem Sudetenland und bringt einen Sohn mit in die Ehe, aus der sieben weitere Kinder entspringen. Sie werden katholisch erzogen und wachsen in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen auf. Die Familie wohnt beengt im Obergeschoss eines kleinen Einfamilienhauses, das den Großeltern gehört. „Manchmal war unsere Mutter froh, wenn sie einen Apfel auf alle Kinder aufteilen konnte“, erzählt Bernhard. „Telefon, Fernseher oder gar Auto hatten wir nicht. Und wie und wo kann eine so große Familie gemeinsam Urlaub haben? So gab es für einzelne von uns das eine oder andere Mal eine Fahrt mit einer Jugendgruppe. Und wir sind oft und gerne zusammen in den Wäldern gewandert. Auf Eines achteten unsere Eltern: dass wir alle Abitur machen und eine gute Ausbildung bekommen – und dass wir alle ein Instrument spielen lernen.“

Bernhard erinnert sich, wie er sich als Kind für Tiere interessiert; er liest den „Kleinen Tierfreund“ und hat ein Aquarium und ein Terrarium für Reptilien: Frösche, Lurche und sogar einen Salamander. Als Jugendlicher beteiligt er sich aktiv in katholischen Jugendgruppen und betreut später die Jüngeren auf gemeinsamen Fahrten. Er spielt im Verein Basketball und übernimmt Freiwilligendienste im Krankenhaus. Einmal nascht er als Gymnasiast abends Quark, vermischt mit Nescafé; das hat zur Folge, dass er nachts nicht schlafen kann. So greift er sich sein Chemiebuch und studiert es Seite für Seite. Chemie wird sein Lieblingsfach, und alle Zeichen deuten auf ein späteres naturwissenschaftliches Studium hin.

1972 beginnt Bernhard mit einem Medizinstudium in Berlin. Den Studienplatz hat ihm die ZVS (Zentrale Vergabe für Studienplätze) zugewiesen. Das Studium ist sehr verschult: Allein im ersten Semester sind gut 15 Veranstaltungen zu bewältigen, wie Anatomie, Chemie, Physik, Physiologie etc. Die rein naturwissenschaftliche Ausbildung behagt Bernhard nicht. Er wünscht sich eine Medizin, die nicht in der Interpretation mathematischer Kurven besteht, die vielmehr den Menschen im Mittelpunkt hat. Außerdem lernt er junge Ärzte kennen, die schon nach zwei, drei Jahren im Beruf völlig ausgelaugt sind. So soll sein künftiges Berufsleben nicht verlaufen; er hat doch noch andere Interessen. Nach dem Vorphysikum bricht er das Medizinstudium ab. Viele Jahre meidet er die Gegend um die Freie Universität. Doch findet er später den Bogen zur Medizin zurück: Jetzt arbeitet er über die Gesundheitsversorgung von Zwangsarbeitern in der NS-Zeit und veröffentlicht dazu. Gerade erschien ein Aufsatz, der seine Forschungen dazu zusammenfasst.[2]

Noch in der Schulzeit lernt er bei einem Nachbarn Gitarre, so richtig „nach Noten zupfen“. Ihn begeistern die frühen Balladen der Bee Gees und der Lords. Daneben hört er die Musik der amerikanischen Folk- und Antikriegsbewegung mit Sängern wie Bob Dylan und Joan Baez. In Berlin sucht er Gleichgesinnte zum gemeinsamen Musizieren. Sie singen amerikanische und englisch-irische Folklore, Protestlieder gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Heute findet er, dass das politische Bewusstsein, das in den hier gesungenen anglo-amerikanischen Folksongs zum Ausdruck kam, eher von einem Gerechtigkeits- und Solidaritätsgefühl bestimmt war – weit weg von hiesigen konkreten politischen Auseinandersetzungen. Früher, in der Schule, wurde Bernhard als „Brummer“ mit den Worten: „Du kannst nicht singen“ aus dem Chor entlassen. Nun hat er Lieder für sich entdeckt, bald auch deutschsprachige. Dies ist Anfang der Siebziger Jahre neu, dass deutsche Volkslieder nicht nur reaktionär-konservativ verwendet werden oder einfach harmlos sind wie Schlager, sondern fundierte Inhalte haben können; oft drücken sie Protest, Unmut und Widerstand aus. Er sucht nach weiteren solchen Liedern und forscht nach interessanten Texten. Dabei entdeckt er Heinrich Heine, der zu seinem Lieblingsdichter wird. Mit seinen Kollegen vertont er ausgewählte Gedichte, sie üben neue Lieder ein oder treffen sich spontan zur Straßenmusik – im Duo oder in einer größeren Gruppe. Sie begleiten sich mit Gitarren und anderen Zupfinstrumenten, Flöten, einer Drehleier, einem flämischen und einem böhmischen Dudelsack, Perkussion. Mit alten Autos – R 4 oder VW-Bus - reisen sie manchmal für einige Wochen in verschiedene Städte Westdeutschlands, treten auf der Straße auf und können dann sogar von dem eingesammelten Geld leben. Dass diese Aktivitäten seinen Eltern wohl nicht behagen, spürt Bernhard.

„Wir dachten damals, jeder sei ein Künstler, jeder könne alles. Tatsächlich haben wir vieles selber gemacht“, erzählt Bernhard und führt ein selbstgebautes Zupfinstrument, eine Zither, einen Dulcimer vor. „Ich gebe es zu, es war ein Bausatz. Aber danach habe ich noch ein ganze Reihe selbst hergestellt.“ Natürlich werden auch die Autos eigenhändig repariert. „Es waren Schrottmühlen, aber wir hatten nicht genug Geld für Werkstätten.“ Wenn die Freunde nicht weiter wissen, schlagen sie in Ratgeberbüchern nach. Dort ist beschrieben, wie ein Motor repariert werden kann. Und an einen besonders klugen Ratschlag erinnert sich Bernhard noch genau: Wenn dein VW-Bus ein Panne hat, setz dich erst hin und trinke einen Tee...

Nicht immer bereiten die Auftritte nur Freude. Am Kranzler-Eck in Berlin will ein Polizist den Gesang verbieten: Die Musiker hätten vier Genehmigungen gebraucht, etwa vom Gewerbeamt, vom Tiefbauamt oder vom Senat für Umweltschutz. Die Musiker mit ihren leisen akustischen Instrumenten sind längst nicht so laut wie die umherfahrenden Autos an der Kreuzung, und im Weg stehen sie auch nicht. Also spielen sie pantomimisch weiter, indem sie so tun, also ob sie Musik machen würden und haben einen Heidenspaß dabei, etwa stumm fünfstimmige Gesänge für zwei Musiker zu improvisieren. „Es ist skurril, mit welchen Vorgaben unsere Auftritte verhindert werden sollten“, meint Bernhard noch heute amüsiert. Unter dem Straßburger Münster, zum Beispiel, darf die Gruppe ebenfalls nicht stehen. Sie umgeht das Verbot, indem sie musizierend um den benachbarten Brunnen spaziert. Bernhard findet es spannend zu erleben, wie man auf legalem Weg solche Verbote umgehen kann.

Verbotene Musik, das hat Bernhard schon früh erfahren, ist auch in anderen Ländern ein Thema: Schon 1968 bekommt er mit, dass Joan Manuel Serrat, der Sänger des spanischen Grand-Prix-Eurovision-Beitrags nicht auftreten und durch eine Sängerin ersetzt wurde, weil er katalanisch sang. Er weiß, dass Wolf Biermanns Lieder in der DDR unterdrückt sind, die Musik von Mikis Theodorakis verboten und der Komponist selbst in ein winziges Dorf verbannt wurde. Und nun erlebt er selbst die Grenzen des Erlaubten in der Musik.

Nach Jahren will Bernhard sein Interesse an der Musik mit einem neuen Studium verbinden. Das Geld zum Leben verdient er sich jetzt als Taxifahrer. Seit 1979 wohnt er in Neukölln. Er studiert Musikethnologie, um mehr über die hiesige traditionelle Volkmusik zu erfahren. Dabei lernt er auch die Musik außereuropäischer Kulturen kennen. Zunächst gibt es Feldforschungsprojekte in Berlin, etwa über den Tegeler Tamburaschenchor. Das ist ein Ensemble mit aus Jugoslawien stammenden Zupfinstrumenten; im frühen 20. Jahrhundert wurden sie in Berlin in großen Orchestern gespielt.[3] Er forscht zur politischen Musik aus der Türkei, zu sozialkritischen und zu kurdischen Liedern. Auch damals wurden kritische Äußerungen in der Türkei verfolgt, Künstler mussten Strafen bis zum Gefängnis befürchten und konnten sich oft nur im Exil äußern. Er schreibt über die Berliner türkische Musikgruppe Yabanel (Der Name bedeutet so viel wie „fremdes Land“).[4] Bei einer Exkursion in die Schweiz erforschen die Studenten den Betruf auf dem Urnerboden. Dort leben im Sommer die Älpler auf den „Stafeln“ genannten Alphütten, hüten das Vieh und stellen Käse her. Zum Abschluss des Tages rufen sie durch einen Milchtrichter einen traditionellen „Alpsegen“ – auf jeder Stafel etwas anders. Bei diesem „Betruf“ schicken die Menschen ihre Gebete mit einer eigenen Melodie gen Himmel und informieren gleichzeitig die weit weg wohnenden Nachbarn darüber, dass sie ihr Tagwerk gut vollbracht haben.[5]

Sein Hauptthema ist jedoch die Geschichte des Liederbuchs „Student für Europa“. In den Siebziger Jahren war dies eine der besten und beliebtesten Liedersammlungen, die auch oft von Lehrern im Unterricht genutzt wurde. Bernhard schreibt seine Magisterarbeit über die Entstehung und Geschichte dieser Liederbuchreihe.[6] Doch weil darin auch politische Lieder enthalten sind, gab es häufig Skandale, und die Lehrer mussten um ihre Existenz fürchten. Bernhard sammelt seit vielen Jahren Informationen zu „verbotener Musik“ und schreibt seine Dissertation später in Bamberg über das Thema Musikzensur.[7] Ihm wird angedeutet, mit so einem engagierten Thema habe er wohl in der Musikethnologie kaum berufliche Chancen.

Nach dem Studium bekommt Bernhard eine Arbeit beim „Internationalen Institut für Vergleichende Musikstudien und Dokumentation“ am Bahnhof Grunewald. Seine Aufgabe ist es, die in Berlin ansässigen internationalen Musikgruppen zu dokumentieren und Porträts von den Musikern und Tänzern zu erstellen. Für Radio 100, den ersten privaten Hörfunksender mit links-alternativer Ausrichtung in West-Berlin, stellt er zum Thema „Klänge der Welt“ eine Sendung zusammen. Auf die in Aussicht gestellte Bezahlung wartet er vergebens. „Damit beginnt etwas, das ich später noch so oft erleben werde: die Selbstausbeutung“.

Die folgenden zehn Jahre ist Bernhard arbeitslos. Aber die Hände legt er nicht in den Schoß. Er unterstützt Sema – die Sängerin der Gruppe Yabanel, mit der er Mitte der Achtziger Jahre eine Zeit lang liiert war und danach weiterhin in Freundschaft verbunden ist – bei ihrer Karriere und managt ihre Konzerte. Für die Büchersammlung der Brüder Grimm in der Hauptbibliothek der Humboldt-Universität organisiert er ehrenamtlich Buchpatenschaften, damit einzelne kostbare Bände mit den handschriftlichen Notizen dieses großartigen Geschwisterpaars restauriert werden können.[8] Auf seine fachlichen Schwerpunkte als Musikwissenschaftler und Turkuloge zurückkommend entwickelt er Seminarthemen über das Türkenbild in der europäischen Musik, die er der Freien Universität Berlin anbietet. Ausgehend von Mozarts „Rondo alla turca“ und „Entführung aus dem Serail“ präsentiert er Musik- und Theaterstücke, Literatur und Reiseberichte in mehrsemestrigen Seminarzyklen. „Übrigens woher kommt der Begriff ‚getürkt’?“ fragt Bernhard und erklärt, dass Ende des 18. Jahrhunderts der türkische Schriftsteller Ali Aziz Efendi von den Osmanen als Botschafter nach Berlin geschickt worden war. 1798 verstarb er und wurde vor den Toren der Stadt im heutigen Bereich der Urbanstraße beigesetzt. Auf diesem Gelände fanden militärische Übungen statt. Täuschungsmanöver wurden in der Nähe des Grabes geprobt, und daher sagten die Soldaten dazu: „den Türken machen“, woraus sich „einen Türken bauen“ und das Verb „türken“ entwickelten.

Bei einem Gespräch mit seiner Schwester, die in der Altenpflege biografisch arbeitet, wird er nach seinem Lieblingsmärchen gefragt. Ihm fallen die Karl-May-Bände seines großen Bruders ein, die er nachts unter der Bettdecke verschlang und die ja eigentlich auch Märchen sind. Im Kommunionunterricht wollte der Pfarrer wissen, was die Kinder einmal werden wollen. Bernhard antwortete: „Cowboy“. Karl May ist berühmt für seine Indianergeschichten, doch mehr als über den Wilden Westen hatte May – eigentlich ein Heimatschriftsteller, der seine Dorfgeschichten in exotische Welten verlegte – über den Orient geschrieben. Im ersten Satz von Winnetou I hatte er den Orient als seinen Bezugspunkt genannt: "Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein."[9]

Einmal entdeckt Bernhard eine alte Zeichnung mit einer Pflanze, die menschliche Züge trägt. Es ist eine Alraune. Bernhard wird neugierig und beginnt mit Hilfe seines jüngeren Bruders, der Biologe ist, über Alraunen zu forschen. Es handelt sich um giftige Heil- und Ritualpflanzen, die seit der Antike als Zaubermittel gelten. In kürzester Zeit häuft sich das gesammelte Material. Die Abbildungen ordnet Bernhard zu einer ikonographischen Arbeit und stellt sie für eine Buchveröffentlichung fertig. Leider findet sich kein Verlag. Aber das Material liegt vor und könnte zum Beispiel jederzeit für eine Ausstellung verwendet werden. Trotzdem bringt ihm die Pflanze Glück. Bei einem Job in einem Buchladen lernt er seine spätere Lebensgefährtin kennen; sie heißt Alraune.

Endlich, im Jahr 1998, bekommt Bernhard eine auf zwei Jahre befristete ABM-Stelle beim Museum Neukölln. Er arbeitet mit bei den Vorbereitungen der Ausstellung zur Hundertjahrfeier der Stadt Rixdorf: „Vom Dorf zur Stadt“. So steigt er in die Lokalforschung ein. Bei den Zeitungsrecherchen fällt ihm ein Artikel aus dem Jahr 1899 in die Hände, der sich mit Rixdorf im Jahr 2000 befasst. Was die Menschen sich damals vorstellten! Bernhard schreibt darüber einen Aufsatz und trägt so dazu bei, dass diese utopischen Vorstellungen auf der Bühne des Saalbaus thematisiert werden.[10]

Bei der nächsten geplanten Museums-Ausstellung für das Jahr 2000 geht es um das Thema Geburt: „Der erste Schrei oder wie man in Neukölln zur Welt kommt“. Bernhard bearbeitet den Zeitabschnitt „Drittes Reich“ und befasst sich mit der Landesfrauenklinik am Mariendorfer Weg.[11] Dort befand sich die Hebammenlehranstalt, die zentral für das gesamte Deutsche Reich zuständig war. Eine der Hauptfragestellungen richtet sich auf die Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Angesichts der um das Jahr 2000 aktuellen Diskussion um Entschädigungsleistungen für Zwangsarbeiter ein brisantes Thema, zu dem er zunächst kaum Hinweise findet, bis er sich an das Standesamt wendet. Dort erhält er die Genehmigung in den Geburts- und Sterbebüchern zu recherchieren. Er findet heraus, dass allein im Juli 1944 jedes fünfte in Neukölln geborene Baby das Kind einer Zwangsarbeiterin war. Im gesamten Jahr 1944 war es jedes zehnte Kind. Außerdem entdeckt er zahlreiche Hinweise auf Lager in Neukölln, die noch nicht bekannt sind. Bernhard weiß, dass Zwangsarbeit in Neukölln verleugnet wird. Andererseits ist es bekannt, dass es im Deutschen Reich während des Krieges zwölf Millionen Zwangsarbeiter gegeben hat, davon acht Millionen Zivilisten aus den besetzten Gebieten. In Berlin gab es über eine Millionen Zwangsarbeiter, davon vielleicht zehn Prozent in Neukölln. Einige wenige Firmen haben die Geschichte aufgearbeitet. Die meisten schotten sich ab.

Eines Tages fragt eine Journalistin im Museum nach, ob etwas über Zwangsarbeit auf einem der kirchlichen Friedhöfe an der Herrmannstraße bekannt sei. Sie recherchiere in der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde (Kreuzberg), habe aber das Gefühl es werde gemauert. Das Museum weiß nichts, aber Bernhard erinnert sich an ein Sterbedokument eines 33jährigen Ukrainers mit der Wohnadresse Herrmannstraße 84–90. Dort liegt ein Friedhof, auf dem muss sich also ein Zwangsarbeiterlager befunden haben. Dies war bereits in einer kirchlichen Chronik erwähnt worden war – folgenlos selbstverständlich. Bernhard findet heraus, dass auch in den Bauakten ein ausführlicher Schriftverkehr zum Bau dieser Baracken vorliegt. Er informiert die Journalistin, die in einer Rundfunksendung Wolfgang Huber, den Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg damit konfrontiert. Dieser verspricht das Thema aufzuarbeiten und richtet eine Arbeitsgruppe ein. In einem Pavillon auf dem Thomasfriedhof sind die Ergebnisse ausgestellt. Rund dreißig Berliner Kirchengemeinden hatten gemeinsam dieses Zwangsarbeiterlager betrieben. Dem Rechercheteam ist es gelungen, einige der osteuropäischen Zwangsarbeiter aus diesem Lager ausfindig zu machen, deren Geschichte sie erzählen und sogar ein Tagebuch zu finden und zu veröffentlichen.[12] Außerdem haben die betroffenen Gemeinden einen Gedenkstein errichtet.

Mitte 2000 beschäftigt sich auch der Tagesspiegel mit diesem Thema und veröffentlicht eine Befragung einzelner Firmen, ob es bei ihnen Zwangsarbeit gegeben hat. Die Firma Eternit verneint beispielweise. Doch Bernhard kann das Gegenteil beweisen. Aus seinen zusammengestellten Standesamtsunterlagen geht hervor, dass sich in der Rudower Kanalstraße 117-155, dem Eternit-Standort, ein Zwangsarbeiterlager befunden haben muss. Darüber schreibt Bernhard einen Artikel, den er vor der Veröffentlichung dem Museum und auch dem Standesamt zur Freigabe vorlegt. Das Standesamt informiert die Rathausspitze. Zurück kommt ein strenges Nein; Eternit war immerhin ein wichtiger Arbeitgeber in Neukölln. Aber für eine Ausstellung im Museum darf Bernhard einige Dokumente verwenden. Sie zeigen die Geburtsdaten von Kindern, deren Mütter im Eternit-Zwangsarbeiterlager gewohnt haben. Bernhard fährt in Urlaub, und nach seiner Rückkehr erhält vom Standesamt die Nachricht, dass er nicht mehr dort recherchieren dürfe. Besonders motiviert durch das Verbot vom Bürgermeister erarbeitet Bernhard nach Ablauf seines Arbeitsvertrags eine Homepage (www.zwangsarbeit-forschung.de), auf der er die ihm bekannten Lageradressen veröffentlicht. Der Bezirksbürgermeister und das Standesamt können die Informationen nicht mehr stoppen. Er erhält Anfragen aus aller Welt.

Noch während seiner Museumsarbeit hatte Bernhard die Erfahrung gemacht, dass ein Austausch mit anderen Experten im In- und Ausland sehr zeitaufwendig ist. Bei einer Tagung im Januar 2001 im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt kamen 70 Fachleute zusammen. Dort stellt Bernhard ein Kommunikationsmittel vor, welches den fachlichen Austausch revolutionierte: Die internationale Mailing-Liste NS-Zwangsarbeit moderiert Bernhard bis heute und investiert anfangs jeden Tag etwa eine Stunde in dieses Projekt, jetzt deutlich weniger.[13]

Im Jahr 2001, „das ein einschneidendes Jahr für mich sein wird“, endet Bernhards Vertrag mit dem Museum. Bei der gerade beim Berliner Senat eingerichteten „Koordinierungsstelle für die Auskunftsersuchen von Zwangsarbeitern“ wird ihm eine neue Stelle im Rahmen eines Fünfjahresvertrags angeboten. Seine Aufgabe ist es für ehemalige Zwangsarbeiter, die eine Entschädigung beantragen, den Nachweis zu führen, wo und wann sie tatsächlich eingesetzt waren. Bei den Recherchen hat er freie Hand. Nach knapp zwei Monaten bremst im Mai 2001 ein Schlaganfall diese Arbeit. Bernhard braucht viele Monate, bis er sich davon einigermaßen erholt. Mit seinen verbliebenen Kräften arbeitet Bernhard an der Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle weiter. Er forscht zum Beispiel in den Reviertagebüchern der Berliner Polizei, die sich in der Polizeihistorischen Sammlung befinden. Oder sucht in Berliner Krankenhäusern nach Dokumenten, welche den Aufenthalt von Zwangsarbeitern nachweisen. Im Wintersemester 2002/3 führt er mit zwei Kollegen im Reformstudiengang Medizin an der Charité ein Seminar über Zwangsarbeit im Berliner Gesundheitswesen durch. Dann verfasst er zusammen mit einem Medizin- und einem Lokalhistoriker einen Aufsatz über das bislang unbekannte Ausländerkrankenhaus in Mahlow für schwerstkranke Zwangsarbeiter.[14] Eines Tages meldet sich eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die bei einer Firma namens „Sorotti“ Röhren produziert hatte. In Tempelhof gab es die Schweizer Schokoladenfabrik Sarotti. Bernhard telefoniert mit der für diesen Standort nun zuständigen Nestle-Zentrale in Frankfurt. Dort gibt man unumwunden zu, dass Sarotti in Berlin Zwangsarbeiter beschäftigt hat und erlaubt sogar das Archiv in Tempelhof aufzusuchen um Nachweise für ausländische Zwangsarbeiter zu finden. Aus der Arbeit in der Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle entsteht später ein Buch.[15]

Noch heute spürt er Beeinträchtigungen durch den Schlaganfall. Doch das Thema Zwangsarbeit lässt ihn nicht mehr los. So forscht er mehrfach beim Internationalen Suchdienst im hessischen Bad Arolsen, der im Auftrag der Alliierten nach dem Krieg alle Informationen über Zwangsarbeit gesammelt hatte. Einige Jahre lang zeigte sich der Suchdienst, der sich erst 2007 – nach dem Ende der „Nachweissuche“ - für die Forschung geöffnet hatte, wenig kooperativ und behindert die Arbeit. Bernhard geht an die Öffentlichkeit und erhält Unterstützung von vielen Seiten. Nach einem aufreibenden Dreivierteljahr kann er endlich die Kopien aller Listen, die er im Auftrag des Neuköllner Kulturamtes recherchiert hatte, in seinen Händen halten.[16]

Anfang 2001 hatte Bernhard schon einmal eine Liste mit Kreuzberger Zwangsarbeiterlagern aus Arolsen geholt. 365 Lager sind dort für diesen kleinen Bezirk genannt. Die von Rainer Kubatzki zusammengestellte „Bibel“ der Berliner Zwangsarbeiterlager nennt 1.044 Lager innerhalb der Stadtgrenzen,[17] davon 29 für Kreuzberg. Daraus schließt Bernhard, dass es in Berlin viel mehr Lager gegeben haben muss, als bisher bekannt ist, „etwa eine fünfstellige Zahl“.

Er ist aktiver denn je. 2013 wertet er in einer sechswöchigen Kur umfangreiche Unterlagen aus Arolsen aus. „Diese Zeit zahlt einem ja doch keiner“, meint Bernhard. Er recherchiert zu verschiedenen Stadtteilen, hält regelmäßig Vorträge, verfasst Aufsätze und Artikel (so etwa seit fünf Jahren eine Serie zu Zwangsarbeit im Rudower Magazin). Als 2012 der Neuköllner Antifaschist Werner Gutsche stirbt, den Bernhard im Museum oft getroffen und sehr geschätzt hat, ruft er dessen Wegbegleiter zusammen, um ihm zur Erinnerung ein Buch zu veröffentlichen.[18] Gerade schließt er ein Forschungsprojekt über die Ermordung kranker Zwangsarbeiter in Heil- und Pflegeanstalten ab und hat eine Menge Ideen, die er noch umsetzen möchte.

Und das Fazit? „Musik, Bilder und Bücher und die Beschäftigung mit anderen Kulturen  spielten in meinem Leben eine große Rolle. Ich war immer neugierig, deshalb interessierte mich die Geschichte, gleichzeitig aber auch das Neue. Vieles habe ich selbst erarbeitet, aus Eigeninitiative. Von meinen Arbeiten konnten viele profitieren, sei es, dass sie meine Rundfunksendungen genießen konnten oder dass meine Artikel und Bücher für sie interessant waren. Vielleicht haben sie mehr erfahren über die Geschichte des Ortes, an dem sie leben. Wenn man mich fragt, was ich davon habe, dann bleibt mir oft nicht mehr als ironisch zu antworten: 'Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit'. Also nichts Materielles. Aber ich habe Alraune. Sie gibt mir die Kraft für neue Projekte.“




[1] Johann Christoph Weigel: Centi-Folium Stultorum in Quarto: Oder Hundert Ausbuendige Narren; Nürnberg (1709); siehe dazu https://issuu.com/pauser/docs/pauservm6220093.
[2] BB: „Es wird geprüft werden, ob sich unter den polnischen Arbeitern Personen befinden, die zur Krankenpflege geeignet sind.“ Zur Pflege in Berliner Ausländerkrankenhäusern 1940-1945; S. 87-113 in: Historia Hospitalium. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte (30) 2017.
[3] BB / Eberhard Dietrich: Der Tambouraschenchor ‘Wellebit 1902’; S. 132-142 in: Max Peter Baumann (Hg.): Musikalische Streiflichter einer Großstadt; (Berlin) 1979.
[4] BB: Aspekte politischer Musik aus der Türkei; S. 198-217 in: Max Peter Baumann (Hg.): Musik der Türken in Deutschland; (Kassel) 1985.
[5] BB / Stefanie Döll: Der Betruf auf dem Urnerboden (Schweiz) im Umfeld von Geschichte, Inhalt und Funktion; S. 65-96 in: Jahrbuch für Volksliedforschung XXIX; (Freiburg) 1984.
[6] BB: Die Liederbücher des Student für Europa e. V. – Zur Genese und Geschichte einer Liederbuchfamilie; unveröffentlichte Magisterarbeit FU Berlin 1984.
[7] BB: Musikzensur – Eine Annäherung an die Grenzen des Erlaubten in der Musik. Die Auseinandersetzungen um die ‘Student-für-Europa’-Liederbücher; (Diss. Bamberg 1988; Berlin: Verlag Schmengler) 1990.
[8] BB: Buchpatenschaften – Märchen- und Sagenbücher aus der Grimm-Bibliothek der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin; 52 S., 1998.
BB / Elke Barbara Peschke: Grimm-Bibliothek. Zwischenbilanz; S. 2 in: News-Letter (Humboldt-Universitäts-Gesellschaft), II, 12/1998 (http://www.hu-berlin.de/hug/aktuelles/newsletter/news_0398/gdff-5_html).
[9] Esther Spicker: Bücher für die einsame Insel und andere Gelegenheiten; S. 75-80 in: Udo Gößwald (Hg.): Die Magie des Lesens; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Museums Neukölln vom 13. Mai  bis30. Dezember 2016 (Berlin).
[10] BB: „Rixdorf im Jahre 2000“. Eine futuristische Lokal-Komödie aus dem Jahre 1899; S. 26-33 in: Berlinische Monatsschrift VIII/12, Dezember 1999 (http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt99/9912proe.htm).
[11] BB: “Die kinderreiche, erbgesunde, rassisch wertvolle deutsche Familie - der einzige Wegweiser der deutschen Hebamme.“ Die Brandenburgische Landesfrauenklinik in Neukölln unter der Leitung von Prof. Benno Ottow (1933-1945); S. 24-28 in: Der erste Schrei oder: Wie man in Neukölln zur Welt kommt; Begleitband zur Ausstellung des Heimatmuseums Berlin-Neukölln vom 13. Mai 2000 - 1. April 2001 (Berlin).
[12] Wolfgang G. Krogel (Hg.): Bist Du Bandit? Das Lagertagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Timofejewitsch Kudrenko; (Berlin) 2005.
[13] BB: Die internationale Mailing Liste NS-Zwangsarbeit; (Hamburg, Museum der Arbeit, Tagung Geteiltes Gedächtnis? Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit im Europa des 21. Jahrhunderts) 2016 [https://www2.hu-berlin.de/forcedlabour/bernhard-bremberger-berlin/].
[14] BB / Frank Hummeltenberg / Manfred Stürzbecher: Das „Ausländerkrankenhaus der Reichshauptstadt Berlin“ in Mahlow; S. 221-273 in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger / BB (Hg.): Der „Ausländereinsatz“ im Gesundheitswesen (1939-1945). Historische und ethische Probleme der NS-Medizin; (Stuttgart) 2009.
[15] BB / Cord Pagenstecher / Gisela Wenzel (Hg.): Zwangsarbeit in Berlin. Archivrecherchen, Nachweissuche und Entschädigung; (Berlin: Metropol) 2008.
[16] Martin Otto: Das Auswärtige Amt kann nichts ausrichten. Beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen sind Akten zu allen KZ-Häftlingen gesammelt. Das Archiv steht der Forschung offen, aber der völkerrechtliche Sonderstatus erzeugt bürokratische Hindernisse; (Frankfurter Allgemeine Zeitung 9.8.2011); ders.: Der Arolser Kopierfriede. Seit 1946 sammelt der Internationale Suchdienst Akten zu den Opfern von Hitlers Vernichtungspolitik. Jetzt wird aus dem ITS ein Forschungszentrum. Das Bundesarchiv ersetzt das Rote Kreuz; (Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.12.2011).
[17] Rainer Kubatzki: Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager. Standorte und Topographie in Berlin und im brandenburgischen Umland 1939 bis 1945. Eine Dokumentation; (= Berlin-Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin 1), Berlin (Berlin-Verlag) 2001.
[18] BB / Matthias Heisig / Frieder Böhne: „Da müsst ihr euch ’mal drum kümmern“. Werner Gutsche (1923–2012) und Neukölln. Spuren, Erinnerungen, Anregungen; (Berlin: Metropol) 2016.

Sonntag, 4. Juni 2017

34. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag, 1. Juni 2017

Klaus Feldmann – Gold, Silber und Bronze im Kraftsport

Klaus Feldmann trifft an diesem Donnerstag als erster in den Räumen des Neuköllner Leuchtturms ein. In einer großen Tasche transportiert er Bilder, Zeitungsausschnitte und ein Fotoalbum, die er auspackt und sogleich den allmählich eintrudelnden Besuchern  zeigt. Er verwickelt sie sofort in ein Gespräch, während ich noch mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt bin. Ich hatte mir den 80-jährigen, breitschultrigen Kraftsportler größer vorgestellt: Leute, die über 100 Kilogramm stemmen, müssten mindestens 1,80 Meter groß sein. Bei Klaus Feldmann werde ich eines Besseren belehrt: lange Beine sind eher hinderlich beim Kraftsport. Es kommt auf die Muskelkraft an, in den Beinen, den Armen und am Bauch. Später dürfen wir seine Armmuskeln testen. Klaus Feldmann brennt darauf seine Geschichte zu erzählen und zieht uns drei Stunden in seinen Bann. Zum Schluss dürfen wir „Du“ zu ihm sagen und er duzt uns. So, wie er es gewohnt ist.

Klaus Feldmann ist ein waschechter Neuköllner. Heute wohnt er in Rudow, aufgewachsen ist er in verschiedenen Gegenden Nord-Neuköllns. 1936 wird er geboren. Sein Vater ist Fernfahrer und nur selten zu Hause. Klaus lebt mit seiner Mutter und dem sechs Jahre älteren Bruder kurze Zeit in der Thomasstraße, dann in der Oderstraße, wo ihr Wohnhaus im Krieg von einer Luftmine zerstört wird. Glücklicherweise finden die Ausgebombten in der Warthestraße eine Eineinhalbzimmer-Wohnung im vierten Stock.  1944, als die Fliegerangriffe der Alliierten stärker werden, dürfen Familien mit Kindern sich nicht mehr in Berlin aufhalten. Klaus und seine Mutter werden im Rahmen der Kinderlandverschickung nach Uschneudorf bei Schneidemühl (in Pommern, heute Polen) evakuiert. Klaus besucht dort die Dorfschule. Als sich im Januar 1945 die Ostfront nähert, fliehen Mutter und Sohn zurück nach Berlin-Neukölln in ihre alte Wohnung und geraten in das Chaos des Kriegsendes. Klaus Feldmann hat ein gutes Gedächtnis und kann sich noch an viele Einzelheiten erinnern. Für den aufgeweckten Neunjährigen hat der Krieg nichts Beängstigendes. „Ich war ein neugieriger Junge und habe überall herumgestöbert. Dass damit Gefahren verbunden waren, war mir nicht bewusst“, erklärt er und berichtet, wie nach Kriegsende die Jungen von der Straße nahe dem Flughafen Tempelhof ein Munitionsdepot entdecken. Sie lösen das Schwarzpulver aus den Patronen, weil sie wissen, dass man es zum Kochen benutzen kann. Die russischen Eroberer kümmern sich nicht darum. Wenige Wochen später fällt Neukölln in die Hände der Amerikaner, die das Spielen mit Munition bei Strafe verbieten. Einmal erwischen sie einen der Jungen bei der gefährlichen Bastelei und verprügeln ihn nach Strich und Faden.

Klaus erinnert sich auch an die allerletzten Kriegstage, als die Russen schon Treptow erreicht haben. Die Menschen in der Stadt versuchen sich irgendwie über Wasser zu halten; Essbares gibt es kaum noch. Man nimmt alles Verwertbare, das man findet, einfach an sich und nennt das „organisieren“. Einmal steht ein beladener Güterzug unbewacht auf dem Neuköllner Güterbahnhof, den die Leute aufbrechen, um ihn zu plündern, ungeachtet der immer näher kommenden russischen Bodenangriffe. Klaus und seine Freunde beobachten die Situation und mischen sich unter die Plünderer. Als das russische Kanonenfeuer den Zug erreicht, laufen die Kinder und einige Plünderer im letzten Moment weg und retten sich auf die angrenzende Böschung. Plötzlich erscheint deutsches Militär und riegelt die Zugtüren ab. Wenige Minuten später fliegt der Zug mit all den Menschen, die zu langsam und vielleicht zu gierig waren, in die Luft – vor den Augen der Kinder.

Als später die ersten Russen am Güterbahnhof ankommen, sind die Straßen wie leergefegt. Die Menschen, es sind ja nur Frauen, Kinder und Alte, haben sich in den Luftschutzkellern verschanzt. „Die Mongolen waren besonders rabiat“, erklärt Klaus. „Sie griffen sich den Schnaps und die Frauen“. Klaus und seine Freunde streunen trotzdem draußen herum; dort ist es viel zu aufregend, als die Ungewissheit im Luftschutzkeller auszuhalten. Plötzlich gibt es lautes Geschrei. Da sehen die Kinder, wie sich zwei betrunkene russische Soldaten aus dem Staub machen wollen. Sie werden verfolgt von einer halb angezogenen, kreischenden Frau. Auch ein anwesender russischer hoher Offizier bekommt die Szene mit. Auf Vergewaltigung steht die Todesstrafe. Er lässt die Soldaten festnehmen und an der nächsten Straßenecke erschießen.

Auf dem Platz vor Klaus’ Haus haben die Russen eine Gulaschkanone aufgestellt. Und zur Essenszeit stehen die Kinder in gebührendem Abstand, aber doch sichtbar, mit ihren Essenstöpfen bereit. Immer bekommen die Kinder etwas ab. Die Russen sorgen dafür, dass sehr bald die Schulen geöffnet werden. Mit neun Jahren wird Klaus endlich in die Jungenschule an der Jonasstraße eingeschult. Davor waren Russen im Gebäude einquartiert, teilweise diente es auch als Pferdestall. Die Klassenräume haben keine Fenster mehr, und es ist kalt; Kohle gibt es nicht zum Heizen. In eine Klasse gehen 30 und mehr Kinder; die meisten Lehrer sind alt und wenden noch die Prügelstrafe an. „Ich war eigentlich kein schlechter Schüler“, sagt Klaus, „gehapert hat es nur bei der Algebra“. Klaus ist älter und auch viel kräftiger als die meisten seiner Klassenkameraden, und er entwickelt einen eigenen Gerechtigkeitssinn: „Ich habe mich für die Schwächeren eingesetzt und die Großen verhauen, wenn sie die Kleinen geärgert haben.“

Beim Übergang in die Oberschule fallen die Schulfreundschaften auseinander. Die meisten wechseln zum Praktischen Zweig (vergleichbar mit der späteren Hauptschule) in die Schule an der Jonasstraße. Sechs Schüler gehen zum Technischen Zweig (erweiterte Hauptschule) in die Kopfstraße, zwei zum Wissenschaftlichen Zweig (Gymnasium) in die Schule am Hermannplatz. Klaus hat eine Empfehlung für den Technischen Zweig, zieht aber den Praktischen vor, weil die meisten seiner Freunde dort ihre Schullaufbahn beenden wollen.

Fast alle Jungen wollen einmal Lokführer oder Feuerwehrmann werden. Mehrere Väter von Klaus‘ Freunden waren früher Eisenbahner und so liegt es nahe, dass Klaus sich bei der Reichsbahn um eine Ausbildung bewirbt. Man bietet ihm eine Lehre als Betriebsschlosser an, die breit angelegt ist, so dass er auch vieles über benachbarte Berufe erfährt wie Elektriker, Schmied oder den Werkzeugbau. 1954 hat er ausgelernt. Inzwischen gehört die Reichsbahn zur DDR, aber man kann noch sowohl in Ost- als auch in West-Berlin eine Stelle finden. Allerdings wird die Reichsbahn in West-Berlin kritisch gesehen. Als gelernter Schlosser bekommt er bei der Reichsbahn 56 DM in der Woche. „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt Klaus noch heute empört. „Ein Radio kostete 200 bis 300 DM!“ Da Klaus sich pfiffig zeigt und auch eine gute Handschrift hat, wird ihm eine in zwei Jahren frei werdende Planstelle Aussicht gestellt. Nebenbei macht Klaus Sport. Er beginnt mit Judo und trainiert für die nächste Meisterschaft. Deshalb kommt er oft zu spät zur Arbeit, die morgens um 7 Uhr beginnt. Doch er einigt sich mit seinem Chef, dass er erst um 10 Uhr anfangen muss. Aber ein anderes Problem ist noch nicht gelöst: Klaus braucht mehr Geld. Er möchte sich auch mal vergnügen, Mädchen einladen, mit ihnen tanzen gehen. Von Sportsfreunden, mit denen er manchmal Fußball spielt, erfährt er, dass man auf dem Bau mit Akkordarbeit viel mehr verdienen kann.

Als Hucker verdient Klaus 120 DM in der Woche. Jetzt muss er um 6 Uhr auf der Baustelle sein, um den Maurern, die eine Stunde später anfangen, Steine und Zement vorzulegen. In der Regel transportieren Hucker etwa zwei bis drei Zentner; manchmal sind es auch vier. Dann werden Wetten abgeschlossen, ob der Hucker das schafft. Wer verliert, zahlt einen Kasten Bier. Den Sport vernachlässigt Klaus trotzdem nicht. „Ich wollte immer vorne sein“, erläutert Klaus seinen Antrieb. „Allerdings fand sich beim Judo kein geeigneter Gegner mehr, und so kann man sich nicht verbessern.“

Also versucht er sich als Ringer und ist auch in dieser Disziplin erfolgreich. Als Siebzehnjähriger kämpft er in der Hasenheide gegen den schwedischen Olympiasieger und streckt ihn in zweieinhalb Minuten nieder. Normalerweise muss man beim Ringerwettkampf mindestens 18 Jahre alt sein, aber Klaus hat eine Ausnahmegenehmigung. Aufgrund dieses Sieges erhält er eine Einladung nach Schweden, wo er zwei Monate lang an verschiedenen Turnieren teilnimmt. In Schweden gibt es Preisgelder: für einen Turniergewinn 50 Kronen. Am Ende seines Aufenthalts hat er 1000 Kronen zusammen. „Das war wahnsinnig viel Geld für mich.“ Klaus probiert weitere Sportarten aus, er boxt und spielt Handball. Immer erfolgreich, so dass der Vielseitige oft für Turniere ausgeliehen wird. So spielt er auch mal in der Polizeimannschaft Handball gegen die Feuerwehr, obwohl er kein Polizist ist. „Das nahm man damals nicht so genau.“

Sein Geld verdient er jetzt als Steinmetzhelfer bei der Errichtung einer Statue im Columbiabad und beim Wiederaufbau des Reichstags. Dann bietet ihm sein Chef an, ihn morgens zu dessen verschiedenen Baustellen zu fahren. Der neue Job als Chauffeur hat auch etwas mit seiner Statur zu tun, er ist nun der Bodyguard des Chefs. Sehr bald bekommt er Angebote als Türsteher und lernt dadurch das Gastronomiegewerbe näher kennen. Viele Jahre lang arbeitet er in Berliner Clubs und Discos, wird „Geschäftsführer“ (so nannte man früher den Rausschmeißer) und macht Anfang der 1960er-Jahre in der Neuköllner Nogatstraße sein eigenes Lokal auf: „Feldmann’s Bierbar“. Das nötige Geld leiht ihm sein Onkel. In dieser Zeit gibt es viele Bars in Neukölln mit einem regen Nachtleben bis in den frühen Morgen, denn Berlin (West) hat keine Polizeistunde. Klaus ist beliebt und auch gefürchtet; er kann gut tanzen, aber auch kräftig austeilen, wenn es sein muss. Für seine Freunde, an die sich niemand herantraut, setzt er sich ein. Aber wenn jemand seinen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn provoziert, schlägt er zu. So bekommt er es mit der Polizei zu tun, wird verurteilt und muss 1959 in den Knast.

„Mein Ruf eilte mir voraus. Im Knast wusste man schon, dass ‚Feldmann kommt’, und ich hatte gleich nach meiner Ankunft in Tegel Privilegien.“ Die Anstaltskleidung ist neu und nicht, wie üblich, gebraucht; er darf in der Druckerei arbeiten und bekommt beim Essen immer eine Kelle mehr. Später wird ihm eine große „Arztzelle“ (eine Art Krankenzimmer) zugewiesen, und er darf – erst in Begleitung, dann allein – sich im Gefängniskomplex bewegen und die besten Jobs aussuchen: Hofkommando, Wagenwäscher, Badekalfaktor (Reinigung des Duschraums und Überwachung des Warmwasserverbrauchs). Im Knast lernt er den Schauspieler Harald Juhnke kennen, der wegen Trunkenheit am Steuer und Widerstand gegen die Staatsgewalt einsitzt. „Prima Kerl, ein volkstümlicher Kumpel!“ Juhnke muss nur ein paar Wochen abbüßen, obwohl eine längere Verurteilung vorliegt. „Promi-Privileg. Ich hab’s ihm gegönnt.“ In späteren Jahren wird Klaus ihm noch öfter beruflich begegnen. Bei einer weiteren, kleineren Haftstrafe wegen unerlaubten Waffenbesitzes lernt er im Haus 4 Andreas Baader kennen, den späteren Terroristen. „Der war dort wegen eines kleineren Vergehens, ein ruhiger Typ. Sehr hilfsbereit. Er verfasste für andere Gefangene zum Beispiel Gnadengesuche und Eingaben für das Gericht. Er war sehr beliebt.“

Beim nächsten Vergehen ist Klaus schlauer und nutzt seine freundschaftlichen Beziehungen zu einem Rechtsanwalt. Er erreicht, dass die Richterin „Gnade vor Recht“ ergehen lässt, ihn aber so streng verwarnt und ihm eine lange Haftstrafe androht, dass er die Konsequenzen zieht. Er siedelt in das ruhigere Rudow um und betreibt dort ein neues Lokal.

In dieser wilden Zeit lernt Klaus viele Prominente kennen, wie die Schauspieler Karin Baal, Gunter Philipp, den Schlagersänger Bully Buhlan, auch Horst Buchholz, der „Bei Bruno“ in der Schillerpromenade gern ein Bier trank und einen eher schüchternen Eindruck machte. Drafi Deutscher trat in verschiedenen Neuköllner Nachtlokalen auf. „Man merkte gar nicht, dass er Analphabet war“, sagt Klaus anerkennend. „Doch wirklich akzeptiert wurde nur jemand, der ein guter Tänzer und ein guter Schläger war.“ Dazu gehört die angemessene Kleidung, bei der man sich an amerikanischen Vorbildern orientiert. Ein Muss ist der stahlblaue Anzug, das blütenweiße Hemd und der Schlips mit dem aufgedruckten Hawaiimädchen, ergänzt durch einen Trenchcoat, frei nach Humphrey Bogart im Film „Casablanca“. Wer diesem Dresscode nicht folgt, wird nicht respektiert. Klaus trägt dazu Budapester Schuhe mit erhöhtem Absatz. So misst er schließlich 1,78 Meter, wirkt aber durch sein breites Kreuz und die schmale Taille noch größer – und hat den Ruf ein Zwei-Meter-Mann zu sein.

In den 1980er-Jahren ist Klaus bei der Polizei privat als Bodyguard beschäftigt und zuständig für Prominenz, wie Schauspieler und Sänger, meistens bei Großveranstaltungen. Seine Aufgabe ist es, die Künstler sicher von einem Ort zum anderen zu schleusen, zum Beispiel durch die Menschenmassen in den Messehallen: vom Pressecafé zu Halle A, von Halle 3 zur Bühne 9. „Das sah so aus: Ich vorneweg als Rammbock. Prominente an der Hand. Oder sie hielten sich an meinem hinteren Hosengurt fest. Dann durch die Masse. Wir standen immer unter Zeitdruck. Alle waren mit mir zufrieden. Deshalb hatte ich mit den meisten auch einen persönlichen Kontakt. Zum Beispiel mit: Thomas Gottschalk, Günter Jauch, Freddy, Harald Juhnke, Dieter Thomas Heck, Marianne Rosenberg, Gitte und vielen anderen. Manche waren kameradschaftlich, andere eingebildet – wie im richtigen Leben.“

1999 hat Klaus einen Bandscheibenvorfall. Auch sind drei Halswirbel beeinträchtigt. Es sind Schäden, die in der Zeit entstanden, als Klaus Ringer war. „Bei den Überstürzen hatte ich mir die Nerven abgeklemmt. Mir war klar, ich musste was machen“, erklärt er und berichtet, wie er erneut mit dem Sport beginnt – nach 35 Jahren Pause. Zum Glück hat er nie geraucht und erzählt, wie er als Kind mit seinen fünf Freunden heimlich an einer Zigarette zog und ihm danach so schlecht wurde, dass ihm der Appetit für immer vergangen ist. Nur eine sündhaft teure kubanische Havanna-Zigarre hat er „aus Angabe“ nie verschmäht, wenn es die Gelegenheit dazu gab. Dann hat er hineingepustet, anstatt den Rauch einzuziehen. Auch ist er kein Alkoholiker, obwohl er damals viel vertragen konnte. Er trank „aus Gesellschaft“, nicht weil es ihm schmeckte. Insgesamt also sind die Bedingungen günstig, um wieder Sport zu treiben. Klaus trifft alte Sportsfreunde, die ihn ermuntern und neue Kontakte eröffnen, besucht Fitness-Studios und entwickelt allmählich wieder den Ehrgeiz der Beste sein zu wollen. Bei Sparta, einem Buckower Gewichtheberverein, schafft er zum Erstaunen seiner Freunde auf Anhieb 90 Kilogramm. Es ist ihm ziemlich leicht gefallen und er spürt, dass er sich steigern kann. Wenige Monate später nimmt er bei der Berliner Meisterschaft teil und schafft im Bankdrücken 95 Kilo.

Innerhalb von sieben Jahren nimmt er an Kraft zu und verbessert er seine Leistung auf ca. 150 Kilogramm. Er wird Mitglied der Deutschen Nationalmannschaft. Eine Meisterschaft folgt auf die andere. Klaus ist in ganz Europa unterwegs, im Jahr 2004 sogar in Amerika, und holt einen Titel nach dem anderen, auch Weltmeistertitel. Er kann die vielen gewonnenen Medaillen gar nicht mehr zählen. Die Wettkämpfe werden zur Routine, „wie das tägliche Mittagessen. Ich habe alles erreicht. Doch nervös ist man noch immer. Ich versuche jedes Mal das Beste daraus zu machen.“ Es ist ihm eine Ehre dabei zu sein.

Heute, mit 80 Jahren, ist Klaus der älteste aktive Kraftdreikämpfer der Welt in der Klasse bis 105 Kilogramm. Bei Welt- und Europameisterschaften gewann er insgesamt 20 Gold-, Silber- und Bronzemedaillen. In den 16 Jahren seit seinem Neustart siegte er bei 138 Meisterschaften; außerdem kann er 17 deutsche und 40 Berlin-Brandenburgische Rekorde für sich verbuchen.

Der Kraftdreikampf ist die Königsdisziplin beim Kraftsport, weil die Gewichte auf vielfältige Art gehoben werden müssen, erklärt Klaus. Bei der Kniebeuge hält der Sportler eine z. B. 120 kg schwere Langhantel auf dem Rücken und stemmt sie nach Aufruf in die Höhe. Beim Bankdrücken liegt der Sportler und hat die Hantel (z. B. 137,5 kg) auf der Brust abgelegt. Auf Zuruf stemmt er sie mit der Kraft seiner Arme hoch. Bei der dritten Disziplin, dem Kreuzheben, muss der Sportler die vor ihm liegende Hantel mit z. B. 182,5 kg mit beiden Händen greifen und hochheben, bis die Knie durchgedrückt sind und die Schultern nach hinten zeigen. Im Jahr 2003, als Klaus 67 Jahre alt war, konnte er zum Beispiel in Lechfeld bei den Deutschen Meisterschaften im Kraftdreikampf mit diesen Gewichten eine Goldmedaille gewinnen. Er war in der Gewichtsklasse 100 bis 110 Kilogramm gestartet.

Klaus ist stolz auf seine Leistungen und denkt noch nicht ans Aufhören. Der Kraftsport fällt im noch immer leicht, und er muss sich auch nicht beim Essen kasteien. Er mag Eisbein, Milch und Kuchen. Seine Freunde sagen bewundernd, das, was er zu sich nähme, sei Gift; trotzdem sei er der Beste. Dreimal wöchentlich geht er zum Training, macht Kastenrudern und fördert den Kreislauf. In den letzten Jahren hat die Kraft ein wenig abgenommen, er ist jetzt bei ca. 110 Kilogramm. Allerdings hat er starke Schmerzen in den Gelenken. Doch bei den Wettkämpfen sind die Schmerzen mit Hilfe des frei werdenden Adrenalins wie weggeblasen. Noch einen weiteren Wermutstropfen erwähnt er: Bei dieser Sportart kann man nichts verdienen. Preisgelder werden nicht gezahlt. „Man muss alles selbst finanzieren, die Anfahrt, die Unterkunft, die vorgeschriebene Sportbekleidung. Der deutsche Verband übernimmt lediglich das Startgeld. Als Dank bekommt man lediglich einen kräftigen Händedruck vom Gouverneur oder Bürgermeister.“ Klaus bedauert, dass es keine Sponsoren für den Kraftsport gibt. Bald sind seine Rücklagen aufgebraucht, dann wird er sich wohl zurückziehen müssen. Das Abtreten wäre für den Ehrgeizigen schmerzhaft, so lange er noch Erfolge erzielen kann. Schließlich gibt es eine sportliche Tradition in der Familie: seine Onkels, die Brüder seiner Mutter, arbeiteten als Schleuderakrobaten und traten in den 1930er-Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg als „Die vier Bennos“ im Zirkus Barley auf. Der einzige Onkel, der den Krieg überlebte, machte in den 1950er-Jahren mit der „Carlos-Truppe“ weiter, in der Klaus als vielseitiger Sportler mitarbeiten durfte. Das aufregende Gefühl auf der Bühne zu stehen, hat er schon damals genossen. Diese Tradition möchte er so lange wie möglich lebendig halten.

Als wir uns zum Schluss erschöpft zurücklehnen, fasst Klaus seine Geschichte im schönsten Berlinerisch zusammen: „Det Jute vergisst man nich, det Schlechte ooch nich. Aber da is ‘ne Menge noch dazwischen.“