Donnerstag, 15. Juni 2017
Dr. Bernhard Bremberger – Kulturhistoriker
„Erzählen ist
eigentlich nicht mein Ding“, sagt Dr. Bernhard Bremberger und packt aus einer
großen Tasche Bücher, Schriftstücke, Fotos und andere Objekte aus. „Meistens
trage ich nach einem Manuskript vor. Doch für heute habe ich nur Stichworte
vorbereitet, und diese Gegenstände sollen meinen Vortrag unterstützen.“ Dann
lässt er eine Karikatur aus dem frühen 18. Jahrhundert herumgehen, die einen „Büchernarren“
zeigt in einem Raum mit vollgestellten, wandhohen Bücherregalen.[1] Manche
zählen mich auch zu dieser Spezies, meint er ironisch.
Bernhard Bremberger kommt 1953 in Darmstadt zur Welt. Sein
Vater ist Postbetriebsinspektor; seine Mutter stammt aus dem Sudetenland und
bringt einen Sohn mit in die Ehe, aus der sieben weitere Kinder entspringen.
Sie werden katholisch erzogen und wachsen in wirtschaftlich bescheidenen
Verhältnissen auf. Die Familie wohnt beengt im Obergeschoss eines kleinen
Einfamilienhauses, das den Großeltern gehört. „Manchmal war unsere Mutter froh,
wenn sie einen Apfel auf alle Kinder aufteilen konnte“, erzählt Bernhard.
„Telefon, Fernseher oder gar Auto hatten wir nicht. Und wie und wo kann eine so
große Familie gemeinsam Urlaub haben? So gab es für einzelne von uns das eine
oder andere Mal eine Fahrt mit einer Jugendgruppe. Und wir sind oft und gerne
zusammen in den Wäldern gewandert. Auf Eines achteten unsere Eltern: dass wir
alle Abitur machen und eine gute Ausbildung bekommen – und dass wir alle ein
Instrument spielen lernen.“
Bernhard erinnert sich, wie er sich als Kind für Tiere
interessiert; er liest den „Kleinen Tierfreund“ und hat ein Aquarium und ein
Terrarium für Reptilien: Frösche, Lurche und sogar einen Salamander. Als
Jugendlicher beteiligt er sich aktiv in katholischen Jugendgruppen und betreut
später die Jüngeren auf gemeinsamen Fahrten. Er spielt im Verein Basketball und
übernimmt Freiwilligendienste im Krankenhaus. Einmal nascht er als Gymnasiast
abends Quark, vermischt mit Nescafé; das hat zur Folge, dass er nachts nicht
schlafen kann. So greift er sich sein Chemiebuch und studiert es Seite für
Seite. Chemie wird sein Lieblingsfach, und alle Zeichen deuten auf ein späteres
naturwissenschaftliches Studium hin.
1972 beginnt Bernhard mit einem Medizinstudium in Berlin.
Den Studienplatz hat ihm die ZVS (Zentrale Vergabe für Studienplätze)
zugewiesen. Das Studium ist sehr verschult: Allein im ersten Semester sind gut
15 Veranstaltungen zu bewältigen, wie Anatomie, Chemie, Physik, Physiologie
etc. Die rein naturwissenschaftliche Ausbildung behagt Bernhard nicht. Er
wünscht sich eine Medizin, die nicht in der Interpretation mathematischer
Kurven besteht, die vielmehr den Menschen im Mittelpunkt hat. Außerdem lernt er
junge Ärzte kennen, die schon nach zwei, drei Jahren im Beruf völlig ausgelaugt
sind. So soll sein künftiges Berufsleben nicht verlaufen; er hat doch noch
andere Interessen. Nach dem Vorphysikum bricht er das Medizinstudium ab. Viele
Jahre meidet er die Gegend um die Freie Universität. Doch findet er später den
Bogen zur Medizin zurück: Jetzt arbeitet er über die Gesundheitsversorgung von
Zwangsarbeitern in der NS-Zeit und veröffentlicht dazu. Gerade erschien ein
Aufsatz, der seine Forschungen dazu zusammenfasst.[2]
Noch in der Schulzeit lernt er bei einem Nachbarn Gitarre,
so richtig „nach Noten zupfen“. Ihn begeistern die frühen Balladen der Bee Gees
und der Lords. Daneben hört er die Musik der amerikanischen Folk- und
Antikriegsbewegung mit Sängern wie Bob Dylan und Joan Baez. In Berlin sucht er
Gleichgesinnte zum gemeinsamen Musizieren. Sie singen amerikanische und
englisch-irische Folklore, Protestlieder gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Heute
findet er, dass das politische Bewusstsein, das in den hier gesungenen
anglo-amerikanischen Folksongs zum Ausdruck kam, eher von einem Gerechtigkeits-
und Solidaritätsgefühl bestimmt war – weit weg von hiesigen konkreten
politischen Auseinandersetzungen. Früher, in der Schule, wurde Bernhard als
„Brummer“ mit den Worten: „Du kannst nicht singen“ aus dem Chor entlassen. Nun
hat er Lieder für sich entdeckt, bald auch deutschsprachige. Dies ist Anfang
der Siebziger Jahre neu, dass deutsche Volkslieder nicht nur
reaktionär-konservativ verwendet werden oder einfach harmlos sind wie Schlager,
sondern fundierte Inhalte haben können; oft drücken sie Protest, Unmut und
Widerstand aus. Er sucht nach weiteren solchen Liedern und forscht nach
interessanten Texten. Dabei entdeckt er Heinrich Heine, der zu seinem
Lieblingsdichter wird. Mit seinen Kollegen vertont er ausgewählte Gedichte, sie
üben neue Lieder ein oder treffen sich spontan zur Straßenmusik – im Duo oder
in einer größeren Gruppe. Sie begleiten sich mit Gitarren und anderen
Zupfinstrumenten, Flöten, einer Drehleier, einem flämischen und einem
böhmischen Dudelsack, Perkussion. Mit alten Autos – R 4 oder VW-Bus - reisen
sie manchmal für einige Wochen in verschiedene Städte Westdeutschlands, treten
auf der Straße auf und können dann sogar von dem eingesammelten Geld leben.
Dass diese Aktivitäten seinen Eltern wohl nicht behagen, spürt Bernhard.
„Wir dachten damals, jeder sei ein Künstler, jeder könne
alles. Tatsächlich haben wir vieles selber gemacht“, erzählt Bernhard und führt
ein selbstgebautes Zupfinstrument, eine Zither, einen Dulcimer vor. „Ich gebe
es zu, es war ein Bausatz. Aber danach habe ich noch ein ganze Reihe selbst
hergestellt.“ Natürlich werden auch die Autos eigenhändig repariert. „Es waren
Schrottmühlen, aber wir hatten nicht genug Geld für Werkstätten.“ Wenn die
Freunde nicht weiter wissen, schlagen sie in Ratgeberbüchern nach. Dort ist
beschrieben, wie ein Motor repariert werden kann. Und an einen besonders klugen
Ratschlag erinnert sich Bernhard noch genau: Wenn dein VW-Bus ein Panne hat,
setz dich erst hin und trinke einen Tee...
Nicht immer bereiten die Auftritte nur Freude. Am
Kranzler-Eck in Berlin will ein Polizist den Gesang verbieten: Die Musiker
hätten vier Genehmigungen gebraucht, etwa vom Gewerbeamt, vom Tiefbauamt oder
vom Senat für Umweltschutz. Die Musiker mit ihren leisen akustischen
Instrumenten sind längst nicht so laut wie die umherfahrenden Autos an der
Kreuzung, und im Weg stehen sie auch nicht. Also spielen sie pantomimisch
weiter, indem sie so tun, also ob sie Musik machen würden und haben einen
Heidenspaß dabei, etwa stumm fünfstimmige Gesänge für zwei Musiker zu
improvisieren. „Es ist skurril, mit welchen Vorgaben unsere Auftritte
verhindert werden sollten“, meint Bernhard noch heute amüsiert. Unter dem
Straßburger Münster, zum Beispiel, darf die Gruppe ebenfalls nicht stehen. Sie
umgeht das Verbot, indem sie musizierend um den benachbarten Brunnen spaziert.
Bernhard findet es spannend zu erleben, wie man auf legalem Weg solche Verbote
umgehen kann.
Verbotene Musik, das hat Bernhard schon früh erfahren, ist
auch in anderen Ländern ein Thema: Schon 1968 bekommt er mit, dass Joan Manuel
Serrat, der Sänger des spanischen Grand-Prix-Eurovision-Beitrags nicht
auftreten und durch eine Sängerin ersetzt wurde, weil er katalanisch sang. Er
weiß, dass Wolf Biermanns Lieder in der DDR unterdrückt sind, die Musik von
Mikis Theodorakis verboten und der Komponist selbst in ein winziges Dorf
verbannt wurde. Und nun erlebt er selbst die Grenzen des Erlaubten in der
Musik.
Nach Jahren will Bernhard sein Interesse an der Musik mit
einem neuen Studium verbinden. Das Geld zum Leben verdient er sich jetzt als
Taxifahrer. Seit 1979 wohnt er in Neukölln. Er studiert Musikethnologie, um
mehr über die hiesige traditionelle Volkmusik zu erfahren. Dabei lernt er auch
die Musik außereuropäischer Kulturen kennen. Zunächst gibt es
Feldforschungsprojekte in Berlin, etwa über den Tegeler Tamburaschenchor. Das
ist ein Ensemble mit aus Jugoslawien stammenden Zupfinstrumenten; im frühen 20.
Jahrhundert wurden sie in Berlin in großen Orchestern gespielt.[3] Er forscht
zur politischen Musik aus der Türkei, zu sozialkritischen und zu kurdischen
Liedern. Auch damals wurden kritische Äußerungen in der Türkei verfolgt,
Künstler mussten Strafen bis zum Gefängnis befürchten und konnten sich oft nur
im Exil äußern. Er schreibt über die Berliner türkische Musikgruppe Yabanel
(Der Name bedeutet so viel wie „fremdes Land“).[4] Bei
einer Exkursion in die Schweiz erforschen die Studenten den Betruf auf dem
Urnerboden. Dort leben im Sommer die Älpler auf den „Stafeln“ genannten Alphütten,
hüten das Vieh und stellen Käse her. Zum Abschluss des Tages rufen sie durch
einen Milchtrichter einen traditionellen „Alpsegen“ – auf jeder Stafel etwas
anders. Bei diesem „Betruf“ schicken die Menschen ihre Gebete mit einer eigenen
Melodie gen Himmel und informieren gleichzeitig die weit weg wohnenden Nachbarn
darüber, dass sie ihr Tagwerk gut vollbracht haben.[5]
Sein Hauptthema ist jedoch die Geschichte des Liederbuchs
„Student für Europa“. In den Siebziger Jahren war dies eine der besten und
beliebtesten Liedersammlungen, die auch oft von Lehrern im Unterricht genutzt
wurde. Bernhard schreibt seine Magisterarbeit über die Entstehung und
Geschichte dieser Liederbuchreihe.[6] Doch
weil darin auch politische Lieder enthalten sind, gab es häufig Skandale, und
die Lehrer mussten um ihre Existenz fürchten. Bernhard sammelt seit vielen
Jahren Informationen zu „verbotener Musik“ und schreibt seine Dissertation
später in Bamberg über das Thema Musikzensur.[7] Ihm wird
angedeutet, mit so einem engagierten Thema habe er wohl in der Musikethnologie
kaum berufliche Chancen.
Nach dem Studium bekommt Bernhard eine Arbeit beim „Internationalen
Institut für Vergleichende Musikstudien und Dokumentation“ am Bahnhof
Grunewald. Seine Aufgabe ist es, die in Berlin ansässigen internationalen
Musikgruppen zu dokumentieren und Porträts von den Musikern und Tänzern zu
erstellen. Für Radio 100, den ersten privaten Hörfunksender mit links-alternativer
Ausrichtung in West-Berlin, stellt er zum Thema „Klänge der Welt“ eine Sendung
zusammen. Auf die in Aussicht gestellte Bezahlung wartet er vergebens. „Damit
beginnt etwas, das ich später noch so oft erleben werde: die Selbstausbeutung“.
Die folgenden zehn Jahre ist Bernhard arbeitslos.
Aber die Hände legt er nicht in den Schoß. Er unterstützt Sema – die Sängerin
der Gruppe Yabanel, mit der er Mitte der Achtziger Jahre eine Zeit lang liiert
war und danach weiterhin in Freundschaft verbunden ist – bei ihrer Karriere und
managt ihre Konzerte. Für die Büchersammlung der Brüder Grimm in der Hauptbibliothek
der Humboldt-Universität organisiert er ehrenamtlich Buchpatenschaften, damit
einzelne kostbare Bände mit den handschriftlichen Notizen dieses großartigen
Geschwisterpaars restauriert werden können.[8]
Auf seine fachlichen Schwerpunkte als Musikwissenschaftler und Turkuloge
zurückkommend entwickelt er Seminarthemen über das Türkenbild in der
europäischen Musik, die er der Freien Universität Berlin anbietet. Ausgehend
von Mozarts „Rondo alla turca“ und „Entführung aus dem Serail“
präsentiert er Musik- und Theaterstücke, Literatur und Reiseberichte in
mehrsemestrigen Seminarzyklen. „Übrigens woher kommt der Begriff
‚getürkt’?“ fragt Bernhard und erklärt, dass Ende des 18. Jahrhunderts der
türkische Schriftsteller Ali Aziz Efendi von den Osmanen als Botschafter nach
Berlin geschickt worden war. 1798 verstarb er und wurde vor den Toren der Stadt
im heutigen Bereich der Urbanstraße beigesetzt. Auf diesem Gelände fanden
militärische Übungen statt. Täuschungsmanöver wurden in der Nähe des Grabes geprobt,
und daher sagten die Soldaten dazu: „den Türken machen“, woraus sich „einen Türken
bauen“ und das Verb „türken“ entwickelten.
Bei einem Gespräch mit seiner Schwester, die in der
Altenpflege biografisch arbeitet, wird er nach seinem Lieblingsmärchen gefragt.
Ihm fallen die Karl-May-Bände seines großen Bruders ein, die er nachts unter
der Bettdecke verschlang und die ja eigentlich auch Märchen sind. Im Kommunionunterricht
wollte der Pfarrer wissen, was die Kinder einmal werden wollen. Bernhard
antwortete: „Cowboy“. Karl May ist berühmt für seine Indianergeschichten, doch
mehr als über den Wilden Westen hatte May – eigentlich ein Heimatschriftsteller,
der seine Dorfgeschichten in exotische Welten verlegte – über den Orient
geschrieben. Im ersten Satz von Winnetou
I hatte er den Orient als seinen Bezugspunkt genannt: "Immer fällt mir, wenn ich an den
Indianer denke, der Türke ein."[9]
Einmal
entdeckt Bernhard eine alte Zeichnung mit einer Pflanze, die menschliche Züge
trägt. Es ist eine Alraune. Bernhard wird neugierig und beginnt mit Hilfe
seines jüngeren Bruders, der Biologe ist, über Alraunen zu forschen. Es handelt
sich um giftige Heil- und Ritualpflanzen, die seit der Antike als Zaubermittel
gelten. In kürzester Zeit häuft sich das gesammelte Material. Die Abbildungen
ordnet Bernhard zu einer ikonographischen Arbeit und stellt sie für eine
Buchveröffentlichung fertig. Leider findet sich kein Verlag. Aber das Material
liegt vor und könnte zum Beispiel jederzeit für eine Ausstellung verwendet
werden. Trotzdem bringt ihm die Pflanze Glück. Bei einem Job in einem Buchladen
lernt er seine spätere Lebensgefährtin kennen; sie heißt Alraune.
Endlich, im Jahr 1998,
bekommt Bernhard eine auf zwei Jahre befristete ABM-Stelle beim Museum
Neukölln. Er arbeitet mit bei den Vorbereitungen der Ausstellung
zur Hundertjahrfeier der Stadt Rixdorf: „Vom Dorf zur Stadt“. So steigt er in
die Lokalforschung ein. Bei den Zeitungsrecherchen fällt ihm ein Artikel aus
dem Jahr 1899 in die Hände, der sich mit Rixdorf im Jahr 2000 befasst. Was die
Menschen sich damals vorstellten! Bernhard schreibt darüber einen Aufsatz und
trägt so dazu bei, dass diese utopischen Vorstellungen auf der Bühne des
Saalbaus thematisiert werden.[10]
Bei der nächsten geplanten Museums-Ausstellung für das Jahr
2000 geht es um das Thema Geburt: „Der
erste Schrei oder wie man in Neukölln zur Welt kommt“. Bernhard bearbeitet
den Zeitabschnitt „Drittes Reich“ und befasst sich mit der Landesfrauenklinik
am Mariendorfer Weg.[11] Dort
befand sich die Hebammenlehranstalt, die zentral für das gesamte Deutsche Reich
zuständig war. Eine der Hauptfragestellungen richtet sich auf die Kinder von
Zwangsarbeiterinnen. Angesichts der um das Jahr 2000 aktuellen Diskussion um
Entschädigungsleistungen für Zwangsarbeiter ein brisantes Thema, zu dem er
zunächst kaum Hinweise findet, bis er sich an das Standesamt wendet. Dort
erhält er die Genehmigung in den Geburts- und Sterbebüchern zu recherchieren.
Er findet heraus, dass allein im Juli 1944 jedes fünfte in Neukölln geborene
Baby das Kind einer Zwangsarbeiterin war. Im gesamten Jahr 1944 war es jedes
zehnte Kind. Außerdem entdeckt er zahlreiche Hinweise auf Lager in Neukölln,
die noch nicht bekannt sind. Bernhard weiß, dass Zwangsarbeit in Neukölln
verleugnet wird. Andererseits ist es bekannt, dass es im Deutschen Reich
während des Krieges zwölf Millionen Zwangsarbeiter gegeben hat, davon acht
Millionen Zivilisten aus den besetzten Gebieten. In Berlin gab es über eine
Millionen Zwangsarbeiter, davon vielleicht zehn Prozent in Neukölln. Einige
wenige Firmen haben die Geschichte aufgearbeitet. Die meisten schotten sich ab.
Eines Tages fragt eine Journalistin im Museum nach, ob etwas
über Zwangsarbeit auf einem der kirchlichen Friedhöfe an der Herrmannstraße
bekannt sei. Sie recherchiere in der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde (Kreuzberg),
habe aber das Gefühl es werde gemauert. Das Museum weiß nichts, aber Bernhard
erinnert sich an ein Sterbedokument eines 33jährigen Ukrainers mit der
Wohnadresse Herrmannstraße 84–90. Dort liegt ein Friedhof, auf dem muss sich
also ein Zwangsarbeiterlager befunden haben. Dies war bereits in einer
kirchlichen Chronik erwähnt worden war – folgenlos selbstverständlich. Bernhard
findet heraus, dass auch in den Bauakten ein ausführlicher Schriftverkehr zum Bau
dieser Baracken vorliegt. Er informiert die Journalistin, die in einer
Rundfunksendung Wolfgang Huber, den Bischof der Evangelischen Kirche
Berlin-Brandenburg damit konfrontiert. Dieser verspricht das Thema
aufzuarbeiten und richtet eine Arbeitsgruppe ein. In einem Pavillon auf dem
Thomasfriedhof sind die Ergebnisse ausgestellt. Rund dreißig Berliner
Kirchengemeinden hatten gemeinsam dieses Zwangsarbeiterlager betrieben. Dem
Rechercheteam ist es gelungen, einige der osteuropäischen Zwangsarbeiter aus diesem
Lager ausfindig zu machen, deren Geschichte sie erzählen und sogar ein Tagebuch
zu finden und zu veröffentlichen.[12]
Außerdem haben die betroffenen Gemeinden einen Gedenkstein errichtet.
Mitte 2000 beschäftigt sich auch
der Tagesspiegel mit diesem Thema und veröffentlicht eine Befragung einzelner
Firmen, ob es bei ihnen Zwangsarbeit gegeben hat. Die Firma Eternit verneint
beispielweise. Doch Bernhard kann das Gegenteil beweisen. Aus seinen
zusammengestellten Standesamtsunterlagen geht hervor, dass sich in der Rudower
Kanalstraße 117-155, dem Eternit-Standort, ein Zwangsarbeiterlager befunden
haben muss. Darüber schreibt Bernhard einen Artikel, den er vor der
Veröffentlichung dem Museum und auch dem Standesamt zur Freigabe vorlegt. Das
Standesamt informiert die Rathausspitze. Zurück kommt ein strenges Nein;
Eternit war immerhin ein wichtiger Arbeitgeber in Neukölln. Aber für eine
Ausstellung im Museum darf Bernhard einige Dokumente verwenden. Sie zeigen die
Geburtsdaten von Kindern, deren Mütter im Eternit-Zwangsarbeiterlager gewohnt
haben. Bernhard fährt in Urlaub, und nach seiner Rückkehr erhält vom Standesamt
die Nachricht, dass er nicht mehr dort recherchieren dürfe. Besonders motiviert
durch das Verbot vom Bürgermeister erarbeitet Bernhard nach Ablauf seines
Arbeitsvertrags eine Homepage (www.zwangsarbeit-forschung.de), auf der er die
ihm bekannten Lageradressen veröffentlicht. Der Bezirksbürgermeister und das
Standesamt können die Informationen nicht mehr stoppen. Er erhält Anfragen aus
aller Welt.
Noch während seiner Museumsarbeit
hatte Bernhard die Erfahrung gemacht, dass ein Austausch mit anderen Experten
im In- und Ausland sehr zeitaufwendig ist. Bei einer Tagung im Januar 2001 im
Gemeinschaftshaus Gropiusstadt kamen 70 Fachleute zusammen. Dort stellt
Bernhard ein Kommunikationsmittel vor, welches den fachlichen Austausch
revolutionierte: Die internationale Mailing-Liste NS-Zwangsarbeit moderiert Bernhard
bis heute und investiert anfangs jeden Tag etwa eine Stunde in dieses Projekt,
jetzt deutlich weniger.[13]
Im Jahr
2001, „das ein einschneidendes Jahr für mich sein wird“, endet Bernhards
Vertrag mit dem Museum. Bei der gerade beim Berliner Senat eingerichteten
„Koordinierungsstelle für die Auskunftsersuchen von Zwangsarbeitern“ wird ihm
eine neue Stelle im Rahmen eines Fünfjahresvertrags angeboten. Seine Aufgabe
ist es für ehemalige Zwangsarbeiter, die eine Entschädigung beantragen, den
Nachweis zu führen, wo und wann sie tatsächlich eingesetzt waren. Bei den
Recherchen hat er freie Hand. Nach knapp zwei Monaten bremst im Mai 2001 ein
Schlaganfall diese Arbeit. Bernhard braucht viele Monate, bis er sich davon
einigermaßen erholt. Mit seinen verbliebenen Kräften arbeitet Bernhard an der
Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle weiter. Er forscht zum Beispiel in den
Reviertagebüchern der Berliner Polizei, die sich in der Polizeihistorischen
Sammlung befinden. Oder sucht in Berliner Krankenhäusern nach Dokumenten,
welche den Aufenthalt von Zwangsarbeitern nachweisen. Im Wintersemester 2002/3
führt er mit zwei Kollegen im Reformstudiengang Medizin an der Charité ein
Seminar über Zwangsarbeit im Berliner Gesundheitswesen durch. Dann verfasst er zusammen
mit einem Medizin- und einem Lokalhistoriker einen Aufsatz über das bislang
unbekannte Ausländerkrankenhaus in Mahlow für schwerstkranke Zwangsarbeiter.[14] Eines
Tages meldet sich eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die bei einer Firma namens
„Sorotti“ Röhren produziert hatte. In Tempelhof gab es die Schweizer
Schokoladenfabrik Sarotti. Bernhard telefoniert mit der für diesen Standort nun
zuständigen Nestle-Zentrale in Frankfurt. Dort gibt man unumwunden zu, dass
Sarotti in Berlin Zwangsarbeiter beschäftigt hat und erlaubt sogar das Archiv
in Tempelhof aufzusuchen um Nachweise für ausländische Zwangsarbeiter zu
finden. Aus der Arbeit in der Zwangsarbeiterkoordinierungsstelle entsteht
später ein Buch.[15]
Noch
heute spürt er Beeinträchtigungen durch den Schlaganfall. Doch das Thema
Zwangsarbeit lässt ihn nicht mehr los. So forscht er mehrfach beim Internationalen
Suchdienst im hessischen Bad Arolsen, der im Auftrag der Alliierten nach dem
Krieg alle Informationen über Zwangsarbeit gesammelt hatte. Einige Jahre lang
zeigte sich der Suchdienst, der sich erst 2007 – nach dem Ende der
„Nachweissuche“ - für die Forschung geöffnet hatte, wenig kooperativ und
behindert die Arbeit. Bernhard geht an die Öffentlichkeit und erhält
Unterstützung von vielen Seiten. Nach einem aufreibenden Dreivierteljahr kann
er endlich die Kopien aller Listen, die er im Auftrag des Neuköllner
Kulturamtes recherchiert hatte, in seinen Händen halten.[16]
Anfang 2001 hatte Bernhard schon einmal eine Liste mit
Kreuzberger Zwangsarbeiterlagern aus Arolsen geholt. 365 Lager sind dort für
diesen kleinen Bezirk genannt. Die von Rainer Kubatzki zusammengestellte „Bibel“
der Berliner Zwangsarbeiterlager nennt 1.044 Lager innerhalb der Stadtgrenzen,[17] davon
29 für Kreuzberg. Daraus schließt Bernhard, dass es in Berlin viel mehr Lager
gegeben haben muss, als bisher bekannt ist, „etwa eine fünfstellige Zahl“.
Er ist
aktiver denn je. 2013 wertet er in einer sechswöchigen Kur umfangreiche
Unterlagen aus Arolsen aus. „Diese Zeit zahlt einem ja doch keiner“, meint
Bernhard. Er recherchiert zu verschiedenen Stadtteilen, hält regelmäßig
Vorträge, verfasst Aufsätze und Artikel (so etwa seit fünf Jahren eine Serie zu
Zwangsarbeit im Rudower Magazin). Als 2012 der Neuköllner Antifaschist Werner
Gutsche stirbt, den Bernhard im Museum oft getroffen und sehr geschätzt hat,
ruft er dessen Wegbegleiter zusammen, um ihm zur Erinnerung ein Buch zu
veröffentlichen.[18]
Gerade schließt er ein Forschungsprojekt über die Ermordung kranker
Zwangsarbeiter in Heil- und Pflegeanstalten ab und hat eine Menge Ideen, die er
noch umsetzen möchte.
Und das Fazit? „Musik, Bilder und Bücher und die
Beschäftigung mit anderen Kulturen spielten
in meinem Leben eine große Rolle. Ich war immer neugierig, deshalb
interessierte mich die Geschichte, gleichzeitig aber auch das Neue. Vieles habe
ich selbst erarbeitet, aus Eigeninitiative. Von meinen Arbeiten konnten viele
profitieren, sei es, dass sie meine Rundfunksendungen genießen konnten
oder dass meine Artikel und Bücher für sie interessant waren. Vielleicht haben
sie mehr erfahren über die Geschichte des Ortes, an dem sie leben. Wenn man
mich fragt, was ich davon habe, dann bleibt mir oft nicht mehr als ironisch zu
antworten: 'Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit'. Also nichts Materielles. Aber ich
habe Alraune. Sie gibt mir die Kraft für neue Projekte.“
[1] Johann
Christoph Weigel: Centi-Folium Stultorum
in Quarto: Oder Hundert Ausbuendige Narren; Nürnberg (1709); siehe dazu https://issuu.com/pauser/docs/pauservm6220093.
[2] BB: „Es wird geprüft werden, ob sich unter den
polnischen Arbeitern Personen befinden, die zur Krankenpflege geeignet sind.“
Zur Pflege in Berliner Ausländerkrankenhäusern 1940-1945; S. 87-113 in: Historia Hospitalium. Jahrbuch der Deutschen
Gesellschaft für Krankenhausgeschichte (30) 2017.
[3] BB /
Eberhard Dietrich: Der Tambouraschenchor
‘Wellebit 1902’; S. 132-142 in: Max Peter Baumann (Hg.): Musikalische Streiflichter einer Großstadt;
(Berlin) 1979.
[4] BB: Aspekte politischer Musik aus der Türkei;
S. 198-217 in: Max Peter Baumann (Hg.): Musik
der Türken in Deutschland; (Kassel) 1985.
[5] BB /
Stefanie Döll: Der Betruf auf dem
Urnerboden (Schweiz) im Umfeld von Geschichte, Inhalt und Funktion; S.
65-96 in: Jahrbuch für Volksliedforschung
XXIX; (Freiburg) 1984.
[6] BB: Die Liederbücher des Student für Europa e.
V. – Zur Genese und Geschichte einer Liederbuchfamilie; unveröffentlichte
Magisterarbeit FU Berlin 1984.
[7] BB: Musikzensur – Eine Annäherung an die Grenzen
des Erlaubten in der Musik. Die Auseinandersetzungen um die
‘Student-für-Europa’-Liederbücher; (Diss. Bamberg 1988; Berlin: Verlag
Schmengler) 1990.
[8] BB: Buchpatenschaften – Märchen- und Sagenbücher
aus der Grimm-Bibliothek der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu
Berlin; 52 S., 1998.
BB / Elke Barbara Peschke: Grimm-Bibliothek. Zwischenbilanz; S. 2 in: News-Letter (Humboldt-Universitäts-Gesellschaft), II, 12/1998
(http://www.hu-berlin.de/hug/aktuelles/newsletter/news_0398/gdff-5_html).
[9] Esther
Spicker: Bücher für die einsame Insel und
andere Gelegenheiten; S. 75-80 in: Udo Gößwald (Hg.): Die Magie des Lesens; Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des
Museums Neukölln vom 13. Mai bis30.
Dezember 2016 (Berlin).
[10] BB: „Rixdorf im Jahre 2000“. Eine futuristische
Lokal-Komödie aus dem Jahre 1899; S. 26-33 in: Berlinische Monatsschrift
VIII/12, Dezember 1999 (http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt99/9912proe.htm).
[11] BB: “Die kinderreiche, erbgesunde, rassisch
wertvolle deutsche Familie - der einzige Wegweiser der deutschen Hebamme.“ Die
Brandenburgische Landesfrauenklinik in Neukölln unter der Leitung von Prof.
Benno Ottow (1933-1945); S. 24-28 in: Der
erste Schrei oder: Wie man in Neukölln zur Welt kommt; Begleitband zur
Ausstellung des Heimatmuseums Berlin-Neukölln vom 13. Mai 2000 - 1. April 2001
(Berlin).
[12]
Wolfgang G. Krogel (Hg.): Bist Du Bandit?
Das Lagertagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Timofejewitsch Kudrenko; (Berlin)
2005.
[13] BB: Die internationale Mailing Liste
NS-Zwangsarbeit; (Hamburg, Museum der Arbeit, Tagung Geteiltes Gedächtnis?
Erinnerung an die NS-Zwangsarbeit im Europa des 21. Jahrhunderts) 2016 [https://www2.hu-berlin.de/forcedlabour/bernhard-bremberger-berlin/].
[14] BB /
Frank Hummeltenberg / Manfred Stürzbecher: Das
„Ausländerkrankenhaus der Reichshauptstadt Berlin“ in Mahlow; S. 221-273
in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger / BB (Hg.): Der „Ausländereinsatz“ im Gesundheitswesen (1939-1945). Historische und
ethische Probleme der NS-Medizin; (Stuttgart) 2009.
[15] BB /
Cord Pagenstecher / Gisela Wenzel (Hg.): Zwangsarbeit
in Berlin. Archivrecherchen, Nachweissuche und Entschädigung; (Berlin:
Metropol) 2008.
[16] Martin
Otto: Das Auswärtige Amt kann nichts
ausrichten. Beim Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen sind Akten zu allen
KZ-Häftlingen gesammelt. Das Archiv steht der Forschung offen, aber der
völkerrechtliche Sonderstatus erzeugt bürokratische Hindernisse; (Frankfurter Allgemeine Zeitung 9.8.2011);
ders.: Der Arolser Kopierfriede. Seit
1946 sammelt der Internationale Suchdienst Akten zu den Opfern von Hitlers
Vernichtungspolitik. Jetzt wird aus dem ITS ein Forschungszentrum. Das
Bundesarchiv ersetzt das Rote Kreuz; (Frankfurter
Allgemeine Zeitung 24.12.2011).
[17] Rainer
Kubatzki: Zwangsarbeiter- und
Kriegsgefangenenlager. Standorte und Topographie in Berlin und im
brandenburgischen Umland 1939 bis 1945. Eine Dokumentation; (= Berlin-Forschungen der Historischen
Kommission zu Berlin 1), Berlin (Berlin-Verlag) 2001.
[18] BB /
Matthias Heisig / Frieder Böhne: „Da
müsst ihr euch ’mal drum kümmern“. Werner Gutsche (1923–2012) und Neukölln.
Spuren, Erinnerungen, Anregungen; (Berlin: Metropol) 2016.
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