Montag, 28. November 2016

25. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 24. November 2016

Regina J. Schwenke:
Kindheitserinnerungen aus der Neuköllner Kriegs- und Nachkriegszeit

Regina Schwenke ist eine lebendige ältere Dame, die rechtzeitig im Leuchtturm erscheint und einen vollgepackten Einkaufswagen hinter sich herzieht. Darin befinden sich viele Erinnerungsstücke, die sie während ihres Berichtes nach und nach auspackt und in unserem Kreis herumgehen lässt. Regina Schwenke wurde 1938 in Berlin-Neukölln geboren. Sie hat dort als Kind in einer Großfamilie die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs und die schwierige Nachkriegszeit miterlebt und darüber ein Buch geschrieben (Regina J. Schwenke: Und es wird immer wieder Tag. 4. überarbeitete Auflage, Berlin 1913). Das Besondere an ihrem Buch ist, dass sie nicht nur die Geschehnisse aus Kindersicht schildert, sondern diese auch mit den objektiven historischen Daten ergänzt. So liegt uns auch ein wertvolles Lehrbuch vor. Regina J. Schwenke ist Journalistin und Schriftstellerin, hat einen eigenen Verlag und engagiert sich ehrenamtlich in der Gefangenenfürsorge und als Sterbebegleiterin. Nächstenliebe gehört zu den wichtigsten Lebensinhalten der gläubigen Katholikin, die auch fünffache Mutter ist. Uns berichtet sie in Ausschnitten von ihren Erinnerungen. Sie ersetzen aber nicht die Lektüre des Buches.

Als Regina am 1. Januar 1938 geboren wird, ist sie das fünfte Kind in ihrer Familie. Allerdings ist das vierte Kind, ein Mädchen, gleich nach der Geburt gestorben, so dass die Eltern ihr den Namen dieses Kindes weitergeben. Nach Regina bringt ihre Mutter noch drei weitere Kinder zur Welt, zwei davon mitten im Krieg, das letzte im Jahr 1950. Ein Jahr nach Regina wird ihre Schwester Angela geboren. Regina wächst also zunächst mit den drei älteren Geschwistern und ihrer jüngeren Schwester auf. Ihr Vater betreibt als Schmied eine Autowerkstatt und ist stolzer Besitzer eines alten Opels, mit dem die Familie Ausflüge in die nähere Umgebung macht.  Ihre Mutter hat Sekretärin gelernt und hilft dem Vater bei der Buchführung. Die Familie bewohnt eine Dreizimmerwohnung im Parterre Manitiusstraße 2. Damals gibt es kaum Autoverkehr, und die Kinder können vor dem Haus auf der Straße spielen. Um die Kinder kümmern sich auch die Großeltern und die Tanten. Die beiden Tanten bleiben kinderlos und sehen es als ihre wichtigste Aufgabe an mit für die Kinder zu sorgen. Denn ein Kind braucht wegen einer Behinderung besondere Aufmerksamkeit: Rita, die Zweitgeborene. Sie hat bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen und leidet deswegen unter epileptischen Anfällen. Die Tanten sind also unverzichtbar und ein wichtiger Teil der großen katholischen Familie, die der Kirchengemeinde St. Christophorus in der Nansenstraße angehört. Im Februar 1940 muss der Vater in den Krieg ziehen. Zum Glück wird er als Techniker hinter der Front eingesetzt, um die Panzer und Panzerspähwagen zu reparieren. So überlebt er den Krieg.

Seit Ende der 1930er-Jahre werden die Berliner Hauskeller zu Luftschutzkellern ausgebaut. In der Manitiusstraße 2 entsteht ein großer Luftschutzraum durch Zusammenlegung zweier Kohlenkeller. Aber durch die Nähe zum Landwehrkanal sind die Keller oft überflutet, und man muss erst die Ratten beseitigen. Im Frühjahr 1941 fallen die ersten Bomben auf Berlin, und ab August versammeln sich auch die Bewohner Neuköllns nach jedem nächtlichen Sirenenalarm in ihrem Luftschutzkeller. Regina und ihre Geschwister tragen eine an einer langen Schnur befestigte Pappkarte mit ihren Namen, Adresse und den Namen der nächsten Verwandten. Auf der Kellertreppe gibt es immer ein unangenehmes Gedränge, so dass die Kinder froh sind, wenn sie ihre Ecke erreicht haben, wo die Betten aufgestellt sind. Dann ununterbrochen Bombenabwürfe, auch in unmittelbarer Nähe. So geht es zahllose Nächte. Am Tag kann man wieder in die Wohnung zurückkehren, sofern sie nicht beschädigt ist. Im Winter 1943 wird das Haus Manitiusstraße 2 getroffen. Eine Bombe zerteilt es in zwei Teile. Nur eine Hälfte bleibt stehen. Unter dieser halten sich die Mutter und vier Kinder auf, aber das Bett des fünften Kindes stand unter dem zerstörten Teil. Zum Glück konnte sich der Sohn beim ersten gefährlichen Geräusch in Sicherheit bringen. Aber er musste mitansehen, wie die Nachbarn verschüttet werden.

Reginas Mutter und ihre Tanten gehören durch ihre Beziehungen zur katholischen St. Christophorus Gemeinde der Bernhard-Lichtenberg-Gruppe an, die jüdischen Menschen zur Flucht verhilft oder sie versteckt. (Bernhard Lichtenberg war Domprobst der St-Hedwigs-Kathedrale, der öffentlich für die Verfolgten des Naziregimes eintrat und sich auch gegen das Euthanasieprogramm wandte. Er starb 1943 auf dem Weg in das Konzentrationslager Dachau.) Gemeinsam mit einer befreundeten Familie aus der Nachbarschaft hat sich Reginas Mutter ein System ausgedacht Juden sicher verbergen zu können: Indem sie ihre beiden Wohnungen durch eine Klingelschnur miteinander verbinden ließ, können sie sich nun gegenseitig Warnsignale geben, wenn sich in einer der Wohnungen Juden aufhalten und SS-Leute an der Wohnungstür klopfen. Dann wird schnell die Leine gezogen und die jüdische Familie kann in die Nachbarswohnung fliehen. Inzwischen macht sich ein Kind hinter der Eingangstür bemerkbar und sagt: „Ein Moment, Mama ist auf dem Klo.“ Die Mutter spült vernehmlich und öffnet langsam die Tür. „Sind Juden hier?“ „Nein, was sollen die denn hier!“ Dann treten die Nazis ein, durchsuchen die Wohnung, finden niemand und ziehen wieder ab. Die Kinder bekommen das alles mit und dürfen niemand etwas davon erzählen. Sie tun es auch nicht, denn sie sind gut erzogen und gehorsam. Verstehen können sie es wohl noch nicht. Aber sie haben sicher eine Ahnung, auch, dass diese Aktionen sehr gefährlich für die Familie sind.

Regina und ihre Geschwister spielen selbstverständlich auch mit den jüdischen Nachbarskindern, die alle einen Stern tragen. Doch nach und nach verschwinden ihre Freunde einfach. Einmal kommen jüdische Nachbarn zu Besuch und berichten, dass Verwandte im Warschauer Ghetto eingeschlossen seien. Das beängstige sie so, dass sie nach Amerika auswandern wollen. Jetzt warten sie dringend auf das Geld für die Reise, das ihnen die amerikanischen Verwandten zugesagt haben. Doch bevor das Geld eintrifft, wird die Familie abgeholt. Der Mutter bleibt nur noch eine Kerze für sie am Marienaltar anzuzünden.

Ab Ende 1942 sollen sich keine Mütter mit Kleinkindern mehr in Berlin aufhalten. Die Familien werden meistens nach Schlesien evakuiert. Auch Reginas Familie soll ausreisen, allerdings unter der Bedingung, dass die kranke Rita nicht mitfährt, sondern in einem „Sanatorium“ untergebracht wird. Wahrscheinlich wäre sie im „Wiesengrund“ gelandet, in der Städtischen Nervenklinik für Kinder in Reinickendorf, wenn sich die Mutter nicht standhaft dagegen gewehrt hätte. Heute wissen wir, dass viele Kinder dort für zweifelhafte medizinische Forschungen missbraucht wurden und dadurch ums Leben kamen, weil sie als „unwert“ galten. Die Mutter will trotz der Bombenangriffe mit allen fünf Kindern und den Tanten in Berlin bleiben. Die Familie soll nicht auseinandergerissen werden. Auch findet sie noch immer Unterstützung in der St. Christophorus-Gemeinde, insbesondere von dem jungen Pater Dubis, der auch der Bernhard-Lichtenberg-Gruppe angehört. Nachdem das Wohnhaus in der Manitiusstraße halb zerstört ist, braucht die Familie einen anderen Luftschutzkeller. Aber die Hauskeller in der Nähe sind überfüllt und auch in der evangelischen Nikodemus- und in der katholischen St.-Christophorus-Kirche gibt es keinen Platz mehr. Schließlich gelingt es Pater Dubis für die Familie eine „Kammer“ im Fichtebunker zu organisieren.

Der Fichtebunker ist ein ehemaliger Gasometer in der Kreuzberger Fichtestraße, der seit 1941 zu einem Hochbunker für rund 6000 Menschen ausgebaut wurde. Auf sechs Etagen entstanden jeweils 120 Kammern mit 24 Küchen. Die Wände bestehen aus 1,80 Meter dickem Stahlbeton, die Decke ist drei Meter dick. Die Kammern haben keine Fenster.  Notstromaggregate und eine Frischluftversorgung sind eingebaut. Es gibt Waschküchen, eine Sanitätsstelle und am Eingang eine Registratur, in der ein Bunkerwart alles kontrolliert. Die Familie erhält eine Kammer für sechs Personen und macht sich seit dem Winter 1943 täglich gegen 16 Uhr mit dem kleinsten Kind im Kinderwagen auf den Weg zum Fichtebunker. Dafür braucht sie eine Dreiviertelstunde. Das ist beschwerlich, zumal die Mutter wieder schwanger ist. Die Kinder haben genaue Anweisungen, wie sie sich zu verhalten haben und müssen ständig auf die Psyche der kranken Rita achten. Um ihren Hals hängt ein Pappschild, auf dem eine Adresse steht, an die man sich im Todesfall wenden kann. Es gibt fünf Eingänge, und davor parken unzählige Kinderwagen. Wenn bereits Fliegeralarm ausgelöst ist, wird gedrängelt und geschubst, bis die 2500 Mütter mit den insgesamt 4000 Kindern eingetreten sind. Jeder muss einen Berechtigungsschein vorlegen. Die Kammer ist mit sechs Holz-Etagenbetten  und zwei Stühlen ausgestattet. Meistens sind die Kinder schon müde, wenn sie die Kammer erreicht haben und legen sich sofort ins Bett. Im Fichtebunker fühlen sie sich sicher. Die Bombeneinschläge spüren sie nicht so stark wie in ihrem ehemaligen Luftschutzkeller. Am Morgen gehen viele wieder nach Hause und schauen, was die Bomben verwüstet haben und ob ihr Haus noch steht. Weil sie es eilig haben, nehmen sie sich irgendeinen Kinderwagen. So kommt es vor, dass für die Familie dann nur noch ein hässliches Exemplar übrig bleibt. Das bringt die großen Brüder auf die Idee, nach dem Einparken einfach die Räder abzumontieren und mit in den Bunker zu nehmen. Auf diese Weise bleibt ihnen der eigene Kinderwagen erhalten.

Über ein Jahr lang verbringt die Familie ihre Nächte im Fichtebunker. Schnell finden die Kinder viele Freunde, mit denen sie spielen und über die Flure toben können. Sie tauschen die Abzeichen vom Winterhilfswerk, die einem nach einer Spende in die Sammelbüchse ausgehändigt wurde. Das sind verschiedene kleine Figuren, aber auch Liederhefte und Märchenbücher, die zum Lesen lernen anregen. Die größeren Mädchen - schon mit dem „Mutterblick“ im Auge und  dem BDM zugehörig - kümmern sich um die kleinen Kinder und bringen ihnen das Lesen bei. Viele Autoren sind verboten, aber Wilhelm Busch, ein Antisemit, darf sein. Die kleineren Mädchen basteln aus alten Schulheften Steckalben für Oblaten, die sie mit anderen Kindern tauschen. Die Mütter beschäftigen sich mit Nähen, Stricken oder sie sprechen über Rezepte und wie sich Mängel kompensieren lassen. Weil die  Schnüre, an denen die Pappen befestigt sind, an den Haaren ziepen, stellen sie weichere Bänder mithilfe der Strickliesel her. Oder sie trennen Maccostrümpfe auf, die es in den Farben schwarz, grau und braun gibt und häkeln oder stricken aus den Streifen etwas Neues zum Anziehen. Manche lesen sich gegenseitig Feldpostbriefe vor. Die Kinder haben aber auch Pflichten. So müssen sie die Windeln ihrer jüngeren Geschwister auswaschen, auswringen und sie zum Trocknen über Nacht unter das Laken ihres Bettes legen. Einmal heißt es, dass Magda Goebbels den Fichtebunker besuchen wird, was die meisten Frauen begeistert. Reginas Mutter aber verachtet die Nazis und betet als überzeugte Katholikin jeden Abend für alle Soldaten, Freund und Feind.

Am Abend des 15. März 1944 sollen die fünf Geschwister nicht im Bunker übernachten, sondern im Luftschutzkeller der Tanten. Ihnen wird für den nächsten Tag eine Überraschung versprochen. Als sie am Nachmittag zu ihrer Mutter geführt werden, liegt sie im Bett. Neben ihr steht der Kinderwagen, darin ein winziges Baby. „Das ist euer Bruder Michael“, sagt sie, auf begeisterte Zustimmung hoffend. Aber die Kinder reagieren zurückhaltend; sie wissen, dass die Probleme nur noch größer werden. Mit dem Säugling täglich den Fichtebunker aufzusuchen ist nun nicht mehr möglich. Der Weg ist zu beschwerlich und gefährlich. Die Mutter bleibt mit ihren sechs Kindern im Haus beziehungsweise Luftschutzkeller der Tanten bis es im September 1944 Pater Dubis gelingt, der Familie einen Platz in der nahe gelegenen evangelischen Nikodemusgemeinde zu vermitteln. Michael entwickelt später O-Beine, eine Mangelerscheinung wegen der schlechten Ernährung.

In den letzten Kriegstagen wird Berlin von den Russen eingenommen. Am 8. Mai 1945 kapitulieren die Deutschen. Der Krieg ist zu Ende. Die Frauen haben Angst vor den Russen und den Vergewaltigungen. Deshalb machen sie sich alt und hässlich. Die Russen dringen auch in den Keller ein, wo sich Reginas Mutter mit ihren Kindern aufhält. Sie hat sich nicht verkleidet und breitet die Arme um ihre Kinder aus. Aber die Russen nehmen sie zum Entsetzen der Kinder mit. Nach einer schier endlos langen Zeit kehrt sie wieder zurück. Die Russen haben ihr nichts angetan. Im Gegenteil, sie schenkten ihr eine große Tüte Grießbrei und einen Eimer Milch, damit sie für die Kinder Grießbrei kochen kann. Die Frauen machen sich sofort an die Arbeit und füllen einen alten Waschkessel mit dem Gries, der Milch und Wasser und lassen ihn auf einem Kohleofen in der oberen Wohnung kochen. Der Grießbrei brennt an, trotzdem ist es ein Festessen. Regina glaubt noch viele Jahre später, dass Grießbrei nur so schmecken muss.

Da das Mietshaus in der Manitiusstraße zerstört ist, muss sich die Familie eine neue Wohnung suchen. Zufälligerweise ist gerade ein alter Mann im weitgehend unbeschädigt gebliebenen Haus der Großeltern gestorben, und die Familie zieht jetzt einfach in dessen Zweizimmerwohnung ein. Aber auch Verwandte des Verstorbenen, die ebenfalls ausgebombt wurden, erheben Anspruch auf die Wohnung. Es kommt zum Streit. Da zeigt die Tante ein angebliches Erlaubnisschreiben von der russischen Kommandantur vor. Niemand kann es lesen, aber der dicke Stempel überzeugt, und die Interessenten ziehen ab. Die Wohnung ist komplett eingerichtet, und der Mann hat viele Dinge gehortet und gesammelt, die die Kinder jetzt auf dem Schwarzen Markt auf dem Hermannplatz verkaufen können.

Im Sommer 1945 kehrt der Vater aus der Kriegsgefangenschaft heim. Er ist den Kindern fremd geworden; zum ersten Mal sieht er seinen fast eineinhalb Jahre alten Sohn Michael. Rita, das Sorgenkind, wird immer schwächer und erkrankt an Ruhr. Die ganze Familie ist bei ihr, als sie die Augen für immer schließt.

Besonders traurig ist das Ende des jungen Paters Dubis, der sich während des Krieges für so viele Menschen eingesetzt hat. Weil er angeblich zu einer Widerstandsgruppe gehörte, erschießen ihn die Russen. Die Gemeindemitglieder finden schließlich seine Leiche und geben ihm ein so würdiges Begräbnis wie möglich. Der Besitzer eines Kuhstalles in der Weserstraße stellt seinen Plattenwagen und sein blindes Pferd zur Verfügung, und eine große Trauergemeinde begleitet den (Leih-)Sarg (es gibt keine Särge) bis zum Matthias-Friedhof in Tempelhof.

Weihnachten 1945: das erste Christfest nach dem Krieg. Die Familie ist wieder zusammen und bemüht sich trotz aller Mängel um ein schönes Fest. Als Weihnachtsbaumersatz dient ein Besenstiel, an den die Jungen Tannenzweige montiert haben. Es wird, wie in jeder christlichen Familie, gesungen, und die Kinder sagen Gedichte auf. Jeder bekommt ein kleines selbstgebasteltes Geschenk. Alle sind glücklich. Plötzlich klopft es an der Tür. Es ist ein fremder Mann. Er sucht seinen Vater, der in dieser Wohnung gewohnt hat. Nachdem die Familie ihm berichtet hat, was geschehen war, lädt sie ihn ein, diesen Tag mit ihr zu verbringen.

Ostern 1947 steht Reginas Erstkommunion an. Der Vater hat inzwischen seine Werkstatt wieder eröffnet. Die Tanten sind ebenfalls in Lohn und Brot, so dass es wirtschaftlich allmählich aufwärts geht. Man beginnt Mehl und die Kuchenzutaten zusammen zu sammeln, um ein großes Familienfest vorzubereiten. Alles Nötige ist da, auch die Kerze, aber eines fehlt: das Kleid für Regina. Die Tanten wollen schon eines aus weißen Laken nähen lassen, als Tante Käthe, sie arbeitet beim Caritas-Verband, ein großes Paket nach Hause bringt, in dem eine vollständige Ausstattung für eine Kommunion enthalten ist: ein weißes Georgette-Kleid, ein weißer Mantel, weiße Strümpfe und schwarze Lackschuhe. Und an einem goldenen Faden eine Visitenkarte vom Heiligen Vater aus Rom. Natürlich ist Regina sprachlos und überglücklich. Die Schuhe sind leider zu groß; aber Regina stopft Watte in die Spitzen. So kann sie zwar mit ihnen laufen, aber beim Knien in der Kirche wird es kompliziert. Später passiert mit den kostbaren Schuhen beim Schwimmen im Landwehrkanal ein Unglück. Regina stellt die Schuhe beim Umziehen auf ein Plumpsklo, stößt aus Versehen daran, und sie fallen in die Kloake. Der Bademeister zieht sie an einer Angel wieder heraus. Aber sie sind nicht mehr zu retten, und Regina hat gegenüber den Tanten ein schlechtes Gewissen.

Seit diesem wunderbaren Geschenk hat Regina J. Schwenke Kontakt mit dem Vatikan. Viele Jahre später sieht sie gemeinsam mit ihrer alten Mutter im Fernsehen, dass der Papst sich die Nase schnäuzen muss, aber kein Taschentuch dabei hat. Da fordert die Mutter sie auf Taschentücher für den Papst zu besorgen. Das tut Regina, lässt sie mit seinem Namen („Papst Paul II.“) besticken und schickt das Päckchen nach Rom. Nach vierzehn Tagen erhält sie ein persönliches Dankschreiben. Und beim nächsten Fernsehauftritt zieht der Papst eines ihrer Taschentücher hervor und putzt sich damit die Nase.

Die schwierigen Zeiten des Krieges haben die Kinder gelehrt füreinander da zu sein. Der Vater stirbt schon 1970, aber die besonders geliebte Mutter wird 97 Jahre alt. Zum Ende ihres Lebens wird sie von allen Kindern hingebungsvoll gepflegt. Auch die Tanten werden bis zum Tod von allen Nichten und Neffen aufmerksam versorgt; denn sie wissen es zu schätzen, was diese für sie getan haben.







Samstag, 12. November 2016

24. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 10. November 2016

Dr. Christian Hoffmann,
"Grüner" Neuköllner, BVV-Mitglied, Vorsitzender Pyramidengarten e.V.

Alles für Neukölln

Christian Hoffmann beantwortet sogar an einem Sonntag meine E-Mail. Als vielfältig engagierter Neuköllner und grüner Bezirkspolitiker sagt er spontan zu beim nächsten Erzählcafé über sich zu berichten.
Natürlich kommt er mit dem Fahrrad, vernünftig gekleidet mit Sicherheitsjacke. Ein Muss für eine Fachkraft für Arbeitssicherheit. Er sieht aus wie ein Feuerwehrmann, der gleich tatkräftig anpacken wird. Aber er nimmt in aller Ruhe Platz in unserer Runde und erzählt chronologisch.


Christian Hoffmann wird 1962 in der Neuköllner Neckarstraße geboren. Seine Jugend, die Zeit vom fünften bis zum 18. Lebensjahr, verlebt er in Hermsdorf. Dann zieht er zurück in sein Geburtshaus und verlässt Neukölln seitdem nicht mehr. In Hermsdorf besucht er die Katholische Salvator-Schule. Er ist ein gelangweilter Schüler. In der 8. Klasse stellen ihn die Lehrer vor die Alternative: entweder richtig lernen und Abitur machen oder nach der 10. Klasse arbeiten gehen. Er entschließt sich zu pauken und erreicht in der 10. Klasse einen Notendurchschnitt von immerhin 1,3. Dann wechselt er auf die Thomas-Mann-Schule im Märkischen Viertel, wo er sein Abitur ablegt. Das Märkische Viertel ist eine der drei Westberliner Großsiedlungen am Stadtrand, die seit den 1960er-Jahren geplant und gebaut wurden. Christian lernt es als Problemgebiet kennen. Als bedrückend empfindet er nicht nur den hohen Anteil von Familien, die von der Sozialhilfe abhängig sind, sondern auch die bauliche Situation: Betonburgen mit spärlichem Grün, mangelnder Infrastruktur und schlechter Verkehrsanbindung. Eines Tages wird seine Schule mit Hakenkreuzen besprüht. Es ist für ihn selbstverständlich, dass er, der in Schülerzeitung und Schülervertretung aktiv ist, bei der Vorbereitung der Antwort, einer antifaschistischen Aktionswoche, aktiv wird. Heute ist das Märkische Viertel ein Wohngebiet, in dem die Menschen gern wohnen. Der Wohnungsbaugesellschaft Gesobau ist es gelungen das Gebiet vor dem Umkippen zu bewahren, und sie hat es über die Jahre  modernisiert.

Nach dem Abitur möchte Christian etwas praktisches Tun. Er beschließt eine Ausbildung als Krankenpfleger zu absolvieren und überbrückt die Wartezeit mit einem Job bei der Firma Gegenbauer, wo er ein Jahr lang Treppen putzt und beim Winterdienst eingesetzt ist. Nach seiner dreijährigen Ausbildung arbeitet er noch zwei Jahre im Klinikum Charlottenburg als Krankenpfleger. Mit dem schon damals sehr knapp bemessenen Personalschlüssel unzufrieden, weil zu wenig Zeit für die Patienten bleibt, beginnt er ein Studium der Lebensmitteltechnologie an der Technischen Universität Berlin. Er kocht nämlich gern und möchte mehr Wissen erlangen. Doch das Studium kann seine Fragen nicht beantworten, da es dabei vorrangig um die Konstruktion von Lebensmittel verarbeitenden Maschinen geht. Deshalb bricht er es nach dem Vordiplom ab, um Landschaftsplanung studieren. Das ist endlich jenes Gebiet, das ihn in seinen Bann zieht. Ihn begeistert die Art und Weise des Studiums: projektorientiert und in kleinen Gruppen. Die Studierenden können sich bis zu 12 Monaten lang mit einem Thema beschäftigen, das sie von allen Seiten beleuchten. Vorlesungen und Übungen sind in die Thematik integriert. Er bedauert, dass die nach ihm Studierenden nicht mehr dieses Privileg haben können, denn nach einer Studienreform ist der Universitätsunterricht stärker reguliert und verschult worden. 

Christian spezialisiert sich in Bodenkunde, schreibt seine Diplomarbeit über dieses Thema, und bekommt am Fachgebiet Bodenkunde eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter, wo er auch promoviert. In dieser Zeit leitet er ebenfalls fünf Jahre lang das Bodenchemielabor. Insgesamt zehn Jahre forscht er als Wissenschaftler über die Berliner Rieselfelder und über die Frage, wie die negativen Folgen bei Aufgabe der Rieselfelder und neuer Nutzung des Geländes vermieden werden können. Bis in die 1970er-Jahre wurden die Abwässer aus der Kanalisation auf die außerhalb der Stadt liegenden Rieselfelder gepumpt. Da die Abwässer auch Nährstoffe enthielten, wurden die Rieselfelder landwirtschaftlich genutzt. Die Bauern zeigten stolz ihre riesigen Erträge vor ohne genau zu wissen, wie stark diese mit Schadstoffen belastet waren. Seitdem das Abwasser in Klärwerken gereinigt wird, kann die Fläche der Rieselfelder anderweitig genutzt werden. In vielen Forschungsprojekten deckt Christian die einzelnen Bodenbelastungen auf (Schwermetalle und organische Schadstoffe) und entwickelt mit seinen Kollegen Konzepte für eine künftige Nutzung ohne Gefahren.

Im Jahr 2002 gründet Christian sein eigenes Ingenieurbüro in der Neuköllner Neckarstraße und wird für verschiedene Unternehmen in Berlin und Brandenburg als Berater tätig. 2006 macht er bei der Bauberufsgenossenschaft eine Zusatzausbildung als „Fachkraft für Arbeitssicherheit“. Seitdem berät er in ganz Deutschland Firmen im Bereich des Arbeitsschutzes, erstellt Unterlagen, erarbeitet Sicherheits- und Gesundheitsschutzkonzepte und führt Schulungen durch.

2006 wird im Bereich der Flughafenstraße ein Quartiersmanagement eingerichtet. Sein Haus in der Neckarstraße liegt in diesem Bereich. Christian ist erfreut, dass in diesem schwierigen Quartier endlich „etwas passieren“ soll. Er will mitmachen, sich engagieren und lässt sich in den Quartiersrat wählen. Seitdem ist er für seinen Kiez, aber auch für ganz Neukölln im Einsatz. Mit jedem Projekt kommen ihm neue Ideen, was er (mit anderen) in Neukölln verbessern kann. Bei den meisten Umweltaktionen ist Christian dabei, oft mit den Mitarbeitern seines Büros. Er unterstützt zum Beispiel den alljährlichen großen Kiezputz im Flughafenquartier, der stets mit einer Pflanzaktion endet. Im Körnerkiez hilft er den Schülerinnen und Schülern von der Peter-Petersen-Schule beim Projekt „Attacke gegen Hundekacke“ und fasst kräftig mit an. Auch dort ist er in verschiedenen Quartiersmanagement-Projekten aktiv und erlebt, wie diese Gestalt annehmen und helfen die Lebenssituation im Kiez zu verbessern wie der Spielplatz an der Schierker Straße, die Zwischennutzungen in den Läden an der Emser Straße, die Hofgestaltung und die neue Mensa im Albrecht-Dürer-Gymnasium.

Eines Tages hört er von einem Gelände in der Nähe des Britzer Gartens, das gemeinsam von den Nachbarn, Menschen unterschiedlichster Nationen, bewirtschaftet wird. So etwas brauchen wir auch im Neuköllner Norden, beschließt er. Einen multikulturellen Nachbarschaftsgarten, in dem die gesamte bunte Mischung Neuköllns repräsentiert wird; wo man zusammenkommt und sich kennenlernen und miteinander austauschen kann! Christian macht sich mit einigen Mitstreitern auf die Suche nach einem geeigneten Grundstück, sehr lange ohne Erfolg. Dann plötzlich ein Anruf aus dem Rathaus: „Bitte kommen Sie heute Nachmittag zum Columbiadamm zum Garnisonfriedhof, dort befindet sich eine kleine Fläche, die früher dem Friedhofsamt als Personalunterkunft gedient hat. Vielleicht ist das etwas für Sie.“

2006 wird der Verein „Multikultureller NachbarschaftsGarten Neukölln e.V.“ gegründet.
Weil der Name zu lang und umständlich ist, nennen die Mitglieder ihren Verein einfach „Pyramidengarten“ in Anlehnung an die Dachform des Vereinshauses. Das Gebäude wurde ursprünglich für das Friedhofsamt errichtet, stand aber seit längerem leer. 2007 beginnen die Arbeiten im Pyramidengarten. Der Teil des Grundstücks wird in 13 kleine Flächen zu je 20 Quadratmetern aufgeteilt, manche Flächen werden noch halbiert, so dass jeweils eine Gruppe ein Beet bewirtschaften kann. Der andere Teil des Grundstücks steht der Gemeinschaft zur Verfügung mit einer Kräuterspirale, einer Sträucher- und Staudenfläche, dem Holunder, der Kornelkirsche und einigen alten Ostsorten. Entlang der Mauer am Columbiadamm wachsen Stauden Topinambur und Wein. Auch gibt es mehrere Bienenvölker.

Der Garten ist als Ort der Begegnung offen für alle. Er ist Veranstaltungsort, Treffpunkt für Umweltbildung, Kultur und Kunst und hat sich bis heute zu einem kleinen Paradies mitten in der Großstadt entwickelt. Etwa 13 Nationalitäten sind unter den Vereinsmitgliedern vertreten. Zwei Broschüren liegen vor. Die eine, „Zwiebelsaft, Beinwell & Co.“, zeigt auf, was die Menschen unterschiedlicher Kulturen unter Gesundheit verstehen. Was haben sie für Hausmittel und Rezepte? Christian bringt das Rezept für den Zwiebelsaft gegen Halsschmerzen ein. Diese Broschüre entstand 2011 während eines Studienprojektes der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Die zweite Veröffentlichung, „Pflanzen, Säen, Ernten“, ist ein Ratgeber im Rahmen des Projekts „Umweltbildung Flughafenkiez“, 2011–2013. Sie enthält Ideen und Anregungen, wie Eltern und Erzieher ihre Kinder an das Themenfeld Umwelt heranführen können. Christian war Leiter des Projektes und ist einer der Autoren.

Aber Christian hat selten genug, er will Veränderungen nicht nur denken, er will, dass diese auch Realität werden. Deshalb ist er seit 2010 wieder Mitglied der GRÜNEN und seit Oktober 2016 Mitglied der GRÜNEN-Fraktion in BVV Neukölln. Er interessiert sich für Bereiche, wo „man dicht an den Menschen ist“. Im Ausschuss für „Eingaben und Beschwerden ist er ebenso aktiv, wie im Sportausschuss und als überzeugter Umweltaktivist natürlich auch im Ausschuss für Umwelt- und Natur. Das passt gut zu ihm, dem überzeugten Neuköllner, der fast alles für seinen Stadtteil tut.

Sonntag, 6. November 2016

23. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Lena Kelm, Kiezbewohnerin, Russlanddeutsche, Autorin

Lena Kelm ist als Russlanddeutsche in Kasachstan aufgewachsen. Seit 1993 lebt sie in Berlin-Neukölln. Der Zerfall der Sowjetunion in den 1990er-Jahren hatte ihrem Leben eine entscheidende Wende gebracht. Über ihre Erlebnissee und die Geschichte ihrer Vorfahren hat Lena Kelm ein Buch geschrieben. Heute wird sie jedoch nicht daraus vorlesen, wie sonst so oft, sondern erzählen. Sie aber beginnt mit einem Lied. Es ist das Wiegenlied „Schlaf Herzenssöhnchen“ von Carl Maria von Weber, aus dem Lenas Mutter „Schlaf Herzenslenchen“ machte und es ihr jeden Abend vorsang. Aus diesem Erleben resultiert Lenas Liebe zur deutschen Sprache, ihrer Muttersprache.

Gesungen wurde viel in den Familien Kelm und Freigang, die als arme und religiös verfolgte Bauern in den Jahren 1862 bis 1864 aus Ostpreußen, Norddeutschland und Schlesien nach Wolhynien in der Ukraine auswanderten. Es waren die Urgroßeltern von Lena Kelm, er Baptist, sie Protestantin. Die günstigen Siedlungsbedingungen, die noch von Zarin Katharina die Große stammten, bedeuteten berechtigte Hoffnungen auf ein besseres Leben. Die Kolonisten sollten weite, ungenutzte Landstriche urbar machen und besiedeln. Dafür erhielten sie besondere Privilegien. Sie waren freie Bauern und konnten Eigentum erwerben.

Die Urgroßeltern siedelten sich im Dorf Solodyri an. Sie rodeten den Wald, errichteten einen Hof, begannen kenntnisreich mit dem Ackerbau, der Obstzüchtung und der Tierhaltung. Sie verkauften die verarbeiteten Produkte und stiegen in wenigen Jahren zu Großbauern auf. Die nächste Generation, die der Großeltern (mütterlicherseits) von Lena, wurde wohlhabend und angesehen. Großvater Freigang besaß 40 Hektar Land und Wald, zwanzig Kühe, unzählbar viele Schweine und jede Menge Federvieh. Er behandelte seine Landarbeiter gut, kümmerte sich um das Wohl des Dorfes und übernahm Patenschaften für Waisenkinder. Man pflegte die deutsche Kultur, ihre Sprache und die Musik. Das gute Leben endete 1914. Im Ersten Weltkrieg bekämpfte Russland das Deutsche Reich. Die deutschen Kolonisten galten plötzlich als Kollaborateure und wurden nach Sibirien verbannt. Während der Deportation starben der Urgroßvater und die Großmutter (väterlicherseits). Lena Kelm erwähnt das Volkslied, das in dieser Zeit entstand und die Vertreibung der Wolhynien-Deutschen beschreibt. Es hat dieselbe Melodie wie das russische Wolgalied. (Sie singt einige Strophen.)


1917 durften die Solodyrianer zurückkehren; die Ukraine war unabhängig geworden. Aber es herrschte ein gefährlicher Bürgerkrieg. Großvater Freigang hatte eine um fast dreißig Jahre jüngere Frau geheiratet, Antonie. Die Ehe, aus der vier Kinder hervorgingen, soll sehr glücklich gewesen sein. Als 1922 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik geründet wurde, beruhigte sich die Lage in Solodyri etwas. Die Großeltern glaubten an eine bessere Zukunft, obwohl ihre älteste Tochter Meta (später Lenas Mutter) als „Kulakentochter“ aus dem Gymnasium verwiesen wurde. Mit „Kulaken“ bezeichnete man nach der Oktoberrevolution 1917 und während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin alle selbstständigen Bauern. Im Rahmen der „Entkulakisierung“ in den Jahren 1929 bis 1932 wurden diese Personen und ihre Angehörigen als Klassenfeinde in Arbeitslager deportiert oder umgebracht. Von Mitte 1937 bis Ende 1938 wurden die Kulaken im Zuge des "Großen Terrors" erneut zu Hunderttausenden erschossen, in Gefängnisse gesteckt oder in die Lager des Gulag deportiert.

Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes schonten die Bolschewiki den Großvater. Aber er hielt die Repressalien in Form von immer höheren Steuern und drohenden Enteignungen nicht mehr aus und starb 1929 in den Armen seines Schwiegersohns Rudolf Kelm. Dieser hatte kurz zuvor dessen Tochter Meta geheiratet, die zum Zeitpunkt der Hochzeit 16 Jahre alt war. Es war, wie zu dieser Zeit durchaus üblich, eine arrangierte Ehe. Allerdings soll Rudolf wirklich verliebt in Meta gewesen sein und warb um sie. Meta war zu jung, um eigene Entscheidungen zu treffen, aber sie mochte Rudolf, meint Lena Kelm und betont, dass sie nie ein glücklicheres Ehepaar kennengelernt hat als ihre Eltern. Die verwitwete Großmutter Antonie heiratete einen braven Bauern aus dem Dorf, der Metas Stiefvater (Lenas Stief-Großvater) wurde.

Nach 1929 begannen die Enteignungen in Wolhynien. Bald konnte man in den Hofläden in Wolhynien außer Salz und Wodka nichts mehr kaufen. Auf dem Land gab es keine Arbeit mehr. Die Menschen hungerten. Die meisten Deutschen versuchten in ihre alte Heimat zurückzukehren, so auch die drei Schwestern von Rudolf Kelm. Sie hatten junge Reichsdeutsche geheiratet und dadurch die Staatsbürgerschaft erhalten. Vater Kelm hatte die deutsche Staatsbürgerschaft verloren, weil er die entsprechenden Zahlungen nicht mehr leisten konnte. Deshalb blieb Rudolf und seiner Frau Meta die Übersiedelung ins Deutsche Reich verwehrt.

Rudolf Kelm wurde ebenfalls als Kulak verfolgt. In den Jahren 1929 und 1933 bis 1937 wurde er mehrmals verhaftet. Doch immer wieder gelang ihm die Flucht. Jahrelang lebte er in den verschiedensten Verstecken und konnte seine Frau nur heimlich treffen. 1930 kam ihr Sohn Willi Kelm zur Welt. Meta arbeitete für kurze Zeit in einer Kolchose, wurde aber dort ausgeschlossen und zog in das russische Dorf Toporysch. Rudolf folgte ihr unbemerkt. Er war ein guter Handwerker und versuchte sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Die Hungersnot 1933 überlebte die Familie dank des geretteten Familienschmucks. Vom eingetauschten Geld konnte Meta die notwendigsten Lebensmittel im staatlichen Einkaufsladen Torgsib erstehen.

Als das Ausweissystem eingeführt würde, mussten Rudolf und Meta das Dorf Toporysch Hals über Kopf verlassen. In der Stadt Shitomir in Wolhynien fand Meta Arbeit in einer Strumpffabrik, wo sie von 1934 bis Anfang 1938 beschäftigt war. Dort erhielten sie beide Ausweise mit einer Gültigkeit von drei Jahren. Aber der NKWD (das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) nahm Rudolf erneut fest. Nach vier Monaten floh Rudolf mit Hilfe eines früheren Knechtes aus dem Gefängnis. Dann kehrte er heimlich zurück zu seiner Familie, die gemeinsam mit Großmutter Antonie, ihrem zweiten Mann und ihren drei Kindern in Shitomir lebte. Doch bald musste Rudolf wieder die Flucht antreten. Meta zog vor Kriegsbeginn zurück nach Solodery, weil sie die schlechte Behandlung der Juden in Shitomir nicht ertragen konnte. (Shitomir wurde im Juli 1942 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Kurz darauf begannen deutsche Einheiten aus SS und Wehrmacht Juden zu terrorisieren und in mehreren „Aktionen“ zu erschießen.)

Die Schicksale der anderen Mitglieder der Familien Kelm und Freigang seien hier nur kurz zusammengefasst: Im Krieg gelang es Antonie und ihren Kindern mit einem Treck deutscher Soldaten, die auf dem Rückzug waren, nach Breslau zu fliehen. Fast zwei Jahre verbrachten sie im Kloster Trebnitz bei Breslau. Zum Kriegsende wurden die Söhne Otto und Leo in die Wehrmacht eingezogen und gerieten für 10 Jahre in die russische Gefangenschaft. Antonie und Schwägerin Linda mit ihrem Sohn Willi flüchteten mit tausenden Deutschen vor der Sowjetarmee bis in die Tschechei. Von dort aus wurden sie nach Sibirien verschleppt. „Somit war meine Familie auf die ganze Sowjetunion verteilt worden: meine Eltern in Kasachstan, Großmutter in Sibirien, zwei Onkel in Gulags im Osten und Norden Russlands. Bis 1956 wussten sie nichts voneinander; ob sie zum Beispiel noch am Leben sind“, sagt Lena Kelm.

1937 begannen erneut massenhafte Verhaftungen in der Ukraine. Meta, diesmal hochschwanger, und  Rudolf fanden Schutz im Haus eines Juden. Eines Nachts klopfte die Polizei an die Tür. Der Jude gab den beiden ein Zeichen. Rudolf sprang aus dem Fenster und verschwand. Drei Tage später kam Tochter Sina zur Welt. In demselben Jahr verhaftete man den Stiefvater ohne Gründe. Er kam nie wieder frei und wurde vermutlich hingerichtet. Rudolfs Flucht verlief entlang der Kursker Eisenbahnlinie, die bis zum Kaukasus führte. Ende 1937 ließ der politische Druck etwas nach, so dass Rudolf in Nikolaewka, einem Kurort im Kaukasus, eine Arbeit als Tischler und sogar einen Pass bekam.

Weil nun der NKWD hinter Meta her war, um den Aufenthaltsort ihres Mannes zu erfahren, flüchtete sie mit den Kindern aus Shitomir zu ihrem Mann nach Nikolaewka. In diesem angenehmen Ort, wo es das ganze Jahr über grünte und blühte, war die Familie endlich vereint, und es kehrte ein wenig Normalität ein. Im Hof stand ein Walnussbaum, an den sich die Familie noch viele Jahre später erinnerte. Meta arbeitete in der Küche eines Waisenhauses. Willi ging zur Schule. Als die kleine Sina 1938 an Scharlach verstarb, konnten sie füreinander da sein.

Im Juni 1941 fiel Deutschland in die Sowjetunion ein. Stalin antwortete Ende August mit seinem Erlass (Ukas) über die Deportation aller männlichen Russlanddeutschen zwischen 15 und 55 Jahren in Arbeitslager. Frauen, Alte und Kinder sollten nach Sibirien oder Kasachstan gebracht werden. Stalin stellte die Russlanddeutschen unter den Generalverdacht der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland und wollte sich auf diese Weise an Hitler rächen. Als Rudolf eingezogen wurde, konnte er diese Zusammenhänge noch nicht überblicken. Die Männer glaubten, als Soldaten an die Front geschickt zu werden, um die Heimat zu verteidigen. Zusammengepfercht in einem Viehwagen fuhr sie der Zug wochenlang nach Norden. In Nordsibirien wurden sie im Iwdel-Gulag interniert und mussten in der Taiga schwerste Holzarbeiten verrichten. Jeden Tag ging es ums Überleben. Da Rudolf geschickte Hände hatte, setzte man ihn in der kleinen Stadt Iwdel als Hausbauer ein, wo ihm die Ehefrauen der Chefs manchmal Kleinigkeiten zum Essen zusteckten, was das Überleben erleichterte. Fast sieben Jahre verbrachte er in der Taiga.

Im Oktober 1941 begann man die deutschen Frauen zu deportieren. Meta wurde während ihrer Arbeit aufgefordert nach Hause zu gehen, die Sachen zu packen und sich mit ihrem Sohn am Sammelpunkt einzufinden. In Kotelnikowo mussten alle den Zug verlassen und in einen Lastschleppkahn umsteigen, der sie ans Kaspische Meer brachte, wo sie, verteilt auf drei Schleppkähne, das Meer überquerten. In der Nacht kreisten russische Bombenflieger tief über ihnen und leuchteten sie mit Scheinwerfern an. Als deutsche Flugzeuge herannahten, warfen die Russen Bomben ab. Die im Boot sitzenden durchnässten, hungernden und vor Angst zitternden Russlanddeutschen wurden nicht getroffen. Es waren aber viele Kinder, Alte und Kranke dabei, von denen einige schon auf diesem Teil der Reise starben. In Gurjew, der größten kasachischen Stadt am Kaspischen Meer, verfrachtete man die Überlebenden in einen Güterzug. Nach etwa 40 Tagen endete der Transport in Ajagus im Gebiet Semipalatinsk, Kasachstan. Man brachte die Deutschen bei kasachischen Familien unter. Ein kinderloses Ehepaar päppelte Meta und Willi wieder auf. Beim Abschied bot es an Willi zu sich zu nehmen. „Der Junge wird es gut bei uns haben. Du weißt nicht, was mit dir passieren wird“, sagten sie zu Meta, die natürlich nicht einwilligte.

Meta und Willi wurden auf die 170 Kilometer entfernte Kolchose Tasbulak gebracht, 70 Kilometer von der Chinesischen Grenze entfernt. Dort hatten sie Schwerstarbeiten zu verrichten. Meta musste sich zusätzlich gegen die sexistischen Angriffe der Brigadiers zur Wehr setzen. Rudolf erfuhr erst Monate später von dem Transport seiner Frau. 1947, nach fast sieben Jahren, erschien er in Tasbulak und holte Meta und den inzwischen 17-jährigen Willi ab in die nordkasachische Siedlung Bajanaul/Pawlodar. Man hatte ihn aus dem Iwdel-Gulag in den Norden Kasachstans geschickt, und die Familienzusammenführung war offiziell gestattet worden. Im einsamen Dorf Schambak sollte Rudolf mit anderen zwangsumgesiedelten Russlanddeutschen Holz fällen. Eine Rückkehr in die Heimat war verboten, aber die Siedler lebten frei, ohne Bewachung in einer faszinierenden Landschaft.

1949 kommt Lena Kelm in Schambak auf die Welt.

Lena Kelm deutet in ihrem Bericht die Geschichte ihrer Vorfahren nur kurz an. Ich habe sie in ihrem Buch nachgelesen und punktuell nacherzählt, wobei ich mich auf die Schicksale der Großeltern mütterlicherseits und der Eltern Lenas beschränke. Die russlanddeutsche Verwandtschaft ist aber durch ihren Kinderreichtum sehr verzweigt, und Lena geht in ihrem Buch auf die Geschicke vieler anderer Verwandten ein. Darauf verzichte ich hier und verweise lieber auf ihr Buch. Doch um Lena und das Schicksal der Russlanddeutschen besser verstehen zu können, halte ich den Blick auf ihre Vorfahren für unverzichtbar.

1950 wird die nun vierköpfige Familie 70 Kilometer weiter nach Maikain-Soloto umgesiedelt, einem unwirtlichen Ort in der kasachischen Steppe, um den Aufbau des ZES (Zentrale Elektrostation) und der Arbeitersiedlung voranzutreiben. Auch dort sind sie Insassen des Gulags, in dem sie mit vielen anderen russlanddeutschen Familien, aber auch sesshaft gewordenen Kasachen und ehemaligen russischen Häftlingen leben. Eine Begebenheit wird Lena nie vergessen: Als sie als Vierjährige mit der Mutter an der Hand zur pflichtgemäßen monatlichen Unterschrift beim Kommandanten erscheint, fragt dieser das Kind, wo es geboren sei. Und Lena erzählt, dass ihre Eltern sie im Kaukasus in einem Teich unter einem riesigen Walnussbaum gefunden hätten. Lena wollte in einer schönen Gegend geboren sein, an die man sich gern erinnerte. Und weil die Eltern immer so vom Kaukasus und dem Walnussbaum schwärmten, aber über die Steppe schimpften, wählte sie für sich den Kaukasus als Geburtsort.

Lena lebte mit ihren Eltern und dem zwanzigjährigen Bruder in einem Barackenlager. Ihnen stand eine Wohnung mit zwei Räumen zu, die mit Öfen beheizt wurden. Einen Wasseranschluss gab es nicht im Ort. Das Wasser wurde in Zisternen auf Lastwagen geliefert. In der Steppe herrscht Kontinentalklima mit sehr heißen Sommern und eiskalten, windigen Wintern. Charakteristisch für die Landschaft ohne Berge, Bäume und Grün ist eine unendliche Weite. Lediglich in Maikain gibt es seit den 1950er-Jahren einen kleinen Park. Durch seine Bodenschätze ist das Land sehr reich. Die Kasachen vertrugen sich gut mit den Deutschen, denn sie sahen sie wie sich selbst als Minderheit an. Die Russen als ihre Eroberer mochten sie weniger. Lena spielte mit den Kindern der Kasachen und lernte ihre Lebensgewohnheiten als zur Sesshaftigkeit gezwungene Nomaden kennen. Im Haus der Eltern herrschten andere Regeln und Traditionen sowie immer ein liebevoller Umgangston. Die Eltern sprachen mit den Kindern im Haus Deutsch und achteten auf eine gute deutsche Erziehung. Draußen wurde Russisch gesprochen. 1954 heiratete Bruder Willi ein wolgadeutsches Mädchen. Als die Familie 1955 in die 18 Kilometer entfernte Arbeitersiedlung Maikain-Rudnik versetzt wurde, konnte Willi in der alten Wohnung bleiben.

Maikain war kaum anders als ZES, nur etwas größer und bot deshalb etwas mehr Möglichkeiten. Das Wasser holte man an einer Pumpe. Es gab verschiedene Schulen, eine Musikschule, zwei Klubs, Kino, Theater, ein sehr gutes Krankenhaus mit verschiedenen Fachabteilungen, einen Supermarkt. Die Siedlung war in verschiedene Gebiete aufgeteilt, wo die einzelnen Nationalitäten friedlich nebeneinander wohnten: Russen, Kasachen und Deutsche. Das Gebiet der Kasachen nannten die Russen „Schanghai“, das der Deutschen „Berlin“. In Maikain ging Lisa zur Schule und machte das Abitur. Später wurde sie Lehrerin, sogar stellvertretende Schulleiterin, nachdem sie in Omsk Germanistik und Pädagogik studierte. Berlin bestand aus finnischen Holzhäusern und Baracken; auch fanden sich einige Häuser aus Stein, später kamen Plattenbauten hinzu. Es gab den Klub, das Kino, die Klinik und Kindergärten. Die Wohnhäuser sahen, wie üblich bei deutschen Bauern, gepflegt aus. Die Fensterläden waren gestrichen, die Fenster geputzt und mit Tüllgardinen verziert, Blumen schmückten die Fensterbänke und Vorgärten. Shanghai bestand aus Lehmhütten mit bröckelnden Fassaden und kleinen Fenstern, an die ein Stall angebaut war, und im Hof lag der Misthaufen. Die Kasachen hielten als frühere Nomaden Schafe, Ziegen, Hühner, Kühe, Pferde und hatten immer eine Fleischmahlzeit auf dem Tisch.

Die Jahre in Berlin und in dem finnischen Holzhaus bezeichnet Lena als die schönsten ihres Lebens. Sie spielte mit den Nachbarskindern in der freien Umgebung ohne Aufsicht und ohne Gefahren. In der Schule war sie mit Russinnen und Kasachinnen befreundet. Lena war eine sehr gute Schülerin, die vor allem den Deutschunterricht genoss. In den Klubs konnten sich Jugendliche an den verschiedensten kulturellen Projekten beteiligen: Tanz, Theater, Musik. In der Musikschule lernte Lena das Klavierspiel, gefördert von den Eltern, die das Unterrichtsgeld dafür aufbrachten. Sie wussten, dass Bildung das wichtigste Rüstzeug für ihre Kinder ist.

Hier macht Lena einen Zeitensprung. Sie berichtet über einen Zufall, durch den ihr Vater erfuhr, dass seine Schwestern noch am Leben seien und in der DDR wohnen würden. Er nahm den Kontakt mit ihnen auf und durfte sie, inzwischen Rentner, mit Lenas Mutter besuchen. Dieses war ein einschneidendes Erlebnis. Auch Lena bemühte sich intensiv um eine Reiseerlaubnis und fuhr insgesamt viermal in die DDR. Zuletzt mit ihren Zwillingstöchtern. (Sie war inzwischen mit einem Russen verheiratet. Doch die Ehe ging nicht zuletzt durch die Trunksucht des Ehemannes in die Brüche.) Die Reisen in die DDR bedeuteten einerseits das Glück, die große Familie zu entdecken und andererseits zu erleben, dass es ein Leben auch außerhalb der Verbannung gibt, und zwar ein gutes! In der DDR gab in den Augen Lenas so viel mehr Reichtum, eine vielfältige Natur, die deutsche Kultur! (Dass es einen Stasi und keine Freiheit in der DDR gab, erfuhr Lena damals nicht, darüber hatten ihre Verwandten niemals gesprochen.) Als 1989 der eiserne Vorhang fiel, bemühte sich Lena um die Ausreise. Doch die bürokratischen Mühlen mahlten langsam. 1991 verstarb der Vater. Im Januar 1993 konnten endlich Lena, ihre Mutter und die Zwillinge sich ins Flugzeug nach Deutschland setzen.

In Berlin-Neukölln zur Ruhe gekommen, begann Lena zu recherchieren. Es war für sie ein Schock zu erfahren, was ihre geliebte alte Heimat wirklich war: ein Gulag. Ein Arbeitslager! In Maikain lag das Verwaltungszentrum. Nie hatte ihr Vater sie darüber aufgeklärt, obwohl in ihrer Familie viel gesprochen wurde. Vor allem die Mutter hat ihr die vielen Familiengeschichten erzählt, die Lena in ihrem Buch veröffentlichen konnte. Aber der Vater schwieg. Er konnte wohl die für ihn unerträgliche Situation nicht in Worte fassen. Für mich bleibt die Frage, warum die Mutter ebenfalls nichts gesagt hat. Hatte sie sich mit der Situation abgefunden? War das Leben in Maikain für sie normal? „Nie!“ antwortet mir Lena später. „Meine Mutter schwieg, um mich zu schützen. Sie schwieg aus Angst vor weiteren Repressalien. Sie schwieg, um die Grausamkeiten zu verdrängen, so wie tausende Deutsche nach dem Krieg nicht mehr über die Nazizeit sprechen wollten. In ihren Erinnerungen schrieb sie nach ihrer Ankunft in Deutschland: ‚Erst hier habe ich aufgehört Angst vor der Polizei zu haben’.

Auch über die Atomversuche, die in nur 300 Kilometer weiter Entfernung von Maikain durchgeführt wurden, als Lena Schülerin war, erfuhr Lena erst 1989 im Rahmen von Glasnost und Perestroika; allerdings gab es nur spärliche Informationen. Später fand sie heraus, dass zwischen 1949 und 1956 470 oberirdische nukleare Testsprengungen durchgeführt wurden. Untersuchungen wiesen bei den dort lebenden Menschen Erbgut-Schädigungen nach. Diese erschreckenden Erkenntnisse verarbeitete Lena in der Erzählung „Schmetterling“, die sie uns zum Abschluss vorliest.

Lena Kelm. Schmetterling, in: Lena Kelm. Im Prinzip gibt es alles. Erzählungen. Berlin, 2016
Lena Kelm. Manchmal dauert ein Weg ein Leben lang. Vom Gulag nach Berlin. Berlin 2014