Lena Kelm, Kiezbewohnerin, Russlanddeutsche, Autorin
Lena Kelm ist als
Russlanddeutsche in Kasachstan aufgewachsen. Seit 1993 lebt sie in
Berlin-Neukölln. Der Zerfall der Sowjetunion in den 1990er-Jahren hatte ihrem
Leben eine entscheidende Wende gebracht. Über ihre Erlebnissee und die
Geschichte ihrer Vorfahren hat Lena Kelm ein Buch geschrieben. Heute wird sie
jedoch nicht daraus vorlesen, wie sonst so oft, sondern erzählen. Sie aber
beginnt mit einem Lied. Es ist das Wiegenlied „Schlaf Herzenssöhnchen“ von Carl
Maria von Weber, aus dem Lenas Mutter „Schlaf Herzenslenchen“ machte und es ihr
jeden Abend vorsang. Aus diesem Erleben resultiert Lenas Liebe zur deutschen
Sprache, ihrer Muttersprache.
Gesungen wurde viel in den Familien Kelm und Freigang, die
als arme und religiös verfolgte Bauern in den Jahren 1862 bis 1864 aus Ostpreußen,
Norddeutschland und Schlesien nach Wolhynien in der Ukraine auswanderten. Es
waren die Urgroßeltern von Lena Kelm, er Baptist, sie Protestantin. Die
günstigen Siedlungsbedingungen, die noch von Zarin Katharina die Große
stammten, bedeuteten berechtigte Hoffnungen auf ein besseres Leben. Die
Kolonisten sollten weite, ungenutzte Landstriche urbar machen und besiedeln.
Dafür erhielten sie besondere Privilegien. Sie waren freie Bauern und konnten
Eigentum erwerben.
Die Urgroßeltern siedelten sich im Dorf Solodyri an. Sie rodeten
den Wald, errichteten einen Hof, begannen kenntnisreich mit dem Ackerbau, der
Obstzüchtung und der Tierhaltung. Sie verkauften die verarbeiteten Produkte und
stiegen in wenigen Jahren zu Großbauern auf. Die nächste Generation, die der
Großeltern (mütterlicherseits) von Lena, wurde wohlhabend und angesehen.
Großvater Freigang besaß 40 Hektar Land und Wald, zwanzig Kühe, unzählbar viele
Schweine und jede Menge Federvieh. Er behandelte seine Landarbeiter gut, kümmerte
sich um das Wohl des Dorfes und übernahm Patenschaften für Waisenkinder. Man
pflegte die deutsche Kultur, ihre Sprache und die Musik. Das gute Leben endete
1914. Im Ersten Weltkrieg bekämpfte Russland das Deutsche Reich. Die deutschen
Kolonisten galten plötzlich als Kollaborateure und wurden nach Sibirien
verbannt. Während der Deportation starben der Urgroßvater und die Großmutter (väterlicherseits).
Lena Kelm erwähnt das Volkslied, das in dieser Zeit entstand und die
Vertreibung der Wolhynien-Deutschen beschreibt. Es hat dieselbe Melodie wie das
russische Wolgalied. (Sie singt einige
Strophen.)
1917 durften die Solodyrianer zurückkehren; die Ukraine war
unabhängig geworden. Aber es herrschte ein gefährlicher Bürgerkrieg. Großvater Freigang
hatte eine um fast dreißig Jahre jüngere Frau geheiratet, Antonie. Die Ehe, aus
der vier Kinder hervorgingen, soll sehr glücklich gewesen sein. Als 1922 die
Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik geründet wurde, beruhigte sich die
Lage in Solodyri etwas. Die Großeltern glaubten an eine bessere Zukunft, obwohl
ihre älteste Tochter Meta (später Lenas Mutter) als „Kulakentochter“ aus dem
Gymnasium verwiesen wurde. Mit „Kulaken“ bezeichnete man nach der
Oktoberrevolution 1917 und während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft
unter Stalin alle selbstständigen Bauern. Im Rahmen der „Entkulakisierung“ in
den Jahren 1929 bis 1932 wurden diese Personen und ihre Angehörigen als
Klassenfeinde in Arbeitslager deportiert oder umgebracht. Von Mitte 1937 bis
Ende 1938 wurden die Kulaken im Zuge
des "Großen Terrors" erneut zu Hunderttausenden erschossen,
in Gefängnisse gesteckt oder in die Lager des Gulag deportiert.
Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes schonten die
Bolschewiki den Großvater. Aber er hielt die Repressalien in Form von immer
höheren Steuern und drohenden Enteignungen nicht mehr aus und starb 1929 in den
Armen seines Schwiegersohns Rudolf Kelm. Dieser hatte kurz zuvor dessen Tochter
Meta geheiratet, die zum Zeitpunkt der Hochzeit 16 Jahre alt war. Es war, wie
zu dieser Zeit durchaus üblich, eine arrangierte Ehe. Allerdings soll Rudolf
wirklich verliebt in Meta gewesen sein und warb um sie. Meta war zu jung, um
eigene Entscheidungen zu treffen, aber sie mochte Rudolf, meint Lena Kelm und
betont, dass sie nie ein glücklicheres Ehepaar kennengelernt hat als ihre
Eltern. Die verwitwete Großmutter Antonie heiratete einen braven Bauern aus dem
Dorf, der Metas Stiefvater (Lenas Stief-Großvater) wurde.
Nach 1929 begannen die Enteignungen in Wolhynien. Bald
konnte man in den Hofläden in Wolhynien außer Salz und Wodka nichts mehr
kaufen. Auf dem Land gab es keine Arbeit mehr. Die Menschen hungerten. Die
meisten Deutschen versuchten in ihre alte Heimat zurückzukehren, so auch die
drei Schwestern von Rudolf Kelm. Sie hatten junge Reichsdeutsche geheiratet und
dadurch die Staatsbürgerschaft erhalten. Vater Kelm hatte die deutsche
Staatsbürgerschaft verloren, weil er die entsprechenden Zahlungen nicht mehr
leisten konnte. Deshalb blieb Rudolf und seiner Frau Meta die Übersiedelung ins
Deutsche Reich verwehrt.
Rudolf Kelm wurde ebenfalls als Kulak verfolgt. In den
Jahren 1929 und 1933 bis 1937 wurde er mehrmals verhaftet. Doch immer wieder
gelang ihm die Flucht. Jahrelang lebte er in den verschiedensten Verstecken und
konnte seine Frau nur heimlich treffen. 1930 kam ihr Sohn Willi Kelm zur Welt. Meta
arbeitete für kurze Zeit in einer Kolchose, wurde aber dort ausgeschlossen und
zog in das russische Dorf Toporysch. Rudolf folgte ihr unbemerkt. Er war ein
guter Handwerker und versuchte sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu
halten. Die Hungersnot 1933 überlebte die Familie dank des geretteten
Familienschmucks. Vom eingetauschten Geld konnte Meta die notwendigsten Lebensmittel
im staatlichen Einkaufsladen Torgsib erstehen.
Als das Ausweissystem eingeführt
würde, mussten Rudolf und Meta das Dorf Toporysch Hals über Kopf verlassen. In
der Stadt Shitomir in Wolhynien fand Meta Arbeit in einer Strumpffabrik, wo sie
von 1934 bis Anfang 1938 beschäftigt war. Dort erhielten sie beide Ausweise mit
einer Gültigkeit von drei Jahren. Aber der NKWD (das Volkskommissariat für
innere Angelegenheiten) nahm Rudolf erneut fest. Nach vier Monaten floh Rudolf mit
Hilfe eines früheren Knechtes aus dem Gefängnis. Dann kehrte er heimlich zurück
zu seiner Familie, die gemeinsam mit Großmutter Antonie, ihrem zweiten Mann und
ihren drei Kindern in Shitomir lebte. Doch bald musste Rudolf wieder die Flucht
antreten. Meta zog vor Kriegsbeginn zurück nach Solodery, weil sie die
schlechte Behandlung der Juden in Shitomir nicht ertragen konnte. (Shitomir
wurde im Juli 1942 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Kurz darauf begannen
deutsche Einheiten aus SS und Wehrmacht Juden zu terrorisieren und in mehreren
„Aktionen“ zu erschießen.)
Die Schicksale der anderen
Mitglieder der Familien Kelm und Freigang seien hier nur kurz zusammengefasst: Im
Krieg gelang es Antonie und ihren Kindern mit einem Treck deutscher Soldaten,
die auf dem Rückzug waren, nach Breslau zu fliehen. Fast zwei Jahre verbrachten
sie im Kloster Trebnitz bei Breslau. Zum Kriegsende wurden die Söhne Otto und
Leo in die Wehrmacht eingezogen und gerieten für 10 Jahre in die russische
Gefangenschaft. Antonie und Schwägerin Linda mit ihrem Sohn Willi flüchteten
mit tausenden Deutschen vor der Sowjetarmee bis in die Tschechei. Von dort aus
wurden sie nach Sibirien verschleppt. „Somit war meine Familie auf die ganze
Sowjetunion verteilt worden: meine Eltern in Kasachstan, Großmutter in
Sibirien, zwei Onkel in Gulags im Osten und Norden Russlands. Bis 1956 wussten
sie nichts voneinander; ob sie zum Beispiel noch am Leben sind“, sagt Lena
Kelm.
1937 begannen erneut massenhafte Verhaftungen in der Ukraine.
Meta, diesmal hochschwanger, und Rudolf fanden
Schutz im Haus eines Juden. Eines Nachts klopfte die Polizei an die Tür. Der
Jude gab den beiden ein Zeichen. Rudolf sprang aus dem Fenster und verschwand.
Drei Tage später kam Tochter Sina zur Welt. In demselben Jahr verhaftete man
den Stiefvater ohne Gründe. Er kam nie wieder frei und wurde vermutlich
hingerichtet. Rudolfs Flucht verlief entlang der Kursker Eisenbahnlinie, die
bis zum Kaukasus führte. Ende 1937 ließ der politische Druck etwas nach, so
dass Rudolf in Nikolaewka, einem Kurort im Kaukasus, eine Arbeit als Tischler
und sogar einen Pass bekam.
Weil nun der NKWD hinter Meta her war, um den Aufenthaltsort
ihres Mannes zu erfahren, flüchtete sie mit den Kindern aus Shitomir zu ihrem
Mann nach Nikolaewka. In diesem angenehmen Ort, wo es das ganze Jahr über
grünte und blühte, war die Familie endlich vereint, und es kehrte ein wenig
Normalität ein. Im Hof stand ein Walnussbaum, an den sich die Familie noch
viele Jahre später erinnerte. Meta arbeitete in der Küche eines Waisenhauses. Willi
ging zur Schule. Als die kleine Sina 1938 an Scharlach verstarb, konnten sie
füreinander da sein.
Im Juni 1941 fiel Deutschland in die Sowjetunion ein. Stalin
antwortete Ende August mit seinem Erlass (Ukas) über die Deportation aller
männlichen Russlanddeutschen zwischen 15 und 55 Jahren in Arbeitslager. Frauen,
Alte und Kinder sollten nach Sibirien oder Kasachstan gebracht werden. Stalin stellte die Russlanddeutschen unter den
Generalverdacht der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland
und wollte sich auf diese Weise an Hitler rächen. Als Rudolf eingezogen wurde,
konnte er diese Zusammenhänge noch nicht überblicken. Die Männer glaubten, als
Soldaten an die Front geschickt zu werden, um die Heimat zu verteidigen.
Zusammengepfercht in einem Viehwagen fuhr sie der Zug wochenlang nach Norden.
In Nordsibirien wurden sie im Iwdel-Gulag interniert und mussten in der Taiga
schwerste Holzarbeiten verrichten. Jeden Tag ging es ums Überleben. Da Rudolf
geschickte Hände hatte, setzte man ihn in der kleinen Stadt Iwdel als Hausbauer
ein, wo ihm die Ehefrauen der Chefs manchmal Kleinigkeiten zum Essen
zusteckten, was das Überleben erleichterte. Fast sieben Jahre verbrachte er in
der Taiga.
Im Oktober
1941 begann man die deutschen Frauen zu deportieren. Meta wurde während ihrer
Arbeit aufgefordert nach Hause zu gehen, die Sachen zu packen und sich mit
ihrem Sohn am Sammelpunkt einzufinden. In Kotelnikowo mussten alle den Zug
verlassen und in einen Lastschleppkahn umsteigen, der sie ans Kaspische Meer
brachte, wo sie, verteilt auf drei Schleppkähne, das Meer überquerten. In der
Nacht kreisten russische Bombenflieger tief über ihnen und leuchteten sie mit
Scheinwerfern an. Als deutsche Flugzeuge herannahten, warfen die Russen Bomben
ab. Die im Boot sitzenden durchnässten, hungernden und vor Angst zitternden Russlanddeutschen
wurden nicht getroffen. Es waren aber viele Kinder, Alte und Kranke dabei, von
denen einige schon auf diesem Teil der Reise starben. In Gurjew, der größten
kasachischen Stadt am Kaspischen Meer, verfrachtete man die Überlebenden in
einen Güterzug. Nach etwa 40 Tagen endete der Transport in Ajagus im Gebiet
Semipalatinsk, Kasachstan. Man brachte die Deutschen bei kasachischen Familien
unter. Ein kinderloses Ehepaar päppelte Meta und Willi wieder auf. Beim
Abschied bot es an Willi zu sich zu nehmen. „Der Junge wird es gut bei uns
haben. Du weißt nicht, was mit dir passieren wird“, sagten sie zu Meta, die
natürlich nicht einwilligte.
Meta und
Willi wurden auf die 170 Kilometer entfernte Kolchose Tasbulak gebracht, 70
Kilometer von der Chinesischen Grenze entfernt. Dort hatten sie
Schwerstarbeiten zu verrichten. Meta musste sich zusätzlich gegen die sexistischen
Angriffe der Brigadiers zur Wehr setzen. Rudolf erfuhr erst Monate später von
dem Transport seiner Frau. 1947, nach fast sieben Jahren, erschien er in
Tasbulak und holte Meta und den inzwischen 17-jährigen Willi ab in die
nordkasachische Siedlung Bajanaul/Pawlodar. Man hatte ihn aus dem Iwdel-Gulag
in den Norden Kasachstans geschickt, und die Familienzusammenführung war offiziell
gestattet worden. Im einsamen Dorf Schambak sollte Rudolf mit anderen
zwangsumgesiedelten Russlanddeutschen Holz fällen. Eine Rückkehr in die Heimat
war verboten, aber die Siedler lebten frei, ohne Bewachung in einer
faszinierenden Landschaft.
1949 kommt
Lena Kelm in Schambak auf die Welt.
Lena Kelm deutet in ihrem Bericht die Geschichte
ihrer Vorfahren nur kurz an. Ich habe sie in ihrem Buch nachgelesen und
punktuell nacherzählt, wobei ich mich auf die Schicksale der Großeltern
mütterlicherseits und der Eltern Lenas beschränke. Die russlanddeutsche Verwandtschaft
ist aber durch ihren Kinderreichtum sehr verzweigt, und Lena geht in ihrem Buch
auf die Geschicke vieler anderer Verwandten ein. Darauf verzichte ich hier und
verweise lieber auf ihr Buch. Doch um Lena und das Schicksal der
Russlanddeutschen besser verstehen zu können, halte ich den Blick auf ihre
Vorfahren für unverzichtbar.
1950 wird die nun vierköpfige Familie 70 Kilometer weiter
nach Maikain-Soloto umgesiedelt, einem unwirtlichen Ort in der kasachischen
Steppe, um den Aufbau des ZES (Zentrale Elektrostation) und der Arbeitersiedlung
voranzutreiben. Auch dort sind sie Insassen des Gulags, in dem sie mit vielen
anderen russlanddeutschen Familien, aber auch sesshaft gewordenen Kasachen und
ehemaligen russischen Häftlingen leben. Eine Begebenheit wird Lena nie
vergessen: Als sie als Vierjährige mit der Mutter an der Hand zur
pflichtgemäßen monatlichen Unterschrift beim Kommandanten erscheint, fragt
dieser das Kind, wo es geboren sei. Und Lena erzählt, dass ihre Eltern sie im
Kaukasus in einem Teich unter einem riesigen Walnussbaum gefunden hätten. Lena
wollte in einer schönen Gegend geboren sein, an die man sich gern erinnerte.
Und weil die Eltern immer so vom Kaukasus und dem Walnussbaum schwärmten, aber
über die Steppe schimpften, wählte sie für sich den Kaukasus als Geburtsort.
Lena lebte mit ihren Eltern und dem zwanzigjährigen Bruder
in einem Barackenlager. Ihnen stand eine Wohnung mit zwei Räumen zu, die mit
Öfen beheizt wurden. Einen Wasseranschluss gab es nicht im Ort. Das Wasser
wurde in Zisternen auf Lastwagen geliefert. In der Steppe herrscht
Kontinentalklima mit sehr heißen Sommern und eiskalten, windigen Wintern.
Charakteristisch für die Landschaft ohne Berge, Bäume und Grün ist eine
unendliche Weite. Lediglich in Maikain gibt es seit den 1950er-Jahren einen
kleinen Park. Durch seine Bodenschätze ist das Land sehr reich. Die Kasachen
vertrugen sich gut mit den Deutschen, denn sie sahen sie wie sich selbst als
Minderheit an. Die Russen als ihre Eroberer mochten sie weniger. Lena spielte
mit den Kindern der Kasachen und lernte ihre Lebensgewohnheiten als zur
Sesshaftigkeit gezwungene Nomaden kennen. Im Haus der Eltern herrschten andere
Regeln und Traditionen sowie immer ein liebevoller Umgangston. Die Eltern
sprachen mit den Kindern im Haus Deutsch und achteten auf eine gute deutsche
Erziehung. Draußen wurde Russisch gesprochen. 1954 heiratete Bruder Willi ein
wolgadeutsches Mädchen. Als die Familie 1955 in die 18 Kilometer entfernte Arbeitersiedlung
Maikain-Rudnik versetzt wurde, konnte Willi in der alten Wohnung bleiben.
Maikain war kaum anders als ZES, nur etwas größer und bot
deshalb etwas mehr Möglichkeiten. Das Wasser holte man an einer Pumpe. Es gab
verschiedene Schulen, eine Musikschule, zwei Klubs, Kino, Theater, ein sehr
gutes Krankenhaus mit verschiedenen Fachabteilungen, einen Supermarkt. Die
Siedlung war in verschiedene Gebiete aufgeteilt, wo die einzelnen
Nationalitäten friedlich nebeneinander wohnten: Russen, Kasachen und Deutsche.
Das Gebiet der Kasachen nannten die Russen „Schanghai“, das der Deutschen
„Berlin“. In Maikain ging Lisa zur Schule und machte das Abitur. Später wurde
sie Lehrerin, sogar stellvertretende Schulleiterin, nachdem sie in Omsk Germanistik
und Pädagogik studierte. Berlin bestand aus finnischen Holzhäusern und
Baracken; auch fanden sich einige Häuser aus Stein, später kamen Plattenbauten
hinzu. Es gab den Klub, das Kino, die Klinik und Kindergärten. Die Wohnhäuser
sahen, wie üblich bei deutschen Bauern, gepflegt aus. Die Fensterläden waren
gestrichen, die Fenster geputzt und mit Tüllgardinen verziert, Blumen
schmückten die Fensterbänke und Vorgärten. Shanghai bestand aus Lehmhütten mit
bröckelnden Fassaden und kleinen Fenstern, an die ein Stall angebaut war, und
im Hof lag der Misthaufen. Die Kasachen hielten als frühere Nomaden Schafe,
Ziegen, Hühner, Kühe, Pferde und hatten immer eine Fleischmahlzeit auf dem
Tisch.
Die Jahre in Berlin und in dem finnischen Holzhaus bezeichnet
Lena als die schönsten ihres Lebens. Sie spielte mit den Nachbarskindern in der
freien Umgebung ohne Aufsicht und ohne Gefahren. In der Schule war sie mit
Russinnen und Kasachinnen befreundet. Lena war eine sehr gute Schülerin, die
vor allem den Deutschunterricht genoss. In den Klubs konnten sich Jugendliche
an den verschiedensten kulturellen Projekten beteiligen: Tanz, Theater, Musik.
In der Musikschule lernte Lena das Klavierspiel, gefördert von den Eltern, die
das Unterrichtsgeld dafür aufbrachten. Sie wussten, dass Bildung das wichtigste
Rüstzeug für ihre Kinder ist.
Hier macht Lena einen
Zeitensprung. Sie berichtet über einen Zufall, durch den ihr Vater erfuhr, dass
seine Schwestern noch am Leben seien und in der DDR wohnen würden. Er nahm den
Kontakt mit ihnen auf und durfte sie, inzwischen Rentner, mit Lenas Mutter
besuchen. Dieses war ein einschneidendes Erlebnis. Auch Lena bemühte sich
intensiv um eine Reiseerlaubnis und fuhr insgesamt viermal in die DDR. Zuletzt
mit ihren Zwillingstöchtern. (Sie war inzwischen mit einem Russen verheiratet. Doch
die Ehe ging nicht zuletzt durch die Trunksucht des Ehemannes in die Brüche.)
Die Reisen in die DDR bedeuteten einerseits das Glück, die große Familie zu
entdecken und andererseits zu erleben, dass es ein Leben auch außerhalb der Verbannung
gibt, und zwar ein gutes! In der DDR gab in den Augen Lenas so viel mehr
Reichtum, eine vielfältige Natur, die deutsche Kultur! (Dass es einen Stasi und
keine Freiheit in der DDR gab, erfuhr Lena damals nicht, darüber hatten ihre
Verwandten niemals gesprochen.) Als 1989 der eiserne Vorhang fiel, bemühte sich
Lena um die Ausreise. Doch die bürokratischen Mühlen mahlten langsam. 1991
verstarb der Vater. Im Januar 1993 konnten endlich Lena, ihre Mutter und die
Zwillinge sich ins Flugzeug nach Deutschland setzen.
In Berlin-Neukölln zur
Ruhe gekommen, begann Lena zu recherchieren. Es war für sie ein Schock zu
erfahren, was ihre geliebte alte Heimat wirklich war: ein Gulag. Ein
Arbeitslager! In Maikain lag das Verwaltungszentrum. Nie hatte ihr Vater sie
darüber aufgeklärt, obwohl in ihrer Familie viel gesprochen wurde. Vor allem
die Mutter hat ihr die vielen Familiengeschichten erzählt, die Lena in ihrem
Buch veröffentlichen konnte. Aber der Vater schwieg. Er konnte wohl die für ihn
unerträgliche Situation nicht in Worte fassen. Für mich bleibt die Frage, warum
die Mutter ebenfalls nichts gesagt hat. Hatte sie sich mit der Situation
abgefunden? War das Leben in Maikain für sie normal? „Nie!“ antwortet mir Lena
später. „Meine Mutter schwieg, um mich zu schützen. Sie schwieg aus Angst vor
weiteren Repressalien. Sie schwieg, um die Grausamkeiten zu verdrängen, so wie
tausende Deutsche nach dem Krieg nicht mehr über die Nazizeit sprechen wollten.
In ihren Erinnerungen schrieb sie nach ihrer Ankunft in Deutschland: ‚Erst hier
habe ich aufgehört Angst vor der Polizei zu haben’.
Auch über die
Atomversuche, die in nur 300 Kilometer weiter Entfernung von Maikain
durchgeführt wurden, als Lena Schülerin war, erfuhr Lena erst 1989 im Rahmen
von Glasnost und Perestroika; allerdings gab es nur spärliche Informationen.
Später fand sie heraus, dass zwischen 1949 und 1956 470 oberirdische nukleare
Testsprengungen durchgeführt wurden. Untersuchungen wiesen bei den dort
lebenden Menschen Erbgut-Schädigungen nach. Diese erschreckenden Erkenntnisse
verarbeitete Lena in der Erzählung „Schmetterling“, die sie uns zum Abschluss
vorliest.
Lena Kelm. Schmetterling, in: Lena Kelm. Im Prinzip
gibt es alles. Erzählungen. Berlin, 2016
Lena Kelm. Manchmal dauert ein Weg ein Leben lang. Vom
Gulag nach Berlin. Berlin 2014
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