Sonntag, 6. November 2016

23. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 27. Oktober 2016

Lena Kelm, Kiezbewohnerin, Russlanddeutsche, Autorin

Lena Kelm ist als Russlanddeutsche in Kasachstan aufgewachsen. Seit 1993 lebt sie in Berlin-Neukölln. Der Zerfall der Sowjetunion in den 1990er-Jahren hatte ihrem Leben eine entscheidende Wende gebracht. Über ihre Erlebnissee und die Geschichte ihrer Vorfahren hat Lena Kelm ein Buch geschrieben. Heute wird sie jedoch nicht daraus vorlesen, wie sonst so oft, sondern erzählen. Sie aber beginnt mit einem Lied. Es ist das Wiegenlied „Schlaf Herzenssöhnchen“ von Carl Maria von Weber, aus dem Lenas Mutter „Schlaf Herzenslenchen“ machte und es ihr jeden Abend vorsang. Aus diesem Erleben resultiert Lenas Liebe zur deutschen Sprache, ihrer Muttersprache.

Gesungen wurde viel in den Familien Kelm und Freigang, die als arme und religiös verfolgte Bauern in den Jahren 1862 bis 1864 aus Ostpreußen, Norddeutschland und Schlesien nach Wolhynien in der Ukraine auswanderten. Es waren die Urgroßeltern von Lena Kelm, er Baptist, sie Protestantin. Die günstigen Siedlungsbedingungen, die noch von Zarin Katharina die Große stammten, bedeuteten berechtigte Hoffnungen auf ein besseres Leben. Die Kolonisten sollten weite, ungenutzte Landstriche urbar machen und besiedeln. Dafür erhielten sie besondere Privilegien. Sie waren freie Bauern und konnten Eigentum erwerben.

Die Urgroßeltern siedelten sich im Dorf Solodyri an. Sie rodeten den Wald, errichteten einen Hof, begannen kenntnisreich mit dem Ackerbau, der Obstzüchtung und der Tierhaltung. Sie verkauften die verarbeiteten Produkte und stiegen in wenigen Jahren zu Großbauern auf. Die nächste Generation, die der Großeltern (mütterlicherseits) von Lena, wurde wohlhabend und angesehen. Großvater Freigang besaß 40 Hektar Land und Wald, zwanzig Kühe, unzählbar viele Schweine und jede Menge Federvieh. Er behandelte seine Landarbeiter gut, kümmerte sich um das Wohl des Dorfes und übernahm Patenschaften für Waisenkinder. Man pflegte die deutsche Kultur, ihre Sprache und die Musik. Das gute Leben endete 1914. Im Ersten Weltkrieg bekämpfte Russland das Deutsche Reich. Die deutschen Kolonisten galten plötzlich als Kollaborateure und wurden nach Sibirien verbannt. Während der Deportation starben der Urgroßvater und die Großmutter (väterlicherseits). Lena Kelm erwähnt das Volkslied, das in dieser Zeit entstand und die Vertreibung der Wolhynien-Deutschen beschreibt. Es hat dieselbe Melodie wie das russische Wolgalied. (Sie singt einige Strophen.)


1917 durften die Solodyrianer zurückkehren; die Ukraine war unabhängig geworden. Aber es herrschte ein gefährlicher Bürgerkrieg. Großvater Freigang hatte eine um fast dreißig Jahre jüngere Frau geheiratet, Antonie. Die Ehe, aus der vier Kinder hervorgingen, soll sehr glücklich gewesen sein. Als 1922 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik geründet wurde, beruhigte sich die Lage in Solodyri etwas. Die Großeltern glaubten an eine bessere Zukunft, obwohl ihre älteste Tochter Meta (später Lenas Mutter) als „Kulakentochter“ aus dem Gymnasium verwiesen wurde. Mit „Kulaken“ bezeichnete man nach der Oktoberrevolution 1917 und während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin alle selbstständigen Bauern. Im Rahmen der „Entkulakisierung“ in den Jahren 1929 bis 1932 wurden diese Personen und ihre Angehörigen als Klassenfeinde in Arbeitslager deportiert oder umgebracht. Von Mitte 1937 bis Ende 1938 wurden die Kulaken im Zuge des "Großen Terrors" erneut zu Hunderttausenden erschossen, in Gefängnisse gesteckt oder in die Lager des Gulag deportiert.

Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes schonten die Bolschewiki den Großvater. Aber er hielt die Repressalien in Form von immer höheren Steuern und drohenden Enteignungen nicht mehr aus und starb 1929 in den Armen seines Schwiegersohns Rudolf Kelm. Dieser hatte kurz zuvor dessen Tochter Meta geheiratet, die zum Zeitpunkt der Hochzeit 16 Jahre alt war. Es war, wie zu dieser Zeit durchaus üblich, eine arrangierte Ehe. Allerdings soll Rudolf wirklich verliebt in Meta gewesen sein und warb um sie. Meta war zu jung, um eigene Entscheidungen zu treffen, aber sie mochte Rudolf, meint Lena Kelm und betont, dass sie nie ein glücklicheres Ehepaar kennengelernt hat als ihre Eltern. Die verwitwete Großmutter Antonie heiratete einen braven Bauern aus dem Dorf, der Metas Stiefvater (Lenas Stief-Großvater) wurde.

Nach 1929 begannen die Enteignungen in Wolhynien. Bald konnte man in den Hofläden in Wolhynien außer Salz und Wodka nichts mehr kaufen. Auf dem Land gab es keine Arbeit mehr. Die Menschen hungerten. Die meisten Deutschen versuchten in ihre alte Heimat zurückzukehren, so auch die drei Schwestern von Rudolf Kelm. Sie hatten junge Reichsdeutsche geheiratet und dadurch die Staatsbürgerschaft erhalten. Vater Kelm hatte die deutsche Staatsbürgerschaft verloren, weil er die entsprechenden Zahlungen nicht mehr leisten konnte. Deshalb blieb Rudolf und seiner Frau Meta die Übersiedelung ins Deutsche Reich verwehrt.

Rudolf Kelm wurde ebenfalls als Kulak verfolgt. In den Jahren 1929 und 1933 bis 1937 wurde er mehrmals verhaftet. Doch immer wieder gelang ihm die Flucht. Jahrelang lebte er in den verschiedensten Verstecken und konnte seine Frau nur heimlich treffen. 1930 kam ihr Sohn Willi Kelm zur Welt. Meta arbeitete für kurze Zeit in einer Kolchose, wurde aber dort ausgeschlossen und zog in das russische Dorf Toporysch. Rudolf folgte ihr unbemerkt. Er war ein guter Handwerker und versuchte sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten. Die Hungersnot 1933 überlebte die Familie dank des geretteten Familienschmucks. Vom eingetauschten Geld konnte Meta die notwendigsten Lebensmittel im staatlichen Einkaufsladen Torgsib erstehen.

Als das Ausweissystem eingeführt würde, mussten Rudolf und Meta das Dorf Toporysch Hals über Kopf verlassen. In der Stadt Shitomir in Wolhynien fand Meta Arbeit in einer Strumpffabrik, wo sie von 1934 bis Anfang 1938 beschäftigt war. Dort erhielten sie beide Ausweise mit einer Gültigkeit von drei Jahren. Aber der NKWD (das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) nahm Rudolf erneut fest. Nach vier Monaten floh Rudolf mit Hilfe eines früheren Knechtes aus dem Gefängnis. Dann kehrte er heimlich zurück zu seiner Familie, die gemeinsam mit Großmutter Antonie, ihrem zweiten Mann und ihren drei Kindern in Shitomir lebte. Doch bald musste Rudolf wieder die Flucht antreten. Meta zog vor Kriegsbeginn zurück nach Solodery, weil sie die schlechte Behandlung der Juden in Shitomir nicht ertragen konnte. (Shitomir wurde im Juli 1942 von der deutschen Wehrmacht besetzt. Kurz darauf begannen deutsche Einheiten aus SS und Wehrmacht Juden zu terrorisieren und in mehreren „Aktionen“ zu erschießen.)

Die Schicksale der anderen Mitglieder der Familien Kelm und Freigang seien hier nur kurz zusammengefasst: Im Krieg gelang es Antonie und ihren Kindern mit einem Treck deutscher Soldaten, die auf dem Rückzug waren, nach Breslau zu fliehen. Fast zwei Jahre verbrachten sie im Kloster Trebnitz bei Breslau. Zum Kriegsende wurden die Söhne Otto und Leo in die Wehrmacht eingezogen und gerieten für 10 Jahre in die russische Gefangenschaft. Antonie und Schwägerin Linda mit ihrem Sohn Willi flüchteten mit tausenden Deutschen vor der Sowjetarmee bis in die Tschechei. Von dort aus wurden sie nach Sibirien verschleppt. „Somit war meine Familie auf die ganze Sowjetunion verteilt worden: meine Eltern in Kasachstan, Großmutter in Sibirien, zwei Onkel in Gulags im Osten und Norden Russlands. Bis 1956 wussten sie nichts voneinander; ob sie zum Beispiel noch am Leben sind“, sagt Lena Kelm.

1937 begannen erneut massenhafte Verhaftungen in der Ukraine. Meta, diesmal hochschwanger, und  Rudolf fanden Schutz im Haus eines Juden. Eines Nachts klopfte die Polizei an die Tür. Der Jude gab den beiden ein Zeichen. Rudolf sprang aus dem Fenster und verschwand. Drei Tage später kam Tochter Sina zur Welt. In demselben Jahr verhaftete man den Stiefvater ohne Gründe. Er kam nie wieder frei und wurde vermutlich hingerichtet. Rudolfs Flucht verlief entlang der Kursker Eisenbahnlinie, die bis zum Kaukasus führte. Ende 1937 ließ der politische Druck etwas nach, so dass Rudolf in Nikolaewka, einem Kurort im Kaukasus, eine Arbeit als Tischler und sogar einen Pass bekam.

Weil nun der NKWD hinter Meta her war, um den Aufenthaltsort ihres Mannes zu erfahren, flüchtete sie mit den Kindern aus Shitomir zu ihrem Mann nach Nikolaewka. In diesem angenehmen Ort, wo es das ganze Jahr über grünte und blühte, war die Familie endlich vereint, und es kehrte ein wenig Normalität ein. Im Hof stand ein Walnussbaum, an den sich die Familie noch viele Jahre später erinnerte. Meta arbeitete in der Küche eines Waisenhauses. Willi ging zur Schule. Als die kleine Sina 1938 an Scharlach verstarb, konnten sie füreinander da sein.

Im Juni 1941 fiel Deutschland in die Sowjetunion ein. Stalin antwortete Ende August mit seinem Erlass (Ukas) über die Deportation aller männlichen Russlanddeutschen zwischen 15 und 55 Jahren in Arbeitslager. Frauen, Alte und Kinder sollten nach Sibirien oder Kasachstan gebracht werden. Stalin stellte die Russlanddeutschen unter den Generalverdacht der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland und wollte sich auf diese Weise an Hitler rächen. Als Rudolf eingezogen wurde, konnte er diese Zusammenhänge noch nicht überblicken. Die Männer glaubten, als Soldaten an die Front geschickt zu werden, um die Heimat zu verteidigen. Zusammengepfercht in einem Viehwagen fuhr sie der Zug wochenlang nach Norden. In Nordsibirien wurden sie im Iwdel-Gulag interniert und mussten in der Taiga schwerste Holzarbeiten verrichten. Jeden Tag ging es ums Überleben. Da Rudolf geschickte Hände hatte, setzte man ihn in der kleinen Stadt Iwdel als Hausbauer ein, wo ihm die Ehefrauen der Chefs manchmal Kleinigkeiten zum Essen zusteckten, was das Überleben erleichterte. Fast sieben Jahre verbrachte er in der Taiga.

Im Oktober 1941 begann man die deutschen Frauen zu deportieren. Meta wurde während ihrer Arbeit aufgefordert nach Hause zu gehen, die Sachen zu packen und sich mit ihrem Sohn am Sammelpunkt einzufinden. In Kotelnikowo mussten alle den Zug verlassen und in einen Lastschleppkahn umsteigen, der sie ans Kaspische Meer brachte, wo sie, verteilt auf drei Schleppkähne, das Meer überquerten. In der Nacht kreisten russische Bombenflieger tief über ihnen und leuchteten sie mit Scheinwerfern an. Als deutsche Flugzeuge herannahten, warfen die Russen Bomben ab. Die im Boot sitzenden durchnässten, hungernden und vor Angst zitternden Russlanddeutschen wurden nicht getroffen. Es waren aber viele Kinder, Alte und Kranke dabei, von denen einige schon auf diesem Teil der Reise starben. In Gurjew, der größten kasachischen Stadt am Kaspischen Meer, verfrachtete man die Überlebenden in einen Güterzug. Nach etwa 40 Tagen endete der Transport in Ajagus im Gebiet Semipalatinsk, Kasachstan. Man brachte die Deutschen bei kasachischen Familien unter. Ein kinderloses Ehepaar päppelte Meta und Willi wieder auf. Beim Abschied bot es an Willi zu sich zu nehmen. „Der Junge wird es gut bei uns haben. Du weißt nicht, was mit dir passieren wird“, sagten sie zu Meta, die natürlich nicht einwilligte.

Meta und Willi wurden auf die 170 Kilometer entfernte Kolchose Tasbulak gebracht, 70 Kilometer von der Chinesischen Grenze entfernt. Dort hatten sie Schwerstarbeiten zu verrichten. Meta musste sich zusätzlich gegen die sexistischen Angriffe der Brigadiers zur Wehr setzen. Rudolf erfuhr erst Monate später von dem Transport seiner Frau. 1947, nach fast sieben Jahren, erschien er in Tasbulak und holte Meta und den inzwischen 17-jährigen Willi ab in die nordkasachische Siedlung Bajanaul/Pawlodar. Man hatte ihn aus dem Iwdel-Gulag in den Norden Kasachstans geschickt, und die Familienzusammenführung war offiziell gestattet worden. Im einsamen Dorf Schambak sollte Rudolf mit anderen zwangsumgesiedelten Russlanddeutschen Holz fällen. Eine Rückkehr in die Heimat war verboten, aber die Siedler lebten frei, ohne Bewachung in einer faszinierenden Landschaft.

1949 kommt Lena Kelm in Schambak auf die Welt.

Lena Kelm deutet in ihrem Bericht die Geschichte ihrer Vorfahren nur kurz an. Ich habe sie in ihrem Buch nachgelesen und punktuell nacherzählt, wobei ich mich auf die Schicksale der Großeltern mütterlicherseits und der Eltern Lenas beschränke. Die russlanddeutsche Verwandtschaft ist aber durch ihren Kinderreichtum sehr verzweigt, und Lena geht in ihrem Buch auf die Geschicke vieler anderer Verwandten ein. Darauf verzichte ich hier und verweise lieber auf ihr Buch. Doch um Lena und das Schicksal der Russlanddeutschen besser verstehen zu können, halte ich den Blick auf ihre Vorfahren für unverzichtbar.

1950 wird die nun vierköpfige Familie 70 Kilometer weiter nach Maikain-Soloto umgesiedelt, einem unwirtlichen Ort in der kasachischen Steppe, um den Aufbau des ZES (Zentrale Elektrostation) und der Arbeitersiedlung voranzutreiben. Auch dort sind sie Insassen des Gulags, in dem sie mit vielen anderen russlanddeutschen Familien, aber auch sesshaft gewordenen Kasachen und ehemaligen russischen Häftlingen leben. Eine Begebenheit wird Lena nie vergessen: Als sie als Vierjährige mit der Mutter an der Hand zur pflichtgemäßen monatlichen Unterschrift beim Kommandanten erscheint, fragt dieser das Kind, wo es geboren sei. Und Lena erzählt, dass ihre Eltern sie im Kaukasus in einem Teich unter einem riesigen Walnussbaum gefunden hätten. Lena wollte in einer schönen Gegend geboren sein, an die man sich gern erinnerte. Und weil die Eltern immer so vom Kaukasus und dem Walnussbaum schwärmten, aber über die Steppe schimpften, wählte sie für sich den Kaukasus als Geburtsort.

Lena lebte mit ihren Eltern und dem zwanzigjährigen Bruder in einem Barackenlager. Ihnen stand eine Wohnung mit zwei Räumen zu, die mit Öfen beheizt wurden. Einen Wasseranschluss gab es nicht im Ort. Das Wasser wurde in Zisternen auf Lastwagen geliefert. In der Steppe herrscht Kontinentalklima mit sehr heißen Sommern und eiskalten, windigen Wintern. Charakteristisch für die Landschaft ohne Berge, Bäume und Grün ist eine unendliche Weite. Lediglich in Maikain gibt es seit den 1950er-Jahren einen kleinen Park. Durch seine Bodenschätze ist das Land sehr reich. Die Kasachen vertrugen sich gut mit den Deutschen, denn sie sahen sie wie sich selbst als Minderheit an. Die Russen als ihre Eroberer mochten sie weniger. Lena spielte mit den Kindern der Kasachen und lernte ihre Lebensgewohnheiten als zur Sesshaftigkeit gezwungene Nomaden kennen. Im Haus der Eltern herrschten andere Regeln und Traditionen sowie immer ein liebevoller Umgangston. Die Eltern sprachen mit den Kindern im Haus Deutsch und achteten auf eine gute deutsche Erziehung. Draußen wurde Russisch gesprochen. 1954 heiratete Bruder Willi ein wolgadeutsches Mädchen. Als die Familie 1955 in die 18 Kilometer entfernte Arbeitersiedlung Maikain-Rudnik versetzt wurde, konnte Willi in der alten Wohnung bleiben.

Maikain war kaum anders als ZES, nur etwas größer und bot deshalb etwas mehr Möglichkeiten. Das Wasser holte man an einer Pumpe. Es gab verschiedene Schulen, eine Musikschule, zwei Klubs, Kino, Theater, ein sehr gutes Krankenhaus mit verschiedenen Fachabteilungen, einen Supermarkt. Die Siedlung war in verschiedene Gebiete aufgeteilt, wo die einzelnen Nationalitäten friedlich nebeneinander wohnten: Russen, Kasachen und Deutsche. Das Gebiet der Kasachen nannten die Russen „Schanghai“, das der Deutschen „Berlin“. In Maikain ging Lisa zur Schule und machte das Abitur. Später wurde sie Lehrerin, sogar stellvertretende Schulleiterin, nachdem sie in Omsk Germanistik und Pädagogik studierte. Berlin bestand aus finnischen Holzhäusern und Baracken; auch fanden sich einige Häuser aus Stein, später kamen Plattenbauten hinzu. Es gab den Klub, das Kino, die Klinik und Kindergärten. Die Wohnhäuser sahen, wie üblich bei deutschen Bauern, gepflegt aus. Die Fensterläden waren gestrichen, die Fenster geputzt und mit Tüllgardinen verziert, Blumen schmückten die Fensterbänke und Vorgärten. Shanghai bestand aus Lehmhütten mit bröckelnden Fassaden und kleinen Fenstern, an die ein Stall angebaut war, und im Hof lag der Misthaufen. Die Kasachen hielten als frühere Nomaden Schafe, Ziegen, Hühner, Kühe, Pferde und hatten immer eine Fleischmahlzeit auf dem Tisch.

Die Jahre in Berlin und in dem finnischen Holzhaus bezeichnet Lena als die schönsten ihres Lebens. Sie spielte mit den Nachbarskindern in der freien Umgebung ohne Aufsicht und ohne Gefahren. In der Schule war sie mit Russinnen und Kasachinnen befreundet. Lena war eine sehr gute Schülerin, die vor allem den Deutschunterricht genoss. In den Klubs konnten sich Jugendliche an den verschiedensten kulturellen Projekten beteiligen: Tanz, Theater, Musik. In der Musikschule lernte Lena das Klavierspiel, gefördert von den Eltern, die das Unterrichtsgeld dafür aufbrachten. Sie wussten, dass Bildung das wichtigste Rüstzeug für ihre Kinder ist.

Hier macht Lena einen Zeitensprung. Sie berichtet über einen Zufall, durch den ihr Vater erfuhr, dass seine Schwestern noch am Leben seien und in der DDR wohnen würden. Er nahm den Kontakt mit ihnen auf und durfte sie, inzwischen Rentner, mit Lenas Mutter besuchen. Dieses war ein einschneidendes Erlebnis. Auch Lena bemühte sich intensiv um eine Reiseerlaubnis und fuhr insgesamt viermal in die DDR. Zuletzt mit ihren Zwillingstöchtern. (Sie war inzwischen mit einem Russen verheiratet. Doch die Ehe ging nicht zuletzt durch die Trunksucht des Ehemannes in die Brüche.) Die Reisen in die DDR bedeuteten einerseits das Glück, die große Familie zu entdecken und andererseits zu erleben, dass es ein Leben auch außerhalb der Verbannung gibt, und zwar ein gutes! In der DDR gab in den Augen Lenas so viel mehr Reichtum, eine vielfältige Natur, die deutsche Kultur! (Dass es einen Stasi und keine Freiheit in der DDR gab, erfuhr Lena damals nicht, darüber hatten ihre Verwandten niemals gesprochen.) Als 1989 der eiserne Vorhang fiel, bemühte sich Lena um die Ausreise. Doch die bürokratischen Mühlen mahlten langsam. 1991 verstarb der Vater. Im Januar 1993 konnten endlich Lena, ihre Mutter und die Zwillinge sich ins Flugzeug nach Deutschland setzen.

In Berlin-Neukölln zur Ruhe gekommen, begann Lena zu recherchieren. Es war für sie ein Schock zu erfahren, was ihre geliebte alte Heimat wirklich war: ein Gulag. Ein Arbeitslager! In Maikain lag das Verwaltungszentrum. Nie hatte ihr Vater sie darüber aufgeklärt, obwohl in ihrer Familie viel gesprochen wurde. Vor allem die Mutter hat ihr die vielen Familiengeschichten erzählt, die Lena in ihrem Buch veröffentlichen konnte. Aber der Vater schwieg. Er konnte wohl die für ihn unerträgliche Situation nicht in Worte fassen. Für mich bleibt die Frage, warum die Mutter ebenfalls nichts gesagt hat. Hatte sie sich mit der Situation abgefunden? War das Leben in Maikain für sie normal? „Nie!“ antwortet mir Lena später. „Meine Mutter schwieg, um mich zu schützen. Sie schwieg aus Angst vor weiteren Repressalien. Sie schwieg, um die Grausamkeiten zu verdrängen, so wie tausende Deutsche nach dem Krieg nicht mehr über die Nazizeit sprechen wollten. In ihren Erinnerungen schrieb sie nach ihrer Ankunft in Deutschland: ‚Erst hier habe ich aufgehört Angst vor der Polizei zu haben’.

Auch über die Atomversuche, die in nur 300 Kilometer weiter Entfernung von Maikain durchgeführt wurden, als Lena Schülerin war, erfuhr Lena erst 1989 im Rahmen von Glasnost und Perestroika; allerdings gab es nur spärliche Informationen. Später fand sie heraus, dass zwischen 1949 und 1956 470 oberirdische nukleare Testsprengungen durchgeführt wurden. Untersuchungen wiesen bei den dort lebenden Menschen Erbgut-Schädigungen nach. Diese erschreckenden Erkenntnisse verarbeitete Lena in der Erzählung „Schmetterling“, die sie uns zum Abschluss vorliest.

Lena Kelm. Schmetterling, in: Lena Kelm. Im Prinzip gibt es alles. Erzählungen. Berlin, 2016
Lena Kelm. Manchmal dauert ein Weg ein Leben lang. Vom Gulag nach Berlin. Berlin 2014

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