Donnerstag, 20. Oktober 2016

22. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 13. Oktober 2016


Dr. Martin Steffens - Das Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“

Dr. Marin Steffens, der engagierte und vielbeschäftigte Kunstmanager, zögert nicht lange mit seiner Zusage das Erzählcafé zu besuchen. Er ist (gemeinsam mit Thorsten Schlenger) Leiter des Kunstfestivals „48 Stunden Neukölln“, das seit 19 Jahren besteht. 2008 stieg er als künstlerischer Leiter ein, 2009 wurde ihm die Gesamtleitung übertragen.

Angefangen hat alles im Jahr 2004. Martin Steffens arbeitet seit mehreren Jahren an seiner Dissertation und sehnt sich nach sozialen Kontakten. Bei einem Besuch des Kunst- und Kulturfestivals „48 Stunden Neukölln“ fällt ihm das Projekt „kunstraum t27“ in der Thomasstraße besonders auf. Die Ausstellung in diesen Räumen spricht ihn an. Er erfährt, dass immer wieder Künstlerinnen und Künstler gesucht werden, die im kunstraum t27 eine Ausstellung machen wollen. Das ist seine Chance aus der wissenschaftlichen Isolation herauszukommen! Er bewirbt sich und kann, gemeinsam mit einem Künstler und einer Künstlerin (Susann Kramer, die später mit ihm Vorstandsvorsitzende des neu gegründeten Kunstvereins wird), seine Arbeiten präsentieren. Die drei haben ihren Spaß und sind dabei erfolgreich. Ende 2005 wird Martin die Projektleitung angeboten. Der kunstraum t27 ist vom Kulturnetzwerk Neukölln e.V. gegründet worden, um Projekte für Künstler zu schaffen, die sonst nicht von ihrer Arbeit existieren können. Viele Neuköllner Kunstschaffende leben von Hartz IV, und sie sollen durch geförderte Projekte wieder den Anschluss an das Geldverdienen bekommen.

Martins künstlerische Tätigkeit beginnt jedoch mehr als 15 Jahre früher mit dem Zivildienst nach dem Abitur. Seine Nachtwachen im Bereich der Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung lassen ihm großzügig bemessene freie Zeit; er beginnt zu malen. Er wünscht sich eine künstlerische Ausbildung und bewirbt sich an der Kunstakademie in Düsseldorf, aber gleichzeitig an der Universität Münster, um alternativ Kunstgeschichte studieren zu können. Düsseldorf lehnt ab, Münster sagt zu. „Damit wurde die erste Weiche für meine berufliche Laufbahn gestellt“, meint Martin Steffens. Das Fach Kunstgeschichte gefällt ihm sehr. Dennoch sorgt er dafür, dass neben dem Kunstgeschichtsstudium und den späteren wissenschaftlichen Publikationen sowie kuratorischen Arbeiten seine kreative Seite nicht vernachlässigt wird. 1991 zieht Martin nach Berlin, um dort das Studium fortzusetzen. Er ist begeistert, was Berlin alles zu bieten hat und fühlt sich sofort zu Hause. In der Neuköllner Weserstraße findet er ein günstiges WG-Zimmer, später wechselt er in die Richardstraße.

Als die Förderung für das Projekt im kunstraum t27 Ende 2007 nach zwei Jahren ausläuft und der Projektraum geschlossen werden soll, gründen Künstler und interessierte den Verein „kunstraum t27 e.V.“, ab 2011 „Kunstverein Neukölln e.V.“, um einen Rahmen für ihre vielfältigen Aktivitäten in Nord-Neukölln zu haben. Vorsitzende sind Martin Steffens und Susann Kramer. Martin übernimmt die Leitung des Festivals „48 Stunden Neukölln“. Die Vorgängerin, Ilka Normann, wird Geschäftsführerin des Kulturnetzwerks. (Im 1995 gegründeten Kulturnetzwerk Neukölln e.V. finden sich öffentliche Einrichtungen, private Träger, Vereine und Initiativen zu kultureller Stadtteilarbeit zusammen. Über die notwendigen Ressourcen in der Kultur sollen sinnvolle Tätigkeiten für Arbeitslose geschaffen werden. Das Kulturnetzwerk Neukölln zählt zurzeit 59 Mitglieder.) Im ersten Jahr 2008 teilen sich Martin Steffens und Ilka Normann die Führung der „48 Stunden“, so dass Martin in die „Geheimnisse der Festivalleitung“ eingeführt werden kann. Seit 2009 ist Martin alleiniger Festivalleiter. 2013 kommt Thorsten Schlenger hinzu, so dass es jetzt erstmals zwei feste Leiter gibt.

Ende 2015 muss der Kunstverein aus der Thomasstraße ausziehen. Neukölln hat sich in der Zwischenzeit verändert. Es ist jetzt schick, in Nord-Neukölln zu wohnen. Vor allem Studenten und junge, kreative Menschen fühlen sich angezogen. Damit steigen die Mieten. Das Haus Thomasstraße 27 wird verkauft; der neue Eigentümer will die Einheiten teuer veräußern. Die Erdgeschossfläche wird derzeit unsaniert für „wahnwitzige 430.000 €“ angeboten. Da kann der Kunstverein Neukölln nicht mithalten. Er findet sein neues Domizil in der Mainzer Straße 42. Für den Körnerkiez, in dem die Thomasstraße liegt, ist es ein großer Verlust. Vom kunstraum t27 gingen wichtige Impulse aus. Zehn Jahre lang hat sich Martin an Ausstellungen und Kunstaktionen im Kiez und im Körnerpark beteiligt. Sechs Jahre lang konnte er als Mitglied im Quartiersrat an Verbesserungsmaßnahmen für den Stadtteil mitwirken.

Das Festival „48 Stunden Neukölln“ wird vom Kulturnetzwerk Neukölln organisiert und besteht seit 1999. Ursprünglich ist es eine Reaktion auf die negative Berichterstattung über Nord-Neukölln, den Berliner Bezirk mit dem schlechtesten Ruf, die „Bronx von Berlin“. „Im Arbeiterbezirk Neukölln zeigen Verwahrlosung, Gewalt und Hunger den sozialen Niedergang an“, schreibt zum Beispiel 1997 Der Spiegel und gibt eine erschreckende Analyse über den Norden Neuköllns ab. Mit dem Festival, das für ein Wochenende im Juni von Freitag 19 Uhr bis Sonntag 19 Uhr vorgesehen ist, wollen Kulturschaffende, engagierte Bürger und die lokale Kulturverwaltung einen Gegenpol schaffen, um die vielfältigen sozialen Akteure in Erscheinung zu bringen und einen Austausch anzuregen. Auch prangern sie drastische Mittelkürzungen im Bereich Kultur an. Neben den etablierten Kunstinstitutionen sollen sich private und öffentliche Räume für künstlerische Projekte öffnen.

In den ersten Jahren gibt es noch einen relativ hohen Etat, von dem ein großes Straßenfest auf der Karl-Marx-Straße mit zahlreichen Bühnen und viel Musik veranstaltet wird sowie ein dezentrales Kunstprogramm. Das Dezentrale wird in den ersten zehn Jahren stärker herausgearbeitet, das Straßenfest dagegen verworfen – auch weil die Finanzierung dafür wegbricht. Eine Ausnahme macht „Kiez International“ mit dem Bühnenprogramm der „Bewegten Welten“, das die Werkstatt der Kulturen organisiert und ein begeistertes Publikum hat. Auf dem Richardplatz kommen viele internationale Kulturvereine zusammen, die von in Neukölln lebenden ausländischen Gastarbeitern gegründet wurden: Griechen, Türken, Kurden, Serben etc. Diese bereichern es mit landestypischen Speisen, folkloristischer Musik und Volkstänzen. Im Lauf der Jahre werden die Initiatoren aber älter und es findet sich immer weniger Nachwuchs für dieses Fest.

Viele in Berlin Geborene möchten weiterhin ihre nationale Identität pflegen, auch wenn sie sich primär als Berliner oder Neuköllner empfinden. Aber die konkrete Identität scheint einer eher „diffusen Form des Postmigrantischen“ gewichen zu sein. Viele der in der dritten Generation hier Lebenden wollen als Angekommene wahrgenommen und nicht nur als Kurden, Griechen oder Türken angesprochen werden. Auch wenn es immer wieder Förderungen für „migrantische Kunst“ gibt, verstehen sich viele der etablierten Künstlerinnen und Künstler als international arbeitend. Eine Reduktion auf ihren Status „Migrant“ lehnen viele ab. 

Andererseits weiß Martin, dass es zum Beispiel eine türkisch-kurdische Kunstszene in Neukölln gibt, die sich bislang nicht ausreichend an den „48 Stunden“ beteiligt. Martin und sein Team wollten erfahren, woran das liegt und was die Festivalleitung tun muss, um auch von diesen Künstlern wahrgenommen zu werden. Nach einem Vernetzungstreffen mit einigen Vertretern dieser Community konnte exemplarisch festgestellt werden, dass hier eine dezidierte Einladung ausgesprochen werden muss. Im Festival 2017 werden deshalb aus dieser Gruppe wesentlich mehr Aktive teilnehmen.

Seit 2001 versuchen die Organisatoren der „48 Stunden Neukölln“ die selbstbestimmten künstlerischen Angebote stärker zu koordinieren und ihnen einen inhaltlichen Rahmen zu geben. Durch eine klare Profilierung wollen sie die Qualität steigern und neue Künstler nach Neukölln holen. Seit 2004 beschränkt sich das Festival auf Nord-Neukölln. 2005 werden in verschiedenen Kiezen „Kunstfilialen“ eingerichtet, um die Künstler und ihre Aktivitäten besser im Sinne des Netzwerkgedankens zusammenzuführen. Doch das Festival mit seinen vielen dezentralen Veranstaltungsorten weitet sich aus, bis es von den Verantwortlichen fast nicht mehr gesteuert werden kann. Es gibt auch nicht mehr Geld. Und es droht die Gefahr, dass es langweilig wird, weil manche Künstler immer wieder ähnliche Arbeiten ausstellen. Im Jahr 2010 gibt es 350 Orte mit 800 Veranstaltungen. Nach der Überarbeitung des Konzeptes sind es seit 2015 nur noch 250 Orte mit 400 Veranstaltungen. Damit ist die Professionalität gesteigert und die Organisationsstruktur angepasst worden.

Das Team besteht jetzt aus zwei Leitern, acht Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie vier selbstständig arbeitenden „Vernetzungspatinnen“, die die Aufgabe der inzwischen wieder abgeschafften Kunstfilialen übernehmen, nämlich die Entwicklung in den Kiezen und seinen Künstlern zu beobachten und zu registrieren. Punktuell kommen noch weitere Leute hinzu. Dieses Team, das das ganze Jahr zur Verfügung steht, arbeitet professionell. Es sorgt für die Finanzierung, die Öffentlichkeitsarbeit, für die Webseite und für die richtige Struktur, in der sich kulturelle Vielfalt entwickeln kann.

Die teilnehmenden Künstler arbeiten in der Regel ehrenamtlich. Sie können sich allerdings auf eine professionelle Organisationsstruktur verlassen, die das Festival ihnen bietet. Jedermann kann sich mit einem Projekt bewerben. Man muss kein ausgebildeter Kunstschaffender sein. Insofern hat das „48 Stunden“-Neukölln-Festival eine Sonderstellung unter den Kunstfesten, die meistens Hochkultur präsentieren wollen und möglichst bekannte Künstler präsentieren. Dafür bekommen sie einen riesigen Etat. „48 Stunden Neukölln“ ist extrem niedrig finanziert und hat auch gar kein Interesse, so exklusiv zu werden. Allerdings ist es ein Traum, Künstler für ihre Arbeit auch bezahlen zu können. Doch dafür fehlt bei weitem das Budget.

Das Festival will den Stadtteil zeigen und was die Künstler darin zu sagen haben – und was internationale Kunst präsentiert, die auf den Stadtteil bezogen ist. Das heißt, hinter dem Festival steht ein Konzept, dass sich auf Nord-Neukölln festlegt, um dort gemeinsam mit den Akteuren „beglückend“ Kunst zu produzieren. Was das bedeutet, muss in jedem Jahr neu definiert werden. Das Team hat die Aufgabe, die Entwicklung Neuköllns zu sehen, sogar vorwegzunehmen und dafür zu sorgen, dass das Festival jedes Jahr unter ein passendes und herausforderndes Thema gestellt wird.

Bei der Themenfindung für das Jahr 2016 gingen nach einem Aufruf 70 Vorschläge ein, die eine 14-köpfige Jury begutachtete. Es war ein spanischer Künstler, der eine überzeugende Begründung für SATT lieferte, das als Thema gewählt wurde. Er wollte das Phänomen einer übersättigten und zugleich unbefriedigten Gesellschaft untersuchen lassen. „Das Thema des kommenden Jahres wird SCHATTEN sein“, verrät Martin und erwartet vielfältige Assoziationen und Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft und der gegenwärtigen Politik.

Zum Anmelden gibt es drei Sparten: Ateliers, Kunsträume, Führungen. Die Ateliers und Kunsträume sind als Orte, an denen Kunst gemacht wird, das Rückgrat Nord-Neuköllns. Sie zeigen das, was bei ihnen gerade aktuell ist, unabhängig vom Jahresthema. In der Regel kommen etwa 100 Veranstaltungen zusammen. Das eigentliche Kunstfestival ist der wichtigste Teil. Dafür gibt es ein Bewerbungsverfahren. Die einzige Bedingung ist, dass sich das vorgeschlagene Projekt auf das Jahresthema beziehen muss und in Nord-Neukölln realisiert wird. Eine Jury spricht die Empfehlungen aus. Überzeugt ein Konzept, schaut das Organisationsteam, ob es vielleicht extern finanziert und an welchem Ort es am besten präsentiert werden kann. Hier ist die kreative Leistung des Teams gefragt. Ein kleines Risiko ist dabei, wenn man beispielsweise den Künstler noch nicht kennt und weiß, wie er oder sie arbeitet: Wird ihm die Umsetzung seines Konzeptes wirklich gelingen?

Das Programm für Kinder und Jugendliche wurde vor vier Jahren ausgegliedert und findet unter dem Namen „Junge Kunst Neukölln“ zur selben Zeit statt. Wichtigster Partner ist das Young Arts Neukölln. Das Jahresthema will man kindgerecht ausdrücken. 2014 zum Beispiel wurde das Thema COURAGE für die Kinder in MUT übersetzt. 2017 wird es LICHT sein, das Gegenteil von SCHATTEN. Für die Zukunft suchen die Veranstalter nach einem Ort, wo alle Aktivitäten der „Jungen Kunst“ zusammengefasst werden können

Das Festival „48 Stunden Neukölln“ präsentiert nicht nur bildende Kunst sondern auch Musik, Literatur, interdisziplinärer Tanz, Videoprojektionen. Neben dem Jahresthema gibt es weitere jährlich unterschiedliche Schwerpunkte, um die Festivaljahre unterscheidbar zu machen. Da es sich um eine Großveranstaltung handelt, muss das Ordnungsamt über strenge Sicherheitsauflagen wachen. Es gibt keine Open-Air-Bühne mehr, und nach 18 Uhr ist elektronisch verstärkte Musik im Außenraum verboten. Martin bedauert diese Einschränkungen und weist auf den positiven Effekt des Festes hin. 2016 haben sich mehr als 1200 Künstler an 250 Orten mit dem Thema SATT beschäftigt und bis zu 80.000 Besucher angelockt, die Nord-Neukölln mit seinen Galerien, Ateliers und Hinterhöfen entdecken wollten. Das Kunstfestival hat in den vergangenen 18 Jahren dazu beigetragen, das Image Neuköllns zu verbessern, indem es die positive Seite seiner Vielfältigkeit aufgezeigt und Entwicklungen ermöglicht hat. Wie es sich verändert, wenn die Aufwertung durch die starke Nachfrage nach Wohnraum weiter zunimmt und auch Atelierplätze knapp werden, wird sich zeigen. Das könnte im Rahmen eines neuen Jahresthemas behandelt werden.


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