21. Erzählcafé
Niemals ein
freiberuflicher Schriftsteller sein!
„Meine Leidenschaft
ist das Schreiben“, erklärt uns Norbert Büttner und legt einen Stapel Bücher
auf den Tisch. Vier verschiedene Bände mit seinen Gedichten und Kurzgeschichten
sind in den letzten Jahren erschienen. Er trägt das Gedicht „Neukölln“ vor und
liest anschließend einen Abschnitt aus der Erzählung „Das Haus“. Wir spüren das
Feuer hinter seinen Worten.
Norbert Büttner stammt aus der thüringischen Kleinstadt Großbreitenbach
in der ehemaligen DDR. Dort wird er 1962 geboren. Dort wächst er auf, besucht
die Schule und lässt sich zum Elektriker ausbilden. In Großbreitenbach gibt es
nicht viel Zerstreuung. Die Winter sind lang und die Sommer nicht besonders
warm, denn die Stadt liegt etwa 600 Meter hoch. Norbert ist ein schüchterner
Junge und hat nur wenige Freunde. In der Schule fällt er nicht auf. So übt er
sich schon als Kind im Schreiben von Gedichten. Für seine Mutter bastelt er
einen Kalender für die Küche und versieht jeden Monat mit einem handgeschriebenen
Rezept. Als Zwölfjähriger gibt er eine selbst gestaltete Zeitung mit eigenen
Geschichten und Gedichten heraus.
Im Jahr 1979 schließt Norbert die Schule ab und hat lange
Sommerferien vor sich, bevor er mit der Lehre beginnt. Seit längerer Zeit
verfolgt er im Feuilleton der „Wochenpost“ die Beiträge und Gedichte der
Lyrikerin Annerose Kirchner. Sie gefallen ihm. So möchte er auch schreiben und
ist überzeugt, dass er es auch kann. Er setzt sich an den Tisch, dichtet,
verfasst Texte, versucht sich an Erzählungen. Sogar Romane konzipiert er. Noch
ist nichts Brauchbares dabei. Aber er merkt, dass das Schreiben ihn erfüllt,
und er träumt, wie es wäre, ein freiberuflicher Schriftsteller zu sein.
Der freie Schriftsteller war in der DDR durchaus kein
„Hungerberuf“, wie in den westlichen Ländern, wenn man erst bestimmte Hürden
genommen hat, meint Norbert Büttner. War das Manuskript für ein Buch erst
einmal geschrieben, musste es einer Kommission vorgelegt werden, die darüber
entschied (aber auch Zensur ausübte) und das Papierkontingent genehmigte. Lag dann
das Buch gedruckt vor, wurde man als Schriftsteller anerkannt und konnte gut
vom Schreiben leben. Denn die DDR sorgte im Rahmen zahlreicher Förderungsmöglichkeiten
für ihre Autoren (sofern sie sich systemimmanent verhielten).
Aber Norbert ist realistisch genug und entscheidet sich
zunächst für einen handfesten Beruf. Er wird eine Lehre als Elektroniker bei
einem Handwerksbetrieb in Großbreitenbach absolvieren. Doch noch sind
Sommerferien. Neben seinen Schreibversuchen nutzt er die Zeit zum Lesen. Er nimmt
sich die Franzosen vor: Camus und Sartre. Dann vertieft er sich in die
französische Klassik, liest Voltaire, Diderot, Balzac. Gustave Flaubert
fasziniert ihn besonders; zunächst fürchtet er dessen Distanziertheit; später entdeckt er, dass Flauberts Methode die
Dinge zu betrachten zu einer enormen Schärfe und Klarheit führt. Dann nimmt er
sich die lateinamerikanischen Schriftsteller vor, Borges, Rulfo, Carpentier.
Zwischendurch immer wieder neue Ansätze, eigene Ideen aufs Papier zu bringen.
Manche nehmen Gestalt an. Norbert wird sich darüber im Klaren, dass es viel
Zeit braucht, bis er eine veröffentlichungsreife Geschichte vorlegen kann.
Die Ausbildung ist ein harter Schnitt in seinem Leben. Die
Arbeit beginnt früh um sechs Uhr, und wenn er am Abend nach Hause kommt, ist er
todmüde. Die körperliche Arbeit schlaucht. Für kreative Gedanken gibt es keinen
Platz mehr. Die Kleinstadt ist für Abwechslungen wenig attraktiv, und die
Mädchen sind schon alle vergeben. Aber er beißt sich durch und schließt die
Lehre mit dem Facharbeiterbrief ab.
Längst sieht er ein, dass er in dieser ländlichen Umgebung
keine Zukunft hat. Er will nach Berlin, wo seine Schwester in Marzahn wohnt.
Aber in der DDR kann man nicht so einfach umziehen. Man braucht eine Erlaubnis.
Und für Berlin gibt es eine Zuzugsbeschränkung. Diese lässt sich umgehen, wenn
man heiratet, dort eine Studienerlaubnis hat oder eine Arbeit in einem Berliner
Betrieb nachweisen kann. Norbert bewirbt sich bei der BVB, den Ost-Berliner
Verkehrsbetrieben, bekommt eine Zusage, als Elektriker dort anzufangen, und
wird in Berlin in einem Arbeiterwohnheim in Prenzlauer Berg untergebracht. Er
teilt sich das Zimmer mit einem Kollegen und hat wenig Gelegenheit, seinen
kreativen Interessen nachzugehen. Aber er verdient gut.
Nach der politischen Wende und der Vereinigung Deutschlands
wird ihm die Wohnung gekündigt. Der BVB (Ost) fusioniert mit der BVG (West) zur
BVG, die nun keine Wohnheime mehr verwaltet. Norbert findet eine Wohnung bei
einer Genossenschaft in Hellersdorf. 1996 zieht es ihn der Liebe wegen nach
Neukölln, in einen ehemaligen West-Berliner Bezirk. Es ist leicht, dort an eine
Wohnung zu kommen. Zu dieser Zeit ist Neukölln, vor allem Nord-Neukölln, noch
nicht nachgefragt. Viele Häuser sind sanierungsbedürftig. In dem alten
Arbeiterbezirk leben eher arme Menschen und viele Ausländer, meistens Türken
und Araber. Norbert erinnert sich an Bürgersteige voller „Hundekacke“, die man
nur auf dem mittleren Streifen begehen kann. Der Körnerpark macht einen
verwahrlosten Eindruck. Stiernackige Männer, begleitet von Kampfhunden, gehen
dort spazieren. Aber auch Mädchen und junge Türken führen solche Hunde mit sich;
offensichtlich tragen diese lebendigen Waffen zum Selbstbewusstsein ihrer
Halter bei.
Norbert mietet sich in der Altenbraker Straße eine Wohnung.
Sie liegt in einem Mietshaus, dessen Wohnungen in Einzeleigentum umgewandelt
wurde. Wenige Jahre später nimmt diese Form der Vernichtung des Mietwohnungsbestandes
rapide zu, und Nord-Neukölln verändert sich. Als Norbert seine Wohnung bezieht,
wohnen im Haus überwiegend Serben und Kroaten, Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien,
die mit den Türken seit den 1970er-Jahren Kreuzberg und Nord-Neukölln
bevölkern. Seine heutigen Nachbarn sprechen dagegen Englisch oder Spanisch. Es
sind junge Leute, Künstler oder Studierende, die in teuren, aber für sie
erschwinglichen Wohngemeinschaften leben. Plötzlich wollen alle nach
Nord-Neukölln, stellt Norbert fest. Er beobachtet aufmerksam die Veränderungen,
registriert sie und lässt die Eindrücke in seine Texte einfließen.
Norbert wurde von der BVG als Elektriker übernommen. Seine
Aufgabe ist es, Bahnhöfe zu überprüfen und Störungen zu melden. Neben der damit
verbundenen Büroarbeit ist er täglich auf verschiedenen Bahnstrecken unterwegs.
Obwohl er keine geregelten Arbeitszeiten hat, mag Norbert diese Arbeit. Er ist
in Bewegung und an der frischen Luft. Manchmal kann er freie Tage zusammenlegen,
so dass er sich dann dem Schreiben widmen kann.
2008 trifft er auf eine Gruppe Gleichgesinnter, Menschen,
die gern schreiben und den Austausch suchen. Dieser literarische Zirkel kommt
wöchentlich im Neuköllner Leuchtturm zusammen. Dort entstehen nicht nur
Freundschaften, sondern auch ausgereifte Texte, von denen einige im Jahr 2016 veröffentlicht
werden, Dank einer privaten Förderung. Zu dieser Anthologie steuert Norbert acht
Gedichte und eine Erzählung bei. Es ist nicht Norberts erste Veröffentlichung.
Einzelne Gedichte und Kurzgeschichten erschienen Jahre früher in verschiedenen Anthologien
und Zeitschriften. Der Geest Verlag publizierte seine Erzählbände „Abgestürzt“
(2007) und „Messerschnitte“ (2010). Und es gibt zwei Gedichtbände: „Die Geduld des blassen Himmels“ und „Manchmal ist
der Fluss eine Eidechse“ (2010).
Heute ist Norbert froh, dass er kein freiberuflicher
Schriftsteller geworden ist. Den Druck, möglichst einen Bestseller zu produzieren, um
davon leben zu können, würde er wohl nicht aushalten. Auch ein
„Auftragsschreiber“, wie Tausende unter den Freiberuflern, möchte er nie sein.
Und das ewige Herumreisen zu den Lesungen, die Abhängigkeit vom Verlag! Norbert
will schreiben, was er will und wann er will. Er hat es sich so eingerichtet,
dass es für ihn möglich ist. Im Gegensatz zur Prosa kann man Gedichteschreiben
nicht planen, findet er. „Es kommt plötzlich.“ Und dann fängt er die Gedanken
auf. Die Texte schreibt er mit der Hand, das sei der beste Draht zum Gehirn.
Den Computer als Schreibwerkzeug lehnt er ab, denn „der verführt zum Plappern“. Manchmal
bleibt ein Text lange unfertig liegen, bis sich eine neue Sicht ergibt, um
daran weiterzuarbeiten. Norbert sucht nach größtmöglicher Schärfe und Klarheit.
Norbert stellt fest, dass er mit zunehmendem Alter über
einen „fast unergründlichen Stoff“ verfügt. Er schöpft aus seinen vielen
Lebenserfahrungen. Als Immigrant aus dem Osten, der DDR, sieht er den Westen
und sein jetziges Umfeld noch immer mit einer gewissen Distanz. Er erlebt zunächst
ein schmutziges, aber auch liebenswertes Nord-Neukölln, das mit seinen Kiezen
ähnliche Strukturen aufweist wie sein Dorf in Thüringen. Er beobachtet dessen
Veränderung und freut sich über die anregende Vielfalt. Neukölln wird schöner,
aber auch teurer. Ein Besuch in das bürgerliche, langweilige Wilmersdorf, wo
Bekannte leben, schreckt ihn ab; so muss das alte West-Berlin gewesen sein:
lauter Grauköpfe, keine Ausländer, kein Leben, meint er. Wieder genug Stoff für
ein Gedicht. Norbert kennt die Arbeit im Bergwerk, im Tagebau, weiß wie sich
das Leben in der Kleinstadt abspielt. Seine Ferien verbringt er gern in
Ländern, deren Sprache er nicht versteht, zum Beispiel in Polen, so dass er
unbeeinflusst seine Betrachtungen anstellen kann.
Entspannung nach der Arbeit findet Norbert in den Kneipen
seines Kiezes. Nach dem großen Kneipensterben vor etwa zehn Jahren sind noch
einige wenige übrig geblieben. In manche geht er mit Freunden, in andere
allein. Dort kommt er zur Ruhe, liest die (kostenlos) herumliegenden Zeitungen,
meistens ist es die B.Z., deren kurze Texte seine Phantasie anregen. Manchmal
reißt er heimlich einen Artikel heraus und steckt den Schnipsel in seine
Tasche. Es gefällt ihm, dass schon beim ersten Sonnenstrahl im Frühjahr die
Tische und Stühle herausgestellt werden. So viel Leben auf der Straße gab es
früher nicht.
Hallo und vielen Dank für den tollen Artikel über Norbert Büttner. Ich finde es schon beschwerlich, wie Schriftsteller teilweise Ihr Dasein fristen müssen und im Arbeiterwohnheim unterkommen. Ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass es für die Kultur eine Förderung vom Staat gibt.
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