Donnerstag, 20. Oktober 2016

22. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 13. Oktober 2016


Dr. Martin Steffens - Das Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“

Dr. Marin Steffens, der engagierte und vielbeschäftigte Kunstmanager, zögert nicht lange mit seiner Zusage das Erzählcafé zu besuchen. Er ist (gemeinsam mit Thorsten Schlenger) Leiter des Kunstfestivals „48 Stunden Neukölln“, das seit 19 Jahren besteht. 2008 stieg er als künstlerischer Leiter ein, 2009 wurde ihm die Gesamtleitung übertragen.

Angefangen hat alles im Jahr 2004. Martin Steffens arbeitet seit mehreren Jahren an seiner Dissertation und sehnt sich nach sozialen Kontakten. Bei einem Besuch des Kunst- und Kulturfestivals „48 Stunden Neukölln“ fällt ihm das Projekt „kunstraum t27“ in der Thomasstraße besonders auf. Die Ausstellung in diesen Räumen spricht ihn an. Er erfährt, dass immer wieder Künstlerinnen und Künstler gesucht werden, die im kunstraum t27 eine Ausstellung machen wollen. Das ist seine Chance aus der wissenschaftlichen Isolation herauszukommen! Er bewirbt sich und kann, gemeinsam mit einem Künstler und einer Künstlerin (Susann Kramer, die später mit ihm Vorstandsvorsitzende des neu gegründeten Kunstvereins wird), seine Arbeiten präsentieren. Die drei haben ihren Spaß und sind dabei erfolgreich. Ende 2005 wird Martin die Projektleitung angeboten. Der kunstraum t27 ist vom Kulturnetzwerk Neukölln e.V. gegründet worden, um Projekte für Künstler zu schaffen, die sonst nicht von ihrer Arbeit existieren können. Viele Neuköllner Kunstschaffende leben von Hartz IV, und sie sollen durch geförderte Projekte wieder den Anschluss an das Geldverdienen bekommen.

Martins künstlerische Tätigkeit beginnt jedoch mehr als 15 Jahre früher mit dem Zivildienst nach dem Abitur. Seine Nachtwachen im Bereich der Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung lassen ihm großzügig bemessene freie Zeit; er beginnt zu malen. Er wünscht sich eine künstlerische Ausbildung und bewirbt sich an der Kunstakademie in Düsseldorf, aber gleichzeitig an der Universität Münster, um alternativ Kunstgeschichte studieren zu können. Düsseldorf lehnt ab, Münster sagt zu. „Damit wurde die erste Weiche für meine berufliche Laufbahn gestellt“, meint Martin Steffens. Das Fach Kunstgeschichte gefällt ihm sehr. Dennoch sorgt er dafür, dass neben dem Kunstgeschichtsstudium und den späteren wissenschaftlichen Publikationen sowie kuratorischen Arbeiten seine kreative Seite nicht vernachlässigt wird. 1991 zieht Martin nach Berlin, um dort das Studium fortzusetzen. Er ist begeistert, was Berlin alles zu bieten hat und fühlt sich sofort zu Hause. In der Neuköllner Weserstraße findet er ein günstiges WG-Zimmer, später wechselt er in die Richardstraße.

Als die Förderung für das Projekt im kunstraum t27 Ende 2007 nach zwei Jahren ausläuft und der Projektraum geschlossen werden soll, gründen Künstler und interessierte den Verein „kunstraum t27 e.V.“, ab 2011 „Kunstverein Neukölln e.V.“, um einen Rahmen für ihre vielfältigen Aktivitäten in Nord-Neukölln zu haben. Vorsitzende sind Martin Steffens und Susann Kramer. Martin übernimmt die Leitung des Festivals „48 Stunden Neukölln“. Die Vorgängerin, Ilka Normann, wird Geschäftsführerin des Kulturnetzwerks. (Im 1995 gegründeten Kulturnetzwerk Neukölln e.V. finden sich öffentliche Einrichtungen, private Träger, Vereine und Initiativen zu kultureller Stadtteilarbeit zusammen. Über die notwendigen Ressourcen in der Kultur sollen sinnvolle Tätigkeiten für Arbeitslose geschaffen werden. Das Kulturnetzwerk Neukölln zählt zurzeit 59 Mitglieder.) Im ersten Jahr 2008 teilen sich Martin Steffens und Ilka Normann die Führung der „48 Stunden“, so dass Martin in die „Geheimnisse der Festivalleitung“ eingeführt werden kann. Seit 2009 ist Martin alleiniger Festivalleiter. 2013 kommt Thorsten Schlenger hinzu, so dass es jetzt erstmals zwei feste Leiter gibt.

Ende 2015 muss der Kunstverein aus der Thomasstraße ausziehen. Neukölln hat sich in der Zwischenzeit verändert. Es ist jetzt schick, in Nord-Neukölln zu wohnen. Vor allem Studenten und junge, kreative Menschen fühlen sich angezogen. Damit steigen die Mieten. Das Haus Thomasstraße 27 wird verkauft; der neue Eigentümer will die Einheiten teuer veräußern. Die Erdgeschossfläche wird derzeit unsaniert für „wahnwitzige 430.000 €“ angeboten. Da kann der Kunstverein Neukölln nicht mithalten. Er findet sein neues Domizil in der Mainzer Straße 42. Für den Körnerkiez, in dem die Thomasstraße liegt, ist es ein großer Verlust. Vom kunstraum t27 gingen wichtige Impulse aus. Zehn Jahre lang hat sich Martin an Ausstellungen und Kunstaktionen im Kiez und im Körnerpark beteiligt. Sechs Jahre lang konnte er als Mitglied im Quartiersrat an Verbesserungsmaßnahmen für den Stadtteil mitwirken.

Das Festival „48 Stunden Neukölln“ wird vom Kulturnetzwerk Neukölln organisiert und besteht seit 1999. Ursprünglich ist es eine Reaktion auf die negative Berichterstattung über Nord-Neukölln, den Berliner Bezirk mit dem schlechtesten Ruf, die „Bronx von Berlin“. „Im Arbeiterbezirk Neukölln zeigen Verwahrlosung, Gewalt und Hunger den sozialen Niedergang an“, schreibt zum Beispiel 1997 Der Spiegel und gibt eine erschreckende Analyse über den Norden Neuköllns ab. Mit dem Festival, das für ein Wochenende im Juni von Freitag 19 Uhr bis Sonntag 19 Uhr vorgesehen ist, wollen Kulturschaffende, engagierte Bürger und die lokale Kulturverwaltung einen Gegenpol schaffen, um die vielfältigen sozialen Akteure in Erscheinung zu bringen und einen Austausch anzuregen. Auch prangern sie drastische Mittelkürzungen im Bereich Kultur an. Neben den etablierten Kunstinstitutionen sollen sich private und öffentliche Räume für künstlerische Projekte öffnen.

In den ersten Jahren gibt es noch einen relativ hohen Etat, von dem ein großes Straßenfest auf der Karl-Marx-Straße mit zahlreichen Bühnen und viel Musik veranstaltet wird sowie ein dezentrales Kunstprogramm. Das Dezentrale wird in den ersten zehn Jahren stärker herausgearbeitet, das Straßenfest dagegen verworfen – auch weil die Finanzierung dafür wegbricht. Eine Ausnahme macht „Kiez International“ mit dem Bühnenprogramm der „Bewegten Welten“, das die Werkstatt der Kulturen organisiert und ein begeistertes Publikum hat. Auf dem Richardplatz kommen viele internationale Kulturvereine zusammen, die von in Neukölln lebenden ausländischen Gastarbeitern gegründet wurden: Griechen, Türken, Kurden, Serben etc. Diese bereichern es mit landestypischen Speisen, folkloristischer Musik und Volkstänzen. Im Lauf der Jahre werden die Initiatoren aber älter und es findet sich immer weniger Nachwuchs für dieses Fest.

Viele in Berlin Geborene möchten weiterhin ihre nationale Identität pflegen, auch wenn sie sich primär als Berliner oder Neuköllner empfinden. Aber die konkrete Identität scheint einer eher „diffusen Form des Postmigrantischen“ gewichen zu sein. Viele der in der dritten Generation hier Lebenden wollen als Angekommene wahrgenommen und nicht nur als Kurden, Griechen oder Türken angesprochen werden. Auch wenn es immer wieder Förderungen für „migrantische Kunst“ gibt, verstehen sich viele der etablierten Künstlerinnen und Künstler als international arbeitend. Eine Reduktion auf ihren Status „Migrant“ lehnen viele ab. 

Andererseits weiß Martin, dass es zum Beispiel eine türkisch-kurdische Kunstszene in Neukölln gibt, die sich bislang nicht ausreichend an den „48 Stunden“ beteiligt. Martin und sein Team wollten erfahren, woran das liegt und was die Festivalleitung tun muss, um auch von diesen Künstlern wahrgenommen zu werden. Nach einem Vernetzungstreffen mit einigen Vertretern dieser Community konnte exemplarisch festgestellt werden, dass hier eine dezidierte Einladung ausgesprochen werden muss. Im Festival 2017 werden deshalb aus dieser Gruppe wesentlich mehr Aktive teilnehmen.

Seit 2001 versuchen die Organisatoren der „48 Stunden Neukölln“ die selbstbestimmten künstlerischen Angebote stärker zu koordinieren und ihnen einen inhaltlichen Rahmen zu geben. Durch eine klare Profilierung wollen sie die Qualität steigern und neue Künstler nach Neukölln holen. Seit 2004 beschränkt sich das Festival auf Nord-Neukölln. 2005 werden in verschiedenen Kiezen „Kunstfilialen“ eingerichtet, um die Künstler und ihre Aktivitäten besser im Sinne des Netzwerkgedankens zusammenzuführen. Doch das Festival mit seinen vielen dezentralen Veranstaltungsorten weitet sich aus, bis es von den Verantwortlichen fast nicht mehr gesteuert werden kann. Es gibt auch nicht mehr Geld. Und es droht die Gefahr, dass es langweilig wird, weil manche Künstler immer wieder ähnliche Arbeiten ausstellen. Im Jahr 2010 gibt es 350 Orte mit 800 Veranstaltungen. Nach der Überarbeitung des Konzeptes sind es seit 2015 nur noch 250 Orte mit 400 Veranstaltungen. Damit ist die Professionalität gesteigert und die Organisationsstruktur angepasst worden.

Das Team besteht jetzt aus zwei Leitern, acht Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sowie vier selbstständig arbeitenden „Vernetzungspatinnen“, die die Aufgabe der inzwischen wieder abgeschafften Kunstfilialen übernehmen, nämlich die Entwicklung in den Kiezen und seinen Künstlern zu beobachten und zu registrieren. Punktuell kommen noch weitere Leute hinzu. Dieses Team, das das ganze Jahr zur Verfügung steht, arbeitet professionell. Es sorgt für die Finanzierung, die Öffentlichkeitsarbeit, für die Webseite und für die richtige Struktur, in der sich kulturelle Vielfalt entwickeln kann.

Die teilnehmenden Künstler arbeiten in der Regel ehrenamtlich. Sie können sich allerdings auf eine professionelle Organisationsstruktur verlassen, die das Festival ihnen bietet. Jedermann kann sich mit einem Projekt bewerben. Man muss kein ausgebildeter Kunstschaffender sein. Insofern hat das „48 Stunden“-Neukölln-Festival eine Sonderstellung unter den Kunstfesten, die meistens Hochkultur präsentieren wollen und möglichst bekannte Künstler präsentieren. Dafür bekommen sie einen riesigen Etat. „48 Stunden Neukölln“ ist extrem niedrig finanziert und hat auch gar kein Interesse, so exklusiv zu werden. Allerdings ist es ein Traum, Künstler für ihre Arbeit auch bezahlen zu können. Doch dafür fehlt bei weitem das Budget.

Das Festival will den Stadtteil zeigen und was die Künstler darin zu sagen haben – und was internationale Kunst präsentiert, die auf den Stadtteil bezogen ist. Das heißt, hinter dem Festival steht ein Konzept, dass sich auf Nord-Neukölln festlegt, um dort gemeinsam mit den Akteuren „beglückend“ Kunst zu produzieren. Was das bedeutet, muss in jedem Jahr neu definiert werden. Das Team hat die Aufgabe, die Entwicklung Neuköllns zu sehen, sogar vorwegzunehmen und dafür zu sorgen, dass das Festival jedes Jahr unter ein passendes und herausforderndes Thema gestellt wird.

Bei der Themenfindung für das Jahr 2016 gingen nach einem Aufruf 70 Vorschläge ein, die eine 14-köpfige Jury begutachtete. Es war ein spanischer Künstler, der eine überzeugende Begründung für SATT lieferte, das als Thema gewählt wurde. Er wollte das Phänomen einer übersättigten und zugleich unbefriedigten Gesellschaft untersuchen lassen. „Das Thema des kommenden Jahres wird SCHATTEN sein“, verrät Martin und erwartet vielfältige Assoziationen und Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft und der gegenwärtigen Politik.

Zum Anmelden gibt es drei Sparten: Ateliers, Kunsträume, Führungen. Die Ateliers und Kunsträume sind als Orte, an denen Kunst gemacht wird, das Rückgrat Nord-Neuköllns. Sie zeigen das, was bei ihnen gerade aktuell ist, unabhängig vom Jahresthema. In der Regel kommen etwa 100 Veranstaltungen zusammen. Das eigentliche Kunstfestival ist der wichtigste Teil. Dafür gibt es ein Bewerbungsverfahren. Die einzige Bedingung ist, dass sich das vorgeschlagene Projekt auf das Jahresthema beziehen muss und in Nord-Neukölln realisiert wird. Eine Jury spricht die Empfehlungen aus. Überzeugt ein Konzept, schaut das Organisationsteam, ob es vielleicht extern finanziert und an welchem Ort es am besten präsentiert werden kann. Hier ist die kreative Leistung des Teams gefragt. Ein kleines Risiko ist dabei, wenn man beispielsweise den Künstler noch nicht kennt und weiß, wie er oder sie arbeitet: Wird ihm die Umsetzung seines Konzeptes wirklich gelingen?

Das Programm für Kinder und Jugendliche wurde vor vier Jahren ausgegliedert und findet unter dem Namen „Junge Kunst Neukölln“ zur selben Zeit statt. Wichtigster Partner ist das Young Arts Neukölln. Das Jahresthema will man kindgerecht ausdrücken. 2014 zum Beispiel wurde das Thema COURAGE für die Kinder in MUT übersetzt. 2017 wird es LICHT sein, das Gegenteil von SCHATTEN. Für die Zukunft suchen die Veranstalter nach einem Ort, wo alle Aktivitäten der „Jungen Kunst“ zusammengefasst werden können

Das Festival „48 Stunden Neukölln“ präsentiert nicht nur bildende Kunst sondern auch Musik, Literatur, interdisziplinärer Tanz, Videoprojektionen. Neben dem Jahresthema gibt es weitere jährlich unterschiedliche Schwerpunkte, um die Festivaljahre unterscheidbar zu machen. Da es sich um eine Großveranstaltung handelt, muss das Ordnungsamt über strenge Sicherheitsauflagen wachen. Es gibt keine Open-Air-Bühne mehr, und nach 18 Uhr ist elektronisch verstärkte Musik im Außenraum verboten. Martin bedauert diese Einschränkungen und weist auf den positiven Effekt des Festes hin. 2016 haben sich mehr als 1200 Künstler an 250 Orten mit dem Thema SATT beschäftigt und bis zu 80.000 Besucher angelockt, die Nord-Neukölln mit seinen Galerien, Ateliers und Hinterhöfen entdecken wollten. Das Kunstfestival hat in den vergangenen 18 Jahren dazu beigetragen, das Image Neuköllns zu verbessern, indem es die positive Seite seiner Vielfältigkeit aufgezeigt und Entwicklungen ermöglicht hat. Wie es sich verändert, wenn die Aufwertung durch die starke Nachfrage nach Wohnraum weiter zunimmt und auch Atelierplätze knapp werden, wird sich zeigen. Das könnte im Rahmen eines neuen Jahresthemas behandelt werden.


Dienstag, 4. Oktober 2016

21. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 29. September 2016

21. Erzählcafé

 Norbert Büttner
Niemals ein freiberuflicher Schriftsteller sein!

„Meine Leidenschaft ist das Schreiben“, erklärt uns Norbert Büttner und legt einen Stapel Bücher auf den Tisch. Vier verschiedene Bände mit seinen Gedichten und Kurzgeschichten sind in den letzten Jahren erschienen. Er trägt das Gedicht „Neukölln“ vor und liest anschließend einen Abschnitt aus der Erzählung „Das Haus“. Wir spüren das Feuer hinter seinen Worten.

Norbert Büttner stammt aus der thüringischen Kleinstadt Großbreitenbach in der ehemaligen DDR. Dort wird er 1962 geboren. Dort wächst er auf, besucht die Schule und lässt sich zum Elektriker ausbilden. In Großbreitenbach gibt es nicht viel Zerstreuung. Die Winter sind lang und die Sommer nicht besonders warm, denn die Stadt liegt etwa 600 Meter hoch. Norbert ist ein schüchterner Junge und hat nur wenige Freunde. In der Schule fällt er nicht auf. So übt er sich schon als Kind im Schreiben von Gedichten. Für seine Mutter bastelt er einen Kalender für die Küche und versieht jeden Monat mit einem handgeschriebenen Rezept. Als Zwölfjähriger gibt er eine selbst gestaltete Zeitung mit eigenen Geschichten und Gedichten heraus.

Im Jahr 1979 schließt Norbert die Schule ab und hat lange Sommerferien vor sich, bevor er mit der Lehre beginnt. Seit längerer Zeit verfolgt er im Feuilleton der „Wochenpost“ die Beiträge und Gedichte der Lyrikerin Annerose Kirchner. Sie gefallen ihm. So möchte er auch schreiben und ist überzeugt, dass er es auch kann. Er setzt sich an den Tisch, dichtet, verfasst Texte, versucht sich an Erzählungen. Sogar Romane konzipiert er. Noch ist nichts Brauchbares dabei. Aber er merkt, dass das Schreiben ihn erfüllt, und er träumt, wie es wäre, ein freiberuflicher Schriftsteller zu sein.

Der freie Schriftsteller war in der DDR durchaus kein „Hungerberuf“, wie in den westlichen Ländern, wenn man erst bestimmte Hürden genommen hat, meint Norbert Büttner. War das Manuskript für ein Buch erst einmal geschrieben, musste es einer Kommission vorgelegt werden, die darüber entschied (aber auch Zensur ausübte) und das Papierkontingent genehmigte. Lag dann das Buch gedruckt vor, wurde man als Schriftsteller anerkannt und konnte gut vom Schreiben leben. Denn die DDR sorgte im Rahmen zahlreicher Förderungsmöglichkeiten für ihre Autoren (sofern sie sich systemimmanent verhielten).

Aber Norbert ist realistisch genug und entscheidet sich zunächst für einen handfesten Beruf. Er wird eine Lehre als Elektroniker bei einem Handwerksbetrieb in Großbreitenbach absolvieren. Doch noch sind Sommerferien. Neben seinen Schreibversuchen nutzt er die Zeit zum Lesen. Er nimmt sich die Franzosen vor: Camus und Sartre. Dann vertieft er sich in die französische Klassik, liest Voltaire, Diderot, Balzac. Gustave Flaubert fasziniert ihn besonders; zunächst fürchtet er dessen Distanziertheit;  später entdeckt er, dass Flauberts Methode die Dinge zu betrachten zu einer enormen Schärfe und Klarheit führt. Dann nimmt er sich die lateinamerikanischen Schriftsteller vor, Borges, Rulfo, Carpentier. Zwischendurch immer wieder neue Ansätze, eigene Ideen aufs Papier zu bringen. Manche nehmen Gestalt an. Norbert wird sich darüber im Klaren, dass es viel Zeit braucht, bis er eine veröffentlichungsreife Geschichte vorlegen kann.

Die Ausbildung ist ein harter Schnitt in seinem Leben. Die Arbeit beginnt früh um sechs Uhr, und wenn er am Abend nach Hause kommt, ist er todmüde. Die körperliche Arbeit schlaucht. Für kreative Gedanken gibt es keinen Platz mehr. Die Kleinstadt ist für Abwechslungen wenig attraktiv, und die Mädchen sind schon alle vergeben. Aber er beißt sich durch und schließt die Lehre mit dem Facharbeiterbrief ab.

Längst sieht er ein, dass er in dieser ländlichen Umgebung keine Zukunft hat. Er will nach Berlin, wo seine Schwester in Marzahn wohnt. Aber in der DDR kann man nicht so einfach umziehen. Man braucht eine Erlaubnis. Und für Berlin gibt es eine Zuzugsbeschränkung. Diese lässt sich umgehen, wenn man heiratet, dort eine Studienerlaubnis hat oder eine Arbeit in einem Berliner Betrieb nachweisen kann. Norbert bewirbt sich bei der BVB, den Ost-Berliner Verkehrsbetrieben, bekommt eine Zusage, als Elektriker dort anzufangen, und wird in Berlin in einem Arbeiterwohnheim in Prenzlauer Berg untergebracht. Er teilt sich das Zimmer mit einem Kollegen und hat wenig Gelegenheit, seinen kreativen Interessen nachzugehen. Aber er verdient gut.

Nach der politischen Wende und der Vereinigung Deutschlands wird ihm die Wohnung gekündigt. Der BVB (Ost) fusioniert mit der BVG (West) zur BVG, die nun keine Wohnheime mehr verwaltet. Norbert findet eine Wohnung bei einer Genossenschaft in Hellersdorf. 1996 zieht es ihn der Liebe wegen nach Neukölln, in einen ehemaligen West-Berliner Bezirk. Es ist leicht, dort an eine Wohnung zu kommen. Zu dieser Zeit ist Neukölln, vor allem Nord-Neukölln, noch nicht nachgefragt. Viele Häuser sind sanierungsbedürftig. In dem alten Arbeiterbezirk leben eher arme Menschen und viele Ausländer, meistens Türken und Araber. Norbert erinnert sich an Bürgersteige voller „Hundekacke“, die man nur auf dem mittleren Streifen begehen kann. Der Körnerpark macht einen verwahrlosten Eindruck. Stiernackige Männer, begleitet von Kampfhunden, gehen dort spazieren. Aber auch Mädchen und junge Türken führen solche Hunde mit sich; offensichtlich tragen diese lebendigen Waffen zum Selbstbewusstsein ihrer Halter bei.

Norbert mietet sich in der Altenbraker Straße eine Wohnung. Sie liegt in einem Mietshaus, dessen Wohnungen in Einzeleigentum umgewandelt wurde. Wenige Jahre später nimmt diese Form der Vernichtung des Mietwohnungsbestandes rapide zu, und Nord-Neukölln verändert sich. Als Norbert seine Wohnung bezieht, wohnen im Haus überwiegend Serben und Kroaten, Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien, die mit den Türken seit den 1970er-Jahren Kreuzberg und Nord-Neukölln bevölkern. Seine heutigen Nachbarn sprechen dagegen Englisch oder Spanisch. Es sind junge Leute, Künstler oder Studierende, die in teuren, aber für sie erschwinglichen Wohngemeinschaften leben. Plötzlich wollen alle nach Nord-Neukölln, stellt Norbert fest. Er beobachtet aufmerksam die Veränderungen, registriert sie und lässt die Eindrücke in seine Texte einfließen.

Norbert wurde von der BVG als Elektriker übernommen. Seine Aufgabe ist es, Bahnhöfe zu überprüfen und Störungen zu melden. Neben der damit verbundenen Büroarbeit ist er täglich auf verschiedenen Bahnstrecken unterwegs. Obwohl er keine geregelten Arbeitszeiten hat, mag Norbert diese Arbeit. Er ist in Bewegung und an der frischen Luft. Manchmal kann er freie Tage zusammenlegen, so dass er sich dann dem Schreiben widmen kann.

2008 trifft er auf eine Gruppe Gleichgesinnter, Menschen, die gern schreiben und den Austausch suchen. Dieser literarische Zirkel kommt wöchentlich im Neuköllner Leuchtturm zusammen. Dort entstehen nicht nur Freundschaften, sondern auch ausgereifte Texte, von denen einige im Jahr 2016 veröffentlicht werden, Dank einer privaten Förderung. Zu dieser Anthologie steuert Norbert acht Gedichte und eine Erzählung bei. Es ist nicht Norberts erste Veröffentlichung. Einzelne Gedichte und Kurzgeschichten erschienen Jahre früher in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften. Der Geest Verlag publizierte seine Erzählbände „Abgestürzt“ (2007) und „Messerschnitte“ (2010). Und es gibt zwei Gedichtbände: „Die  Geduld des blassen Himmels“ und „Manchmal ist der Fluss eine Eidechse“ (2010).

Heute ist Norbert froh, dass er kein freiberuflicher Schriftsteller geworden ist. Den Druck, möglichst einen Bestseller zu produzieren, um davon leben zu können, würde er wohl nicht aushalten. Auch ein „Auftragsschreiber“, wie Tausende unter den Freiberuflern, möchte er nie sein. Und das ewige Herumreisen zu den Lesungen, die Abhängigkeit vom Verlag! Norbert will schreiben, was er will und wann er will. Er hat es sich so eingerichtet, dass es für ihn möglich ist. Im Gegensatz zur Prosa kann man Gedichteschreiben nicht planen, findet er. „Es kommt plötzlich.“ Und dann fängt er die Gedanken auf. Die Texte schreibt er mit der Hand, das sei der beste Draht zum Gehirn. Den Computer als Schreibwerkzeug lehnt er ab,  denn „der verführt zum Plappern“. Manchmal bleibt ein Text lange unfertig liegen, bis sich eine neue Sicht ergibt, um daran weiterzuarbeiten. Norbert sucht nach größtmöglicher Schärfe und Klarheit.

Norbert stellt fest, dass er mit zunehmendem Alter über einen „fast unergründlichen Stoff“ verfügt. Er schöpft aus seinen vielen Lebenserfahrungen. Als Immigrant aus dem Osten, der DDR, sieht er den Westen und sein jetziges Umfeld noch immer mit einer gewissen Distanz. Er erlebt zunächst ein schmutziges, aber auch liebenswertes Nord-Neukölln, das mit seinen Kiezen ähnliche Strukturen aufweist wie sein Dorf in Thüringen. Er beobachtet dessen Veränderung und freut sich über die anregende Vielfalt. Neukölln wird schöner, aber auch teurer. Ein Besuch in das bürgerliche, langweilige Wilmersdorf, wo Bekannte leben, schreckt ihn ab; so muss das alte West-Berlin gewesen sein: lauter Grauköpfe, keine Ausländer, kein Leben, meint er. Wieder genug Stoff für ein Gedicht. Norbert kennt die Arbeit im Bergwerk, im Tagebau, weiß wie sich das Leben in der Kleinstadt abspielt. Seine Ferien verbringt er gern in Ländern, deren Sprache er nicht versteht, zum Beispiel in Polen, so dass er unbeeinflusst seine Betrachtungen anstellen kann.

Entspannung nach der Arbeit findet Norbert in den Kneipen seines Kiezes. Nach dem großen Kneipensterben vor etwa zehn Jahren sind noch einige wenige übrig geblieben. In manche geht er mit Freunden, in andere allein. Dort kommt er zur Ruhe, liest die (kostenlos) herumliegenden Zeitungen, meistens ist es die B.Z., deren kurze Texte seine Phantasie anregen. Manchmal reißt er heimlich einen Artikel heraus und steckt den Schnipsel in seine Tasche. Es gefällt ihm, dass schon beim ersten Sonnenstrahl im Frühjahr die Tische und Stühle herausgestellt werden. So viel Leben auf der Straße gab es früher nicht.






20. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 15. September 2016

Margot Sharma: 25 Jahre Indien

Margot Sharma findet direkt vor dem Leuchtturm einen Parkplatz. Zum Glück. Sie steigt aus ihrem Auto und holt aus dem Kofferraum eine große Tasche. Die Beifahrerin, Susanne Werner, trägt vorsichtig ein Päckchen. Im Laden packen sie aus: indische Saris, einer schöner als der andere! Susanne Werner verschwindet in der Küche und verteilt die mitgebrachten kulinarischen Köstlichkeiten aus Indien auf Teller. Margot Sharma dekoriert einen Tisch mit den Stoffen, indischem Kunsthandwerk und pinnt eine Landkarte an die Wand. Zur Seite steht ihr ihre Schwiegertochter Priya, die gleich noch indischen Tee zubereiten wird. Im Nu entsteht in dem sonst eher nüchternen Raum ein Hauch von Exotik. Die Besucher trudeln ein. Alle kosten von den Süßigkeiten und sind
überrascht und begeistert von den vielfältigen Geschmacksnuancen.

Margot Sharma (geb. Steinke) wird 1937 in Neukölln geboren. Sie wächst mit drei Schwestern im Körnerkiez auf, besucht dort die Schule und absolviert anschließend eine Ausbildung als evangelische Gemeindehelferin bei der „Morgenländischen Frauenmission“ in Berlin-Lichterfelde. Margot ist sehr musikalisch, spielt Klavier und interessiert sich auch für indische Musik. Bei Dr. Biswas an der Technischen Universität lernt sie die Tampura spielen. Eines Tages lädt ihr Lehrer sie zu den Berliner Kulturwochen ein. Dort fällt ihr Blick auf einen jungen Inder mit markanten Gesichtszügen und dichtem schwarzen, welligen Haar. Er trägt eine schwarze Jacke mit Stehkragen, darunter ein weißes Hemd und sieht aus wie ein katholischer Priester. Margot spricht ihn an, denn sie sucht für ihr Praktikum in der Kirchengemeinde immer wieder interessante Menschen, die sie in der Jugendgruppe oder im Mütterkreis vorstellen möchte. Vielleicht könnte der Priester etwas über die Christen in Indien berichten. Er stimmt tatsächlich zu und erzählt ausführlich über Indien, ein Land, von dem damals die meisten gar keine Vorstellung haben. Zum Weihnachtsfest lädt sie Pramod, der sich längst als TU-Student vorgestellt hat, zu sich nach Hause ein, wie auch viele andere Gemeindemitglieder einen ausländischen Gast zu sich bitten. „Pramod nahm die Einladung an und blieb für immer“. Das war im Jahr 1957.

1959 beschließen Pramod und Margot zu heiraten. Sie wenden sich an das für sie zuständige Standesamt Neukölln. Doch dort ist noch nie ein deutsch-indisches Paar getraut worden, so dass der unsichere Standesbeamte sie nach Schöneberg verweist, wo mehr Erfahrungen vorliegen. Dort will der Standesbeamte wissen, wo Pramod geboren sei. In Dehradun. Aber Pramod hat keine Geburtsurkunde. Auf einer alten Karte findet er den Ort. Das genügt ihm und die beiden dürfen heiraten. Spätestens jetzt beginnt ihr „indisch-deutsches Experiment“: ein Ehepaar - zwei Kulturen.

Einmal wird Pramod, der in einem indischen Verein aktiv ist, zu einem Empfang in das Generalkonsulat von Indien eingeladen. Margot soll den Sari tragen, den ihr der Schwiegervater zur Hochzeit geschenkt hat. Aber wie legt man die fünf Meter lange Stoffbahn an? Pramod hilft ihr beim Einwickeln. Alles sitzt. Sie eilen zur S-Bahn, um nicht zu spät zu kommen. Auf der Treppe im Konsulat, die zum Festsaal führt, passiert es: Margot stolpert über den Sari, die in Falten gelegte Stoffbahn löst sich. Sie eilt in die
Damentoilette, wo Pramod ihr helfen muss den Sari wieder anzulegen.

Das Paar bekommt drei Kinder, alles Jungen, die in Berlin geboren werden: 1959, 1962, 1965. Sie erhalten schöne, bedeutungsvolle Namen: Arya Mitra (Freundschaft), Shanti Mitra (Frieden), Ravi Mitra (Sonnenschein). Mitra bedeutet Freund. Bei den ersten beiden Söhnen müssen sich die Eltern vom indischen Konsulat bestätigen lassen, dass es sich um in Indien geläufige Namen handelt. Erst dann wird die Geburtsurkunde ausgestellt. Beim dritten Sohn hat man sich vermutlich angesichts des zunehmenden Ausländerzuzugs an fremde Namen gewöhnt.

1963 legt Pramod sein Diplom in Maschinenbau ab. Im hessischen Butzbach findet er seine erste Arbeitsstelle. Margot hat inzwischen ihre Ausbildung als Gemeindehelferin abgeschlossen. Aber die Kirche will sie nicht einstellen, weil sie mit einem Hindu und nicht mit einem Christen verheiratet ist. Das ist eine große Enttäuschung, die sie bis heute nicht überwunden hat. Deshalb arbeitet sie in einem städtischen Kindergarten mit behinderten Kindern.

Die Familie zieht nach Butzbach. Die Firma, in der Pramod arbeitet, ist dabei in Südindien eine Düngemittelfabrik zu errichten. 1965 wird Pramod nach Neyveli im Bundesstaat Tamil Nadu geschickt, um bei der Inbetriebnahme der Anlage zu helfen. Die Familie nimmt er natürlich mit. Gerade ist der dritte Sohn geboren worden. Bei der Tropentauglichkeitsprüfung wäre Pramod wegen seines hohen Blutdrucks fast durchgefallen.

Sie reisen mit dem Schiff. Der Weg führt sie von Marseille über Ägypten und durch den Suezkanal nach Bombay. Während Pramod seekrank ist, kann Margot mit dem Baby auf dem Arm die Seefahrt richtig genießen. Auf dem Schiff lernt sie eine Studentin kennen, die ihr ein paar Worte Englisch beibringt. Dafür darf die junge Frau ab und zu den kleinen Sohn betreuen. Auch zeigt sie ihr, wie man in Indien richtig grüßt. Pramod wollte ihr das nie vormachen und sagte nur: Du machst es einfach genauso wie ich. In Port Said kann Margot wegen ihres kranken Mannes leider nicht mit den anderen Passagieren von Bord gehen, um sich die Pyramiden von Kairo anzuschauen. Aber in Aden ist er wieder gesund, und die ganze Familie macht einen Landausflug. Sie erlebt  wie Pramod, der ihr einen Badeanzug kaufen möchte, mit dem Verkäufer um den Preis feilscht. Es dauert Stunden bis sie sich einigen. Und Margot lernt ihre erste Lektion: „Wer Geld sparen will, muss handeln. Und wer handelt, braucht Zeit.“

In Bombay werden sie von einem Schwager Pramods erwartet, der sie zum Hotel begleitet. Das Taxi nimmt inmitten des ungewohnten und chaotischen Linksverkehrs Tempo auf, so dass Margot Hören und Sehen vergeht. Verängstigt hält sie das Baby fest. In Bombay nehmen sie den Zug, der sie in den Norden Indiens führt, weil Pramod erst einmal seinem Vater seine Familie vorstellen möchte. Dann geschieht das, was Margot längst befürchtet hat: Bei der Zugeinfahrt in den Hauptbahnhof von Mathura verschwindet Pramod in der Toilette und später im Gepäckwagen, um die Koffer und den Kinderwagen zu holen, und Margot steht mit den Kindern allein im Bahnhofsgewimmel. Für die zahlreich erschienene Familie von Pramod ist es ein Leichtes Margot als einzige Europäerin auf dem Bahnsteig zu erkennen. Sie machen sich bemerkbar und Margot reagiert spontan mit dem auf dem Schiff gelernten Gruß. Sie beugt sich vor ihrem Schwiegervater nieder, um in Ehrerbietung seine Füße zu berühren. Dann richtet sie sich auf und legt ihre Hände zum indischen Gruß zusammen: „Namaste“. Damit, und mit den drei männlichen Nachkommen an ihrer Seite beeindruckt sie ihren Schwiegervater so tief, dass er sie sofort in sein Herz schließt.

Später in Neyvily/Südindien lebt sich Margot allmählich ein; aber an die Ungeziefer, Geckos, Fledermäuse und springende Schlangen muss sie sich erst gewöhnen. Pramos hat traditionelle Kordelbetten (Charpoys) angeschafft, die er auf die Terrasse stellt, denn er schläft bei der Hitze gern im Freien. Margot findet das Schlafen unter dem Moskitonetz in den geräuschvollen subtropischen Nächten nicht sehr romantisch.

Trotz der großen Familie hat Margot Zeit übrig, die sie sinnvoll nutzen möchte. Die Kinder sind morgens in der Schule, im Kindergarten und der Kleine hat eine Kinderfrau; es gibt einen Koch und einen Gärtner. Pramod ist oft dienstlich verreist. Margot hat erfahren, dass im Städtischen Krankenhaus Personalmangel herrscht. Dort könnte sie doch helfen. Mit ihrem spärlichen Englisch fragt sie, ob sie die Babies baden dürfte. Dafür sollte man ihr zeigen, wie man Babies entbindet. Seitdem verbringt Margot jeden Vormittag im Krankenhaus, badet die Neugeborenen und assistiert bei den Geburten. Margot gewinnt das Vertrauen der jungen Mütter. Sie sieht deren Armut und dass sie sich keine Babyausstattung anschaffen können. So nutzt sie ihre guten Kontakte bei der deutschen Community und sammelt dort Geld, um Babysachen nähen zu lassen.

1966 endet Pramods Arbeitsauftrag in Neyvily. Margot und Pramod beschließen mit den Kindern in Indien zu bleiben. Die Kinder sollen dort zur Schule gehen. Pramod bekommt eine Stelle als leitender Ingenieur für Düngemittelanlagen in ganz Indien, und die Familie zieht nach Udyogamandal in Kerala, wo ihr in ein Haus auf dem Firmengelände von FACT zur Verfügung gestellt wird. Fast alle Einwohner der kleinen Stadt sind bei FACT beschäftigt. Im Garten gibt es Kokos- und Ananaspalmen, einen großen Mangobaum, auch Hühner, und das Gelände geht in eine Bananenplantage über. Margot schließt Freundschaft mit den Nachbarinnen, welche eifrig bemüht sind ihr zu zeigen, wie man indisch kocht. Alle diese wunderbaren Gewürze und Zutaten sind neu für Margot. Berlin war ja damals – kulinarisch gesehen – eine Wüste! Und in Neyvily hat ihr ein Koch geholfen. Über ihre immer besser werdenden Kochkünste – Fisch mit Kokosmilch, Sambar mit „Drumsticks“, Kokos-Chutney – freut sich Pramod sehr. Und sie lernt, wie wahr der Spruch doch ist: „Liebe geht durch den Magen“. Eine neue Anschaffung beschert der Familie ein weiteres neues Lebensgefühl: ein Auto, und zwar ein „Ambassador“, ein indisches Luxus-Auto! Jetzt können sie endlich reisen und das riesige Land erkunden. Sie fahren u.a. in die Berge des Nilgiris, besuchen das Elefantenreservat in Thekali, die Teeplantagen im Hochland, den Indischen Ozean bei Trivandrum, die Südspitze Indiens, wo zwei Ozeane zusammentreffen. Ihre längste und abenteuerlichste Reise führt sie von Cochin über Bangladore, Hyderabad, Nagpur, Sagar, Agra, Delhi nach Jaipur, zurück über Bombay nach Goa und durch die Berge nach Cochin. Alles über holprige Landstraßen; es gibt noch keine Autobahnen. Rast machen sie wie die Lastwagenfahrer in simplen Gaststätten, und die Nächte werden auf Charpoys verbracht. Gelegentliche Pannen erfordern höchstes Improvisationstalent. Auf dieser Reise legen sie 6000 Kilometer zurück.

Es folgen zwei Jahre in Bombay, wo sich Margot besonders wohlfühlt. Die großen öffentlichen Doppeldeckerbusse erinnern sie an Berlin. Die Familie wohnt im 16. Stock eines Wohnhochhauses. Es ist die Zeit des kurzen Kriegs zwischen Indien und Pakistan. Nachts müssen die Fenster verdunkelt werden; kleine Leuchtkugeln steigen auf und von Ferne hört man Sirenen. Margot ist, wie so oft, mit den Kindern allein zu Haus und hat panische Angst. Plötzlich fühlt sie sich wie in den Neuköllner Bombennächten von 1944/45, die sie im Luftschutzkeller verbracht hat. Aber ein Freund, hohes Mitglied des indischen Militärs, der sie besucht, kann sie beruhigen: Bombay ist nicht in Gefahr. Die Flugzeuge fliegen nach Bengalen. Wenig später trennt sich Indien von Bangladesh.

1972 macht sich Pramod selbstständig, gründet die Firma „Petrochemical Engineering Co.(P)Ltd. und berät bis 2012/13 sehr erfolgreich europäische, amerikanische und indische Firmen neben noch vielen anderen Aufgaben. Die Familie zieht nach New Delhi in ein großes, weitläufiges Haus mit vielen Zimmern, sieben Bädern und einem herrlichen Dachgarten. Jedes Kind bekommt sein eigenes Reich. Das Haus ist in einem großen Garten eingebettet und ringsum von einer Mauer umgeben. Die Kinder gehen - wie auch in den anderen Städten - auf eine englischsprachige Schule. Der Schuldirektor verlangt, dass Arya, der Älteste, auch noch Sanskrit lernen soll. Das kann Margot schließlich abwenden, nachdem sie sich vom Direktor eines deutschen Instituts bescheinigen lässt, dass ihr Sohn bereits fließend Deutsch spricht. Seit ihrem Schuleintritt haben die Kinder bereits Tamil, Malayalam, Maharati gelernt, und in Delhi steht noch die Amtssprache Hindi an. Noch eine Sprache würde sie überfordern. Allerdings spricht in Indien jeder außer Englisch mindestens zwei bis drei indische Sprachen.

1975 kauft Pramod vor den Toren der Stadt ein Stück Farmland, errichtet darauf ein kleines Haus, pflanzt Bäume und legt einen Rosengarten sowie eine große Rasenfläche an. Diese Farm wird für viele Jahre Zufluchtsort und Familienmittelpunkt. Margot legt sich 5000 Hühner zu. Trotz liebevoller Pflege gehen fast alle Tiere an der Hühnerkrankheit ein.

1976 erkrankt der älteste Sohn schwer. Amöben zersetzen seine Leber. Margot muss mit ihren drei Söhnen nach Deutschland zurück. Sie sollen dort ihr Abitur machen. In Butzbach/Hessen versuchen sie sich wieder einzuleben, während Pramod 1977 in der neuen Stadt Noida in Nordindien seine neue Firma „Apparatebau“ gründet, die riesige Behälter aus Edelstahl für Milch, Diesel etc. herstellt. In Indien kann er viel billiger produzieren als die Konkurrenzfirmen in Deutschland und ist somit erneut erfolgreich. Pramod kauft für seine Familie in ein Haus in Langgöns, und die beiden älteren Jungen schließen die Schule ab. Pramod und Margot pendeln zwischen Indien und Hessen. Die spätere Bilanz: Pramod hätte mit seinen Flugkilometern 17 mal die Erde umrunden können.

Schon seit langer Zeit hat Margot die Idee Kunsthandwerk aus Indien in Deutschland zu verkaufen. Jetzt hat sie Zeit sich darum zu kümmern. In Delhi kauft sie Holzgeschnitztes aus Saharanpur, Marmordöschen aus Agra, Teppiche aus Benares und Jaipur sowie Seidentücher, Schmuck und Kleidung. Sie mietet Räume an und veranstaltet Basare. Gleichzeitig wird sie zur Anlaufstelle für Indienfragen. Es kommen Menschen, die Kinder adoptieren wollen, oder auch Reisende, die Tipps brauchen. Ende der 1970er-Jahre beginnen die Deutschen in die Ferne zu reisen; die Hippiebewegung ist Mode, und viele lieben das indische Kunsthandwerk. Margot eröffnet ein Geschäft, dem zwei weitere folgen. Sie laufen hervorragend, so dass sie diese 1982, als sie wieder mit ihrem jüngsten Sohn Ravi zurück nach Neu Delhi geht, mit Gewinn verkaufen kann. Die großen Söhne beginnen mit dem Studium in Berlin. Ravi macht an der Deutschen Schule in Neu Delhi die Mittlere Reife und fliegt danach allein nach Hessen, um in Gießen das Gymnasium zu besuchen und sein Abitur abzulegen. Das zu akzeptieren ist für Margot nicht leicht. Aber sie sieht ein, dass auch der Jüngste erwachsen geworden ist. Pramod hat jetzt ein Büro in Neu Delhi, von dem aus er seine verschiedenen Firmen, zwei davon in Noida und Dehradun, steuert. Margot ist nun die Frau eines erfolgreichen Geschäftsmannes.

Doch nicht nur Familie und Geschäft zählen zum Lebensinhalt von Margot und Pramod, sondern auch soziales Engagement. Sie finanzieren verschiedene Stiftungen, die Menschen in Not helfen sollen. In einem dieser Projekte erhalten Menschen ein wenig Geld, um sich eine Kuh kaufen oder Gladiolen züchten zu können, um vom Erlös der Milch oder der Blumen etwas für den Lebensunterhalt  zu verdienen. In einem anderen Projekt ist es die Förderung einer Schule, in der gehörlose Kinder aus einem Slum mit Hörgeräten versorgt und unterrichtet werden. Gemeinsam mit gesunden Schülern werden Bilder gemalt, diese ausgestellt und schließlich als Postkarten reproduziert, um sie zu verkaufen und Spenden einzuwerben. Pramod ist ein verantwortungsvoller Arbeitgeber und sorgt dafür, dass jeder Arbeiter in der Fabrik oder im Haushalt krankenversichert ist, denn es gibt keine staatliche Versicherung.

1984 gibt es bei der Fabrik in Dehradun, die 1978 gegründet wurde, Schwierigkeiten, so dass sich Pramod persönlich um den Betrieb kümmern muss. So ziehen Pramod und Margot wieder um und wohnen auf dem Fabrikgelände hoch auf dem Berg in wunderbarer Umgebung. Aber in der Anlage werden Pestizide hergestellt, und Margot, die am wenigsten ihren Wohnort verlässt, wird nach mehreren Monaten schwer krank. Deshalb belastet sie die Nachricht des Mordes an Indira Ghandi am 31. Oktober 1984 besonders schwer. Bei den Klängen der indischen Santoor, einer Art Zither, findet sie Ruhe und Trost. Auch auf der Familienfarm in Delhi kann sie sich erholen. Trotzdem ist es für ihre Gesundheit besser wieder in Deutschland zu leben.

Die kommenden zehn Jahre, von 1986 bis 1996, verbringt Margot in ihrem Haus in Langgöns. Pramod bleibt in Indien, muss sich um seine Firmen, aber auch um seine alten Eltern und seine Schwestern kümmern. Die beiden besuchen sich gegenseitig, wann immer es möglich ist. Auch in Langgöns hilft Margot, wo es nötig ist: bei der häuslichen Altenpflege, bei Menschen mit Problemen. 1993 ein Lichtblick, der neuen Aufschwung bringt: Shanti, der zweite Sohn, siedelt mit seiner Frau Priya und den beiden Töchtern nach Deutschland über.

Von 1996 an entledigt sich Pramod schrittweise seiner geschäftlichen Verpflichtungen. Margot und Pramod beschließen wieder nach Berlin in Margots alte Heimat zu ziehen. Nach dem Mauerfall ist Berlin wieder spannend. Auch Sohn Arya wohnt inzwischen mit Familie in Berlin. Sie beziehen ein Reihenhaus in Lichtenrade und treffen die vielen alten Freunde wieder. Es soll aber nicht der endgültige Ruhesitz werden: Arya geht zwar mit seiner Familie nach Kanada, aber Shanti und Priya leben mit ihren inzwischen drei Töchtern in Hamburg. Als bewusste Großeltern wollen Margot und Pramod in der Nähe der Enkelinnen sein und ziehen von 2007 bis 2011 ebenfalls nach Hamburg. Als sie weniger gebraucht werden überkommt sie wieder die Sehnsucht nach Berlin. Sie vermissen ihre Freunde. Und als man Shanti eine neue Stelle in Wien anbietet, packen Margot und Pramod erneut ihre Kisten...

Sie finden ein wunderbares kleines Haus in Rudow, Berlin-Neukölln, wo sie wohl endgültig angekommen sind, und genießen ihren großen Familien- und Freundeskreis. Margot engagiert sich natürlich auch in Neukölln, unterstützt das Museum mit ihren Erfahrungen aus ihrer Neuköllner Kindheit. Sie sammelt Puppen und schreibt ihre Erinnerungen auf. Pramod hat noch mit den letzten Abwicklungen in Indien zu tun und freut sich, dass sein Sohn Shanti sich beruflich in Indien engagiert. Ihre Familie mit den drei Söhnen, den Ehefrauen, 11 Enkeln und 3 Urenkeln hält sie zusätzlich auf Trab.

Anschließend an diesen beeindruckenden Bericht dürfen wir uns die Saris und Kunstgegenstände genauer ansehen. Schwiegertochter Priya wickelt einen blauen Seidensari um Bettina Stahn, der ihr sehr gut steht. Wir haben einen Moment Zeit über Margot Sharmas Geschichte nachzudenken. Wie die beiden das geschafft haben, all diese Widrigkeiten und Herausforderungen zu meistern! Zum 80. Geburtstag von Pramod hat Margot ein Fotobuch über ihr gemeinsames Leben zusammengestellt. Wir dürfen einen Blick hineinwerfen. Zum Schluss schreibt Margot, dass sie beide wohl nicht als Lebenskünstler geboren wurden, aber im Lauf der Jahrzehnte gelernt haben, sich auf die jeweiligen Gegebenheiten einzustellen. „Unsere unerschütterliche Liebe füreinander sowie das gegenseitige Vertrauen bildeten dafür das Fundament...im Lebensalltag war es oft der Humor, der uns half, die Dinge nicht allzu ernst zu nehmen.“