Dr. Martin Steffens - Das Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“
Dr. Marin Steffens,
der engagierte und vielbeschäftigte Kunstmanager, zögert nicht lange mit seiner
Zusage das Erzählcafé zu besuchen. Er ist (gemeinsam mit Thorsten Schlenger)
Leiter des Kunstfestivals „48 Stunden Neukölln“, das seit 19 Jahren besteht.
2008 stieg er als künstlerischer Leiter ein, 2009 wurde ihm die Gesamtleitung
übertragen.
Angefangen hat alles im Jahr 2004. Martin Steffens arbeitet
seit mehreren Jahren an seiner Dissertation und sehnt sich nach sozialen
Kontakten. Bei einem Besuch des Kunst- und Kulturfestivals „48 Stunden
Neukölln“ fällt ihm das Projekt „kunstraum t27“ in der Thomasstraße besonders
auf. Die Ausstellung in diesen Räumen spricht ihn an. Er erfährt, dass immer
wieder Künstlerinnen und Künstler gesucht werden, die im kunstraum t27 eine
Ausstellung machen wollen. Das ist seine Chance aus der wissenschaftlichen
Isolation herauszukommen! Er bewirbt sich und kann, gemeinsam mit einem
Künstler und einer Künstlerin (Susann Kramer, die später mit ihm
Vorstandsvorsitzende des neu gegründeten Kunstvereins wird), seine Arbeiten
präsentieren. Die drei haben ihren Spaß und sind dabei erfolgreich. Ende 2005
wird Martin die Projektleitung angeboten. Der kunstraum t27 ist vom
Kulturnetzwerk Neukölln e.V. gegründet worden, um Projekte für Künstler zu
schaffen, die sonst nicht von ihrer Arbeit existieren können. Viele Neuköllner
Kunstschaffende leben von Hartz IV, und sie sollen durch geförderte Projekte
wieder den Anschluss an das Geldverdienen bekommen.
Martins künstlerische Tätigkeit beginnt jedoch mehr als 15
Jahre früher mit dem Zivildienst nach dem Abitur. Seine Nachtwachen im Bereich
der Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung lassen ihm großzügig bemessene
freie Zeit; er beginnt zu malen. Er wünscht sich eine künstlerische Ausbildung
und bewirbt sich an der Kunstakademie in Düsseldorf, aber gleichzeitig an der
Universität Münster, um alternativ Kunstgeschichte studieren zu können.
Düsseldorf lehnt ab, Münster sagt zu. „Damit wurde die erste Weiche für meine
berufliche Laufbahn gestellt“, meint Martin Steffens. Das Fach Kunstgeschichte
gefällt ihm sehr. Dennoch sorgt er dafür, dass neben dem Kunstgeschichtsstudium
und den späteren wissenschaftlichen Publikationen sowie kuratorischen Arbeiten
seine kreative Seite nicht vernachlässigt wird. 1991 zieht Martin nach Berlin,
um dort das Studium fortzusetzen. Er ist begeistert, was Berlin alles zu bieten
hat und fühlt sich sofort zu Hause. In der Neuköllner Weserstraße findet er ein
günstiges WG-Zimmer, später wechselt er in die Richardstraße.
Als die Förderung für das Projekt im kunstraum t27 Ende 2007
nach zwei Jahren ausläuft und der Projektraum geschlossen werden soll, gründen
Künstler und interessierte den Verein „kunstraum t27 e.V.“, ab 2011
„Kunstverein Neukölln e.V.“, um einen Rahmen für ihre vielfältigen Aktivitäten
in Nord-Neukölln zu haben. Vorsitzende sind Martin Steffens und Susann Kramer.
Martin übernimmt die Leitung des Festivals „48 Stunden Neukölln“. Die
Vorgängerin, Ilka Normann, wird Geschäftsführerin des Kulturnetzwerks. (Im 1995
gegründeten Kulturnetzwerk Neukölln e.V. finden sich öffentliche Einrichtungen,
private Träger, Vereine und Initiativen zu kultureller Stadtteilarbeit
zusammen. Über die notwendigen Ressourcen in der Kultur sollen sinnvolle
Tätigkeiten für Arbeitslose geschaffen werden. Das Kulturnetzwerk Neukölln
zählt zurzeit 59 Mitglieder.) Im ersten Jahr 2008 teilen sich Martin Steffens und Ilka
Normann die Führung der „48 Stunden“, so dass Martin in die „Geheimnisse der
Festivalleitung“ eingeführt werden kann. Seit 2009 ist Martin alleiniger
Festivalleiter. 2013 kommt Thorsten Schlenger hinzu, so dass es jetzt erstmals
zwei feste Leiter gibt.
Ende 2015 muss der Kunstverein aus der Thomasstraße
ausziehen. Neukölln hat sich in der Zwischenzeit verändert. Es ist jetzt
schick, in Nord-Neukölln zu wohnen. Vor allem Studenten und junge, kreative
Menschen fühlen sich angezogen. Damit steigen die Mieten. Das Haus Thomasstraße
27 wird verkauft; der neue Eigentümer will die Einheiten teuer veräußern. Die
Erdgeschossfläche wird derzeit unsaniert für „wahnwitzige 430.000 €“ angeboten.
Da kann der Kunstverein Neukölln nicht mithalten. Er findet sein neues Domizil
in der Mainzer Straße 42. Für den Körnerkiez, in dem die Thomasstraße liegt,
ist es ein großer Verlust. Vom kunstraum t27 gingen wichtige Impulse aus. Zehn
Jahre lang hat sich Martin an Ausstellungen und Kunstaktionen im Kiez und im
Körnerpark beteiligt. Sechs Jahre lang konnte er als Mitglied im Quartiersrat
an Verbesserungsmaßnahmen für den Stadtteil mitwirken.
Das Festival „48 Stunden Neukölln“ wird vom Kulturnetzwerk
Neukölln organisiert und besteht seit 1999. Ursprünglich ist es eine Reaktion
auf die negative Berichterstattung über Nord-Neukölln, den Berliner Bezirk mit
dem schlechtesten Ruf, die „Bronx von Berlin“. „Im
Arbeiterbezirk Neukölln zeigen Verwahrlosung, Gewalt und Hunger den sozialen
Niedergang an“, schreibt zum Beispiel 1997 Der Spiegel und gibt eine
erschreckende Analyse über den Norden Neuköllns ab. Mit dem Festival, das für
ein Wochenende im Juni von Freitag 19 Uhr bis Sonntag 19 Uhr vorgesehen ist,
wollen Kulturschaffende, engagierte Bürger und die lokale Kulturverwaltung
einen Gegenpol schaffen, um die vielfältigen sozialen Akteure in Erscheinung zu
bringen und einen Austausch anzuregen. Auch prangern sie drastische
Mittelkürzungen im Bereich Kultur an. Neben den etablierten Kunstinstitutionen
sollen sich private und öffentliche Räume für künstlerische Projekte öffnen.
In den ersten Jahren
gibt es noch einen relativ hohen Etat, von dem ein großes Straßenfest auf der
Karl-Marx-Straße mit zahlreichen Bühnen und viel Musik veranstaltet wird sowie
ein dezentrales Kunstprogramm. Das Dezentrale wird in den ersten zehn Jahren stärker
herausgearbeitet, das Straßenfest dagegen verworfen – auch weil die
Finanzierung dafür wegbricht. Eine Ausnahme macht „Kiez International“ mit dem
Bühnenprogramm der „Bewegten Welten“, das die Werkstatt der Kulturen
organisiert und ein begeistertes Publikum hat. Auf dem Richardplatz kommen viele
internationale Kulturvereine zusammen, die von in Neukölln lebenden
ausländischen Gastarbeitern gegründet wurden: Griechen, Türken, Kurden, Serben
etc. Diese bereichern es mit landestypischen Speisen, folkloristischer Musik
und Volkstänzen. Im Lauf der Jahre werden die Initiatoren aber älter und es
findet sich immer weniger Nachwuchs für dieses Fest.
Viele in Berlin Geborene möchten
weiterhin ihre nationale Identität pflegen, auch wenn sie sich primär als Berliner
oder Neuköllner empfinden. Aber die konkrete Identität scheint einer eher „diffusen
Form des Postmigrantischen“ gewichen zu sein. Viele der in der dritten
Generation hier Lebenden wollen als Angekommene wahrgenommen und nicht nur als
Kurden, Griechen oder Türken angesprochen werden. Auch wenn es immer wieder
Förderungen für „migrantische Kunst“ gibt, verstehen sich viele der etablierten
Künstlerinnen und Künstler als international arbeitend. Eine Reduktion auf
ihren Status „Migrant“ lehnen viele ab.
Andererseits weiß Martin, dass es zum Beispiel eine
türkisch-kurdische Kunstszene in Neukölln gibt, die sich bislang nicht
ausreichend an den „48 Stunden“ beteiligt. Martin und sein Team wollten
erfahren, woran das liegt und was die Festivalleitung tun muss, um auch von
diesen Künstlern wahrgenommen zu werden. Nach einem Vernetzungstreffen mit einigen
Vertretern dieser Community konnte exemplarisch festgestellt werden, dass hier
eine dezidierte Einladung ausgesprochen werden muss. Im Festival 2017 werden deshalb
aus dieser Gruppe wesentlich mehr Aktive teilnehmen.
Seit 2001 versuchen die Organisatoren der „48 Stunden
Neukölln“ die selbstbestimmten künstlerischen Angebote stärker zu koordinieren
und ihnen einen inhaltlichen Rahmen zu geben. Durch eine klare Profilierung
wollen sie die Qualität steigern und neue Künstler nach Neukölln holen. Seit
2004 beschränkt sich das Festival auf Nord-Neukölln. 2005 werden in
verschiedenen Kiezen „Kunstfilialen“ eingerichtet, um die Künstler und ihre
Aktivitäten besser im Sinne des Netzwerkgedankens zusammenzuführen. Doch das
Festival mit seinen vielen dezentralen Veranstaltungsorten weitet sich aus, bis
es von den Verantwortlichen fast nicht mehr gesteuert werden kann. Es gibt auch
nicht mehr Geld. Und es droht die Gefahr, dass es langweilig wird, weil manche
Künstler immer wieder ähnliche Arbeiten ausstellen. Im Jahr 2010 gibt es 350
Orte mit 800 Veranstaltungen. Nach der Überarbeitung des Konzeptes sind es seit
2015 nur noch 250 Orte mit 400 Veranstaltungen. Damit ist die Professionalität
gesteigert und die Organisationsstruktur angepasst worden.
Das Team besteht jetzt aus zwei Leitern, acht Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen sowie vier selbstständig arbeitenden „Vernetzungspatinnen“,
die die Aufgabe der inzwischen wieder abgeschafften Kunstfilialen übernehmen,
nämlich die Entwicklung in den Kiezen und seinen Künstlern zu beobachten und zu
registrieren. Punktuell kommen noch weitere Leute hinzu. Dieses Team, das das
ganze Jahr zur Verfügung steht, arbeitet professionell. Es sorgt für die
Finanzierung, die Öffentlichkeitsarbeit, für die Webseite und für die richtige
Struktur, in der sich kulturelle Vielfalt entwickeln kann.
Die teilnehmenden Künstler arbeiten in der Regel ehrenamtlich.
Sie können sich allerdings auf eine professionelle Organisationsstruktur
verlassen, die das Festival ihnen bietet. Jedermann kann sich mit einem Projekt
bewerben. Man muss kein ausgebildeter Kunstschaffender sein. Insofern hat das „48
Stunden“-Neukölln-Festival eine Sonderstellung unter den Kunstfesten, die
meistens Hochkultur präsentieren wollen und möglichst bekannte Künstler
präsentieren. Dafür bekommen sie einen riesigen Etat. „48 Stunden Neukölln“ ist
extrem niedrig finanziert und hat auch gar kein Interesse, so exklusiv zu
werden. Allerdings ist es ein Traum, Künstler für ihre Arbeit auch bezahlen zu
können. Doch dafür fehlt bei weitem das Budget.
Das Festival will den Stadtteil zeigen und was die Künstler
darin zu sagen haben – und was internationale Kunst präsentiert, die auf den
Stadtteil bezogen ist. Das heißt, hinter dem Festival steht ein Konzept, dass
sich auf Nord-Neukölln festlegt, um dort gemeinsam mit den Akteuren
„beglückend“ Kunst zu produzieren. Was das bedeutet, muss in jedem Jahr neu
definiert werden. Das Team hat die Aufgabe, die Entwicklung Neuköllns zu sehen,
sogar vorwegzunehmen und dafür zu sorgen, dass das Festival jedes Jahr unter
ein passendes und herausforderndes Thema gestellt wird.
Bei der Themenfindung für das Jahr 2016 gingen nach einem
Aufruf 70 Vorschläge ein, die eine 14-köpfige Jury begutachtete. Es war ein
spanischer Künstler, der eine überzeugende Begründung für SATT lieferte, das
als Thema gewählt wurde. Er wollte das Phänomen einer übersättigten und zugleich
unbefriedigten Gesellschaft untersuchen lassen. „Das Thema des kommenden Jahres
wird SCHATTEN sein“, verrät Martin und erwartet vielfältige Assoziationen und
Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft und der gegenwärtigen Politik.
Zum Anmelden gibt es drei Sparten: Ateliers, Kunsträume,
Führungen. Die Ateliers und Kunsträume sind als Orte, an denen Kunst gemacht
wird, das Rückgrat Nord-Neuköllns. Sie zeigen das, was bei ihnen gerade aktuell
ist, unabhängig vom Jahresthema. In der Regel kommen etwa 100 Veranstaltungen
zusammen. Das eigentliche Kunstfestival ist der wichtigste Teil. Dafür gibt es
ein Bewerbungsverfahren. Die einzige Bedingung ist, dass sich das
vorgeschlagene Projekt auf das Jahresthema beziehen muss und in Nord-Neukölln
realisiert wird. Eine Jury spricht die Empfehlungen aus. Überzeugt ein Konzept,
schaut das Organisationsteam, ob es vielleicht extern finanziert und an welchem
Ort es am besten präsentiert werden kann. Hier ist die kreative Leistung des
Teams gefragt. Ein kleines Risiko ist dabei, wenn man beispielsweise den
Künstler noch nicht kennt und weiß, wie er oder sie arbeitet: Wird ihm die
Umsetzung seines Konzeptes wirklich gelingen?
Das Programm für Kinder und Jugendliche wurde vor vier
Jahren ausgegliedert und findet unter dem Namen „Junge Kunst Neukölln“ zur
selben Zeit statt. Wichtigster Partner ist das Young Arts Neukölln. Das
Jahresthema will man kindgerecht ausdrücken. 2014 zum Beispiel wurde das Thema
COURAGE für die Kinder in MUT übersetzt. 2017 wird es LICHT sein, das Gegenteil
von SCHATTEN. Für die Zukunft suchen die Veranstalter nach einem Ort, wo alle
Aktivitäten der „Jungen Kunst“ zusammengefasst werden können
Das Festival „48 Stunden Neukölln“ präsentiert nicht nur
bildende Kunst sondern auch Musik, Literatur, interdisziplinärer Tanz,
Videoprojektionen. Neben dem Jahresthema gibt es weitere jährlich
unterschiedliche Schwerpunkte, um die Festivaljahre unterscheidbar zu machen.
Da es sich um eine Großveranstaltung handelt, muss das Ordnungsamt über strenge
Sicherheitsauflagen wachen. Es gibt keine Open-Air-Bühne mehr, und nach 18 Uhr
ist elektronisch verstärkte Musik im Außenraum verboten. Martin bedauert diese
Einschränkungen und weist auf den positiven Effekt des Festes hin. 2016 haben
sich mehr als 1200 Künstler an 250 Orten mit dem Thema SATT beschäftigt und bis
zu 80.000 Besucher angelockt, die Nord-Neukölln mit seinen Galerien, Ateliers
und Hinterhöfen entdecken wollten. Das Kunstfestival hat in den vergangenen 18
Jahren dazu beigetragen, das Image Neuköllns zu verbessern, indem es die
positive Seite seiner Vielfältigkeit aufgezeigt und Entwicklungen ermöglicht
hat. Wie es sich verändert, wenn die Aufwertung durch die starke Nachfrage nach
Wohnraum weiter zunimmt und auch Atelierplätze knapp werden, wird sich zeigen.
Das könnte im Rahmen eines neuen Jahresthemas behandelt werden.