Donnerstag, 14. September 2017
Wolfgang Endler
NachGeburt
Sommer
2000, Freilichtbühne Friedrichshain –
Carow‘s
COMING OUT noch im Hinterkopf
gehen
meine Füße fast wie von allein
zum
Krankenhaus. Wie ein alter Zopf
hängt
schwer mir etwas an,
was ich
kaum greifen kann.
Dann
dämmert‘ s mir, ein Film läuft ab:
schwarz-weiß
und stumm, plötzlich ein Schrei.
Schnell
bringt er Herz und Hirn auf Trab –
Schnitt
– und die Szene ist vorbei.
Erblick‘
das Licht der Welt zum ersten Mal,
getrübt
vom Staub der Trümmer, matt und fahl.
Im
Hintergrund Hügel aus Schutt und Schrott,
BruchStücke
von SCHLOSS und REICHSKANZLEI.
Man
tauft mich WOLFGANG VON MONT KLAMOTT
brandneuer
Adel nach WELTKRIEG ZWEI.
Auf
Phosphor-Granaten, Bomben und Minen
folgt
AUFERSTANDEN AUS RUINEN.
SIEBZEHNTER
JUNI, fast war ich sieben,
als
Panzer die STALIN-ALLEE leer fegten.
Mochte
den ROTEN STERN nicht mehr lieben
und
manche Lieder, die mich sonst bewegten.
Und als
‘68 in PRAG Panzer brannten,
ging
mehr entzwei als nur Bordsteinkanten.
Die
westliche ‘68er REVOLTE
verfolgte
ich NICHT mit verklärtem Blick.
Das lag
nicht daran, dass ich‘s nicht wollte;
nur ein
paar Tür‘ n hielten mich zurück
und
GLASBAUSTEINE. Im STASI-KNAST
hab‘
ich ein paar Jahre BEWEGUNG verpasst.
ZEHN
Jahre nach dem MAUERBAU
fiel‘ n
für mich ALLE Mauern - ich wurd‘ umgezogen
von
Berlin nach BERLIN! Mit dem Morgentau
bin ich
in TEMPELHOF eingeflogen.
BYE,
BYE, LOVE im Ohr schwebte ich über‘ s Rollfeld,
im
alten Anzug weder West- noch OstGELD.
Ich
wurde empfangen von Tanten und Nichten,
neuer
OSTPOLITIK und – Berufsverboten;
von
vielen RECHTEN – und noch mehr Pflichten
sowie
ein paar LINKEN, genannt CHAOTEN.
Mehr
als nur EINE dicke „AKTE ENDLER“
wurde
angelegt über OST-WEST-PENDLER.
Nun
schreib‘ ich GESCHICHTE – oder sind‘ s
nur Geschichten
über
allzu Deutsches, abgestanden und alt?
Oder
ließe sich daraus noch etwas verdichten
zur
Erbauung, ganz ohne verbale Gewalt?
Habe
beim freien Fliegen viele Federn gelassen.
Mit denen zu schreiben, möcht‘
ich NICHT bleiben lassen.
Wolfgang Endler – Der schreibende Grenzgänger
Wolfgang Endlers Biografie steckt
auch in seinen geschriebenen Werken. Und so liest er aus seinem 2016
erschienenen Buch „GrenzGänger – ÜberFlieger“ erst ein Gedicht (NachGeburt) und
anschließend eine Episode (Verschiebebahnhof) vor. Wolfgang verwandelt lieber
Inhalte in rhythmische Texte, anstatt kalte Zahlen und Fakten aufzulisten. Unter
den zahlreich erschienenen Zuhörenden sitzen einige Freunde, die meisten aber
kennen ihn noch nicht. Sie wissen nur das, was in der Einladung stand:
Ost-Berliner, Orthopädiemechaniker, Haft, Abschiebung in den Westen,
Biologiestudium mit Promotion, Autor und Entertainer. Wolfgang bittet nach
dieser kurzen Lesung das Publikum um Fragen. Einige von Wolfgangs Freunden melden
sich zu Wort und nutzen ihr Insiderwissen, andere Anwesende stellen
grundlegendere Fragen. Wolfgang antwortet ausführlich mit vielen Beispielen, so
dass allmählich in den Köpfen aller Zuhörenden ein Bild von ihm entstehen kann,
wenn auch mit Lücken.
1946
wird Wolfgang Endler in Ost-Berlin geboren. Er wächst im idyllischen Vorort
Friedrichshagen in einer musikalischen und feierfreudigen Familie auf. Sein
Vater, ein Fernmeldemonteur, hat kurz nach dem Krieg seine Geige für
Lebensmittel hergeben müssen, doch es bleibt ihm seine Gitarre. Auch Wolfgangs
Schwester, die später Kindergärtnerin wird, lernt Gitarre spielen, die anderen
Kinder singen und blasen auf dem Kamm. Bei Familienfeiern, zu denen sich bis
zum Mauerbau die Ost- und West-Berliner Verwandtschaft zusammenfindet,
verkleiden sie sich, tragen Gedichte vor, singen amerikanische Gospels und
russische Volkslieder. Glückwunschkarten zu den unterschiedlichsten Anlässen
werden eigenhändig gestaltet und mit einem selbst verfassten Gedicht versehen. Zur
West-Berliner Verwandtschaft gehört eine besonders eindrucksvolle Dame:
Wolfgangs Großtante. Sie ist Hauptbuchhalterin bei „Butter Beck“ und eine
absolute Amüsiernudel. Im Betrieb organisiert sie Feiern für 500 Personen. Und
auch bei den Familienfeiern ist sie die treibende Kraft. Das Kind Wolfgang ist
beeindruckt und erklärt sie zu seiner Lieblingstante, nicht nur weil sie seine
Patentante ist. Wenige Jahre später werden die Friedrichshagener in den Augen mancher
West-Berliner aus dem Umfeld der Familie als „ostdeutsche Amüsier-Neger“ gesehen.
Steigender Wohlstand im Westen hat sie zunehmend behäbiger, saturierter werden
lassen. Diese Westler sind wahrscheinlich ein wenig neidisch, dass die
Ost-Berliner Familie auch ohne Alkohol fast immer gute Laune hat, und sie
besuchen sie zu allen Familienfesten bis zum Jahr 1961, in dem die Mauer einen
Schlussstrich setzt.
Wolfgang
ist noch ein Kind, als sich seine Eltern eines der ersten Tonbandgeräte zulegen,
die in der DDR erscheinen. Es kostet 470 DDR-Mark. Das ist zu dieser Zeit unglaublich
viel Geld, und die Eltern, die sich sonst kaum etwas leisten können (zum
Beispiel einen Fernsehapparat) zahlen diese Summe Jahre lang ab. Wolfgang
profitiert von diesem familiären technischen Fortschritt. Bereits als Dreizehnjähriger
lernt er mit dem Mikrofon umzugehen und weiß, wie man Vorträge und Musikstücke
schneidet: „Das braune Band mit einer Rasierklinge scharf anschneiden, mit
Lösemittel betupfen, neu verkleben und schon ist das Schweigen raus wie bei Dr.
Murkels gesammeltem Schweigen“, erklärt Wolfgang in seiner
ironisch-doppeldeutigen Art. „Ich habe erst viel später begriffen, wie wichtig
es für meine Eltern war, ein solches Gerät zu besitzen, weil sie damit etwas
gestalten konnten: Situationen aufnehmen, die man sich Jahre später wieder
vorspielen kann.“ Als Wolfgang bei der Nationalen Volksarmee seinen
Militärdienst ableistet, wird er Sprechfunker, und seine Vorgesetzten wundern
sich, wie souverän er mit den Geräten umgehen kann.
Wolfgang
besucht in Friedrichshagen die Polytechnische Oberschule. Sein Deutschlehrer
erkennt sein Talent, zugespitzte Texte zu formulieren, fördert ihn durch
geeignete Literatur und bestimmt ihn zum Redakteur der Klassenwandzeitung. Seit
er 14 Jahre alt ist, übt sich Wolfgang im Schreiben von kurzen Texten,
Gedichten und Aphorismen. Den letztgenannten Begriff lernt er am Beispiel der
scharfsinnigen Sprüche des polnischen Autors Stanislaw Jerzy Lec kennen, die im
„Eulenspiegel“ veröffentlicht werden. In dieser satirischen Zeitschrift der DDR
entdeckt Wolfgang wertvolle Anregungen, die er ausschneidet, an die Wand heftet
und mit Kommentaren versieht. Auch das verbotene Abhören von West-Radiosendern
wie den RIAS bringt ihm viele neue Ideen. Doch Wolfgang übertreibt es manchmal
mit seinen Witzen und kritischen Bemerkungen, so dass der Lehrer einschreiten
muss. Einmal zielt ein grober Scherz auf den Sohn des Landesforstmeisters, dessen
Vater sowohl ein strenger SED-Genosse in leitender Position wie wahrscheinlich
auch für die Stasi tätig ist. „Hätte mich der Lehrer nicht rechtzeitig
gebremst, wäre er womöglich zur Verantwortung herangezogen worden. Denn der
Sohn hätte sich mit Sicherheit beim Vater beklagt. Das habe ich selbstverständlich
eingesehen.“
Nach
Schulabschluss und Militärdienst lässt sich Wolfgang in einem Betrieb als
Orthopädiemechaniker ausbilden. Am 2. November 1967 passiert es: Wolfgang wird unschuldig
in ein eher harmloses Eigentumsdelikt verwickelt, als sein Freund ein
Ersatzteil bei der NVA-Transportabteilung klaut, und kommt in Untersuchungshaft
nach Neustrelitz. Schwerwiegend ist jedoch der vermutete „Tatzusammenhang“: die Idee seines Freundes, ggf. einen
bewaffneten Grenzdurchbruch zu versuchen.
Der „Angeklagte Endler“ jedoch hatte eine (zumindest in der Theorie)
viel gefährlichere Vorstellung: in der DDR politische Änderungen zu
unterstützen, wie sie in der benachbarten CSSR betrieben wurden. Nach dreieinhalb
Jahren wird er vom Westen freigekauft und dorthin abgeschoben. Über diese Zeit in
Haft mag Wolfgang nicht viel erzählen und verweist auf seine Texte. So
einschneidend die Haftzeit auch war: das Vorher und Nachher hat ebenfalls einen
hohen Stellenwert – und wer sich in die Opferrolle drängen lässt oder sich
darin einrichtet, hat nach seiner Meinung sein eigenständiges Leben
aufgegeben. Wie viele andere auch,
erhält er im Gefängnis von der Stasi ein Angebot zur Mitarbeit. Wolfgang lehnt
ab und erzählt es allen Mithäftlingen weiter, um sicherzugehen, dass die Stasi
nie wieder an ihn herantreten wird. Erst Jahre später, als er längst in
West-Berlin lebt und Einsicht in seine Stasi-Akte nimmt, erfährt er, dass
einige seiner Mitgefangenen Mitarbeiter der Stasi waren. Er hatte es allerdings
in manchen Situationen geahnt und sich deshalb in der Haftanstalt und auch
später im Westen immer mit Informationen und Kommentaren zurückgehalten. In
seiner Akte ist zu lesen, dass er sogar im Westen bespitzelt wurde. Denn sein
Mitbewohner in der ersten West-Wohngemeinschaft am Hohenzollerndamm in Berlin
war ein Stasi-Mitarbeiter. Sein Deckname: IM Werner Höfer. Der hatte sich eine
Zeitlang als Rechter getarnt und schlug zum Beispiel einmal mit einem
Totschläger am Rande einer Demo auf linke Demonstranten ein.
Ende
1967 ist die Zeit des Prager Frühlings, in der sich Alexander Dubcek um
Reformen bemüht, die am 21. August 1968 von sowjetischen Truppen gewaltsam
niedergeschlagen werden. Im Gefängnis bekommen die Häftlinge nichts von den
Entwicklungen mit. Als einzige Zeitung steht den Insassen das „Neue
Deutschland“ zur Verfügung. Wer jedoch zwischen den Zeilen lesen kann ahnt,
dass es in absehbarer Zeit in der Tschechoslowakei knallen würde. Die
Haftanstalt füllt sich von Tag zu Tag mehr. Immer öfter hört Wolfgang das
rhythmische Klacken des Schlüssels in den alten Schlössern der Gefängniszellen.
Dieses Geräusch wird er wohl nie vergessen können. „Da wurden die Leute nur auf
Verdacht ins Gefängnis gesteckt, als Präventivmaßnahme der Sicherheitsorgane!“
erklärt Wolfgang, „und ich hoffte ursprünglich, die Partei würde sich noch reformieren
können!“
Am
4. Juni 1971 wird Wolfgang in den Westen abgeschoben. Diesen Tag hat er in
„Verschiebebahnhof“ verarbeitet. Die Episode endet mit der Landung auf dem
West-Berliner Zentralflughafen Tempelhof. Sarkastisch schreibt Wolfgang: „Das
Gelände nennt sich heute: ‚Tempelhofer Freiheit’“.
Es
dauert einige Jahre bis sich Wolfgang in West-Berlin eingewöhnt. Er erlebt
einen Kulturschock, den er erst überwinden muss. Das Angebot an Konsumgütern
erschlägt ihn förmlich. Als Wertheim am Kürfürstendamm seinen Neubau eröffnet,
steht er ratlos vor einem Regal mit 20 verschiedenen Tokajer-Flaschen.
Interessant, was unsere ungarischen Freunde und Genossen so alles produzieren,
denkt er und erinnert sich an ein und dieselbe klebrig-süße Sorte, die man in
Ost-Berlin bekam. Auch sonst ist vieles anders. Die Gebäude sind nicht so
verfallen. Die Menschen haben bessere Zähne. Der Alltag ist anders organisiert.
Es gibt eine größere Mittelschicht. Die Frauen bekommen später ihre Kinder.
Wenigstens berlinern die Menschen auch im Westen; was für eine Erleichterung!
Wolfgang findet in einer Moabiter Werkstatt eine Anstellung in seinem Beruf als
Orthopädiemechaniker. Seine Kollegen sind gut ausgebildete Handwerker, mit
denen er interessante Gespräche führen und sich auch vernünftig streiten kann, selbstverständlich
auch über Politik. Die Nachwehen der Studentenbewegung sind noch zu spüren. Wolfgang
vertritt radikale linke Ansichten, die er vermutlich in einem großen Betrieb
nicht so frei hätte äußern können wie in seiner Werkstatt.
Wolfgang
ist eigentlich zufrieden mit seiner Arbeit in der Werkstatt. Doch eines Tages trifft
er in West-Berlin seinen besten Freund und früheren Mitangeklagten, der schon
ein halbes Jahr vor ihm abgeschoben wurde. Dieser empfiehlt ihm, sich weiter zu
qualifizieren und möglichst schnell ein Studium aufzunehmen. Wenn Wolfgang sich
erst an das Geldverdienen gewöhne, werde er es nicht mehr schaffen. Und er
leiht ihm 10.000 DM mit den Worten: Gib deinen Job auf. „Das war damals eine
riesige Summe, und er verlangte weder eine Quittung noch Zinsen“, sagt Wolfgang.
„Ich habe Biologie studiert und meine Doktorarbeit geschrieben. Aus heutiger
Sicht glaube ich, dass es richtig war.“ Als Negativbeispiel hat Wolfgang politisch
aktive Arbeiter oder auch Betriebsräte gut florierender Firmen wie Daimler Benz
vor Augen, die sich für die Kollegen abrackern, deren Interessen sie aber dennoch
oft nicht in vollem Umfang bei der Firmenleitung durchsetzen können. Als „Dank“
werden sie manchmal von „Kollegen“ gemobbt und bekommen dann schon einmal
frühzeitig einen Hörsturz oder ein Burnout.
Bei
seinem Studium dagegen genießt Wolfgang viele Freiheiten, obwohl er nebenbei oft
arbeitet. Außerdem kann er sich politisch engagieren. Doch das bringt Probleme.
Seit 1971/1972 gibt es die Berufsverbote für vorgebliche Verfassungsfeinde im Öffentlichen
Dienst. Und Menschen wie Wolfgang, die das System ändern wollen, gelangen oft
in den Kreis der „Verdächtigen“. Die sich rapide verschlechternde
gesellschaftliche Atmosphäre macht auch vor der „Heiligen Familie“ nicht halt.
Sie wirkt in seine Ehe hinein, verschärft die Differenzen zwischen den Partnern
und ist einer der Gründe für die spätere Trennung.
Nach
der Wende werden die Stasi-Akten für alle Bürger freigegeben. Aber Wolfgang ist
zunächst nicht daran interessiert sie einzusehen. Bis er wieder einmal seinen besten
Freund und ehemaligen „Mittäter“ trifft. Bei einem – abhörsicheren – Spaziergang
im Tiergarten rät dieser ihm, sich seine Akten bei der Gauck-Behörde vorlegen
zu lassen. Er wisse, dass viele Leute dort eine Menge wichtiger Dinge erfahren
haben. Wolfgang stellt den Antrag, muss aber dreieinhalb Jahre warten, bis er schließlich
angerufen wird. Warum so lange? fragt er und erhält die zweideutige Antwort,
dass die Akte noch „woanders“ gelegen habe. Als ihm endlich in der Behörde die
Akte vorgelegt wird, besteht diese aus drei kümmerlichen Ordnern. Die Akte muss
geplündert worden sein; sie ist nicht vollständig, weder chronologisch noch
themenbezogen sortiert. Ihm fallen Randnotizen auf; zum Beispiel „Buback-Akte“.
Er vertieft sich in die Unterlagen. Allmählich verdichtet sich das Bild.
Offensichtlich wurde er verdächtigt, ein Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ zu
sein! Deren Leute wollten eine schwedische Ministerin entführen, um Lösegeld zu
erpressen. Einige von ihnen wurden gefasst, Wolfgang jedoch habe man nicht
gefunden. Das ist ja völlig absurd! Haben Stasi und Bundesnachrichtendienst bzw.
das Bundeskriminalamt hier versucht zusammenzuarbeiten? Nach seiner
Haftentlassung hat er Mitgefangene kennengelernt, die Doppelagenten waren und die
ihm einen kleinen Einblick in solche Verbindungen gegeben hatten. Jetzt meint
er einiges zu verstehen, was er sich bisher nicht erklären konnte, wie zum
Beispiel die folgende Geschichte:
Nach
dem Diplom als Biologe promoviert Wolfgang, danach ist er arbeitslos. Er
bewirbt sich bei verschiedenen Stellen als Biologe, wird aber immer abgelehnt.
Die Zeit der Arbeitslosigkeit nutzt er, indem er sich zum Beispiel bei der
Volkshochschule Charlottenburg als Umweltberater weiterbilden lässt. Für den
Umweltschutz setzt er sich ehrenamtlich ein. Er wird Vorsitzender der
Baumschutzgemeinschaft in Berlin und arbeitet im Rat, später im Vorstand der
Stiftung Naturschutz Berlin mit. 1984 erfährt Wolfgang von Professor G.,
Lehrstuhl für Zoologie an der Freien Universität Berlin, dass er
Bewerbungsunterlagen von ihm lange nach dem Abgabetermin in seiner Ablage
gefunden hat. Das heißt, Wolfgangs korrekt adressierte und terminierte
Bewerbung muss in der Uni von irgendjemand abgefangen worden sein, so dass er
beim Verfahren nicht berücksichtigt werden konnte. Wolfgang findet das
merkwürdig. Erst nach Kenntnisnahme seiner Stasi-Akte vermutet er: Ein
Stasi-Offizier muss seine und andere Akten von „Terrorismus-Verdächtigen“ kurz
vor der Wende an den Westen verkauft haben. In den Endsechziger Jahren hieß es im
DDR-Juristendeutsch statt „Terror“ noch „Staatsgefährdende Gewaltakte“. Mit diesen dort enthaltenen falschen
Informationen hätte er wohl nie eine Stelle im Öffentlichen Dienst bekommen
können. „Toll. Dann möchte ich wenigstens einen neuen Namen haben und 100.000
DM Entschädigung“, meint Wolfgang ironisch und will nun endlich darauf zu
sprechen kommen, was ihm wirklich wichtig ist.
Wolfgang
hat mindestens drei interessante Berufe, die er gelernt und ausgeübt hat: Orthopädietechniker,
Zerspanungsfacharbeiter (Ausbildung im Knast als Dreher, Fräser und Schleifer) und
promovierter Biologe. Außerdem stellte er sein Wissen und seine Arbeitskraft
ehrenamtlich verschiedenen Umweltschutzorganisationen zur Verfügung. In all
diesen Sparten hat er gern und erfolgreich gearbeitet, aber nie dort „Karriere“
machen wollen, denn seine Berufung ist eine andere: der Umgang mit der
deutschen Sprache. Nicht nur als Schreibender, sondern auch als Darsteller. Von
Kindesbeinen an versucht er Dinge, die er beobachtet, auf den Punkt zu bringen.
Die „Skurrilität des Alltags“ soll sich in seinen Gedichten und Aphorismen
widerspiegeln. Dabei schöpft er aus dem Schatz seiner Erfahrungen: sein Leben
in der DDR, die Zeit im Knast, die verschiedenen Berufe als Arbeiter,
Wissenschaftler und Aktivist. Ihn faszinieren einfache Widersprüchlichkeiten
genauso wie die raffinierte Dialektik – im Sozialismus wie im Kapitalismus.
Bertolt Brecht hält er für einen Meister der Dialektik. Aber auch von Goethe
und Marx lässt er sich anregen. Wolfgang ist seinem Deutschlehrer noch heute dankbar
für die guten Büchertipps. Auch nach dem Mauerbau konnte man in der DDR an
interessante West-Bücher herankommen. Gemeinsam mit seinem Bruder, der an der
Humboldt-Universität studierte, sprach er westdeutsche oder Schweizer Touristen
an, die gern bereit waren, die eine oder andere heiß ersehnte Lektüre über die
Grenze zu schmuggeln. So konnte Wolfgang zum Beispiel Texte von Heinrich Böll
lesen, bevor sie in der DDR erschienen.
Schließlich
stößt er auf die Gedichte von Adolf Endler (1930 – 2009). Die „Akte Endler“ ist
in den 1980er-Jahren erschienen und wohl der bekannteste Gedichtband des
Lyrikers. Adolf Endler wurde in Düsseldorf geboren, siedelte 1955 in die DDR
über und lebte zuletzt in Ost-Berlin. Er war Lyriker, Kritiker, Essayist und
Prosaist und wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet. Es gibt zumindest eine
Wahlverwandtschaft mit Adolf Endler. „Dieser schräge Vogel wurde natürlich auch
von der Stasi beobachtet.“ Wolfgang ist trotz desselben Nachnamens nicht mit
ihm verwandt. Er verehrt ihn. „Mir gefällt seine schräge Schreibe. Seine
Gedichte sind toll“, sagt Wolfgang und erinnert sich an die ursprüngliche
Heimat der Endlers, die als Deutsche aus dem Sudetenland stammen. Dort, zum
Beispiel in Dessendorf bei Reichenberg/Liberec, dem Heimatort seines Vaters,
hießen viele Einwohner Endler. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
schufteten die Endlers in der Glasindustrie. Sie waren Glasbläser oder Glasschleifer,
litten unter dem Glasstaub und starben früh an TBC oder Staublunge.
Ebenfalls
beeindruckt ist Wolfgang vom polnischen Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec (1909
– 1966). „So präzise wie der möchte ich auch mal schreiben könnten“, dachte
sich der damals Vierzehnjährige, als er
in der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel das erste Mal Aphorismen von Lec las. Zumindest
zwei davon kann er auch heute noch auswendig: „Es heißt zwar nachdenken, aber man
sollte es trotzdem vorher tun.“ Und: „Etwas ist faul im Staate Dänemark – Oh, wie
riesengroß ist Dänemark!“ Der zuletzt genannte Spruch soll in den 1960er-Jahren
in der DDR ein Knüller gewesen sein. Ein anderes Vorbild ist Wladimir Wladimirowitsch
Majakowski (1893 –1930), der revolutionäre russische Dichter und Maler, den er
wegen seiner rhythmischen Sprache schätzt und der unkonventionellen Erarbeitung
seiner Gedichte und Aphorismen. Manche soll er mit Bleistiftstummel auf
Pappteller geschrieben haben, wie: „Dichten ist wie Uran gewinnen: Arbeit ein
Jahr. Ausbeute ein Gramm.“ „Recht hat er,“ sagt Wolfgang. „Ich bin schon froh,
wenn ein Milligramm rauskommt.“
Seit
etwa 1996 ist für Wolfgang das Schreiben zur Gewohnheit geworden. Er nutzt ein
kleinformatiges Sudelbuch und eine größere Kladde für rasche Notizen sowie das
Handy zum Aufnehmen erster Gedanken oder auch Melodien. Später wird dann
zumindest ein Teil davon in den Computer gehackt. Alles was ihm auffällt, wird
festgehalten. Tageszeitungen sind zum Beispiel eine gute Quelle. Die
Platzierung unterschiedlicher Artikel auf einer Seite bietet bisweilen
unfreiwillige Komik, die Wolfgang aufgreift. Auch Träume bereichern seine
„Wertstoffsammlung“. Deshalb liegt neben dem Bett auch immer ein Notizbuch. Manchmal
sucht er lange nach einem bestimmten Ausdruck. Dann wacht er eines Morgens auf -
und das treffende Wort, der passende Reim liegt ihm auf der Zunge. Im Jahr
entstehen etwa 500 Einträge, und wenn Wolfgang daraus schließlich 50 Gedichte,
Lieder, Geschichten oder auch Aphorismen machen kann, ist er damit zufrieden. Manche
trägt er seinen Freunden im literarischen Zirkel vor, um ihre Meinung zu hören.
Ihre Anregungen nimmt er meist dankbar an. 2016 reicht er eine Auswahl seiner
Aphorismen beim deutschsprachigen Aphorismus-Wettbewerb Hattinger Igel ein und
gewinnt den 1. Preis.
Seit
dem Jahr 2002 tritt er auf verschiedenen kleinen Bühnen als Wolfgang Endler,
Wolle oder auch als Kalle K. (der wahre Neuköllner) auf. Oft geschieht dies
gemeinsam mit Musikern, die seine Texte oder Lieder begleiten. Für seine Raps
nimmt er meist einen usb-Stick mit Beats sowie eine „boombox“, ein tragbares
Wiedergabegerät für verschiedene Datenträger mit. Aber er setzt sich nicht mehr
unter den Zwang, ständig produzieren zu müssen. Das hat er sich bei Berliner
Poetry Slams schnell abgewöhnt. Dort sollte wöchentlich oder monatlich etwas
Neues zum Besten gegeben werden. Das war ihm zu viel; diesen Druck will er
nicht.
Seine
Texte sind in Anthologien, Literaturzeitschriften und im Internet
veröffentlicht. 2016 ist sein Buch „GrenzGänger. ÜberFlieger – Aphorismus bis
Zwischenruf“ mit einer ausgewogenen Auswahl an Geschichten, Episoden, Gedichten
und Aphorismen erschienen. Die „70 Texte
zum Siebzigsten“ wurden passend zum entsprechenden Geburtstag ausgesucht.
„Und
wenn er nicht gestorben ist, schreibt er heute noch…“ möchte er am liebsten
noch sagen.
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