Bernhard Thieß: Der (Halb-)Weltumsegler
Bernhard Thieß ist
Chef des „Neuköllner Leuchtturms“. Das ist das Mietshaus in der Emser Straße
117, in dessen Erdgeschoss unser Erzählcafé stattfindet. 2006 ließ er auf die
Fassade einen Leuchtturm malen, um auf seine Weise zu zeigen, dass sich „ab
jetzt“ im vernachlässigten Neukölln etwas ändern wird. Das beschloss er
gemeinsam mit anderen, die dazu beizutragen wollten, das Leben dort wieder
erträglicher zu machen. Schließlich stammt er aus diesem Kiez. Der Leuchtturm
symbolisiert aber auch einen besonderen Abschnitt in seinem Leben. Über diesen
und andere Abenteuer berichtet Bernhard Thieß gelassen und pragmatisch.
Es ist noch Krieg, als Bernhard am
27. Mai 1944 in Bad Landeck auf die Welt kommt. Bomben fallen auf Berlin, die
Mütter wurden vorübergehend zur Geburt nach Schlesien gebracht, und wer nicht
in die deutschen Ostgebiete evakuiert wurde, verbringt die Nächte im
Luftschutzkeller. Am 2. Februar 1945 wird auch das Mietshaus in der Kreuzberger
Pücklerstraße 23 dem Erdboden gleichgemacht. Dort wohnte Familie Thieß. Nun sie
ist „ausgebombt“, wie man sagt. Bernhard und seine Mutter finden Unterschlupf
bei Onkel Max, dem Bruder der Vaters, der in Britz eine Laube bewohnt. Doch
schon am 1. Juli 1945 können die beiden eine Wohnung in der Emser Straße 25,
Neukölln, beziehen – mit dem Vater, der aus dem Krieg heimgekehrt ist. Dem
Mietshaus fehlt der Seitenflügel; und das angrenzende Gebäude ist nur noch ein
Trümmerhaufen. So lebt die Familie im 4. Obergeschoss einer Teilruine. Die Tür
ihrer Nachbarwohnung führt direkt in den Abgrund. Das Treppenhaus hat ein
provisorisches Notdach erhalten, und die Familie nutzt diesen provisorischen
Dachraum als Abstellkammer. Auf dem benachbarten Trümmergrundstück spielen die
Kinder und machen aufregende Erkundungen. Eigentlich ist es verboten, das
Gelände zu betreten, aber die Kinder tun es heimlich. Bernhard erinnert sich
noch an einen Spielkameraden, dessen Vater besonders streng war. Beim kleinsten
Vergehen wurde er von seinem Vater mit einer ledernen Peitsche, dem Siebenstriem,
verprügelt. „Das kann ich bis heute nicht vergessen“, sagt Bernhard, dessen
Vater zwar auch Gehorsam verlangte, ihn aber nicht körperlich züchtigte.
Bernhard besucht die Grundschule in der Jonasstraße. Die
Kinder werden in Schichten unterrichtet, im Winter sind die Klassenräume
notdürftig geheizt. „Aber das hat uns alles nicht gestört.“ In der Oberschule am
Britzer Damm macht Bernhard die Mittlere Reife. In diesem alten Gebäude sind
zwei Schulen auf engstem Raum untergebracht, später wird in der Parchimer Allee
eine neue Schule gebaut.
Familie Thieß kann inzwischen eine bessere Wohnung beziehen,
sogar mit Bad und Kohlebadeofen. Sie
liegt im selben Haus, nur zwei Stockwerke tiefer. 1951 gründet der Vater, von
Beruf Tischler, in der Siegfriedstraße die Tischlerei Franz Thieß. Die
Werkstatt befindet sich in einem ehemaligen Kuhstall, die er von einem alten Tischlermeister
übernommen hat. „Bis in die 1959er-Jahre hinein gab es in Neukölln noch
Kuhställe, wo man Milch kaufen konnte. In unserer Werkstatt fanden sich noch
die offene Rinne und die Halterungen für die Kühe. Für große Umbaumaßnahmen
fehlte das Geld, deshalb blieb alles so, wie es war“, erklärt Bernhard. Im
Vorderhaus mietet der Vater weitere Räume für das Büro an, wo die Mutter die
Buchhaltung und die Terminorganisation übernimmt. 1965 zieht die Familie in ein
Haus, das neben der Werkstatt, in der Hermann- Ecke Siegfriedstraße liegt.
Als 1956 das Eisstadion an der Oderstraße eröffnet wird,
lernt Bernhard dort Schlittschuhlaufen. Er bekommt Gleiter, die an die Schuhe
angeschraubt werden müssen. „Richtige“ Schlittschuhe kaufen ihm seine Eltern,
als er beginnt Eishockey zu spielen. Bis er 18 Jahre alt ist nimmt er
regelmäßig an Mannschaftsspielen teil. Dann engagiert er sich als
Schiedsrichter. Bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe gerät er aber oft
zwischen die Fronten. Bis zu Wettkämpfen in der zweiten Bundesliga wird er
gerufen. Oft muss er weit fahren und kommt nach dem Spiel erst nachts nach
Hause. Zehn Jahre lang bleibt er dabei, dann gibt es dringendere
Verpflichtungen: Die Tischlerei braucht ihn.
Nach der Mittleren Reife macht Bernhard eine Lehre bei einer
Tischlerei in der Sonnenallee und schließt sie mit der Gesellenprüfung ab.
Seiner Mutter schwebt vor, dass Bernhard auf der Ingenieurschule studiert, um
Bauleiter zu werden. Durch gute Kontakte zu den Bauherren würden dann bei der
Tischlerei Thieß laufend neue Bauaufträge eingehen. Bernhard aber weiß, dass
ihm die Theorie nicht liegt. Immerhin tut er seiner Mutter den Gefallen und
absolviert ein Praktikum auf dem Bau. Dort fühlt er sich in seiner Abneigung
bestätigt und beginnt viel lieber in der Tischlerei zu arbeiten. Neben ihm sind
zwei weitere Gesellen beschäftigt. Als der Vater erkrankt, liegt die Arbeit auf
den Schultern der drei Gesellen. 1964 stirbt der Vater mit nur 56 Jahren. Die
Tischlerei aber darf nur von einem Tischlermeister weitergeführt werden. Bernhard
besucht eine Meisterabendschule und legt nach zwei Jahren mit einer
Sondererlaubnis die Meisterprüfung ab. Nun ist er Chef und mit 22 Jahren der
jüngste Tischlermeister Berlins. „Oftmals hielten mich die Bauherren für den
Lehrling, wenn ich zu einem Besprechungstermin auf der Baustelle erschien. Ich
sah viel jünger aus, als ich wirklich war“, sagt Bernhard lachend.
1965 heiratet Bernhard; 1966 wird sein Sohn geboren. Es ist
schwer eine Wohnung zu finden. Aber Bernhard hat Glück. Er kann mit seiner
jungen Frau zunächst zur Untermiete in der Wohnung der Großmutter wohnen. Die
Oma lebt in der Kienitzer Straße und zieht vorübergehend zu ihrem
Lebenspartner. Wenig später wird für die Familie eine Wohnung in der Emser
Straße 111 frei. Dort kommt 1969 die Tochter zur Welt. Die Zeiten aber haben
sich geändert. Während Bernhard als Kind noch gefahrlos auf der Straße spielen
konnte, ist es nun wegen des zugenommenen Autoverkehrs nicht mehr möglich. Die
nach den Kriegszerstörungen leer geräumten Grundstücke sind meistens wieder
bebaut worden, aber Kinderspielplätze sind nicht entstanden. Bernhard will,
dass seine Kinder frei aufwachsen können. Die Lösung ist ein Grundstück in
Rudow, wo es noch Felder und Landwirtschaft gibt. Dort baut er für seine
Familie ein Haus. Es ist ein Fertighaus. Keller und Dachgeschoss entstehen in
Eigenarbeit. 1971 zieht die Familie ins Grüne, und die Kinder können eine
unbeschwerte, geborgene Kindheit erleben.
Seit seiner Jugend ist Bernhard leidenschaftlicher
Wassersportler. Doch als Familienvater und Tischlereibesitzer bleibt ihm wenig
Zeit für sein Hobby. Früher, als die Grenze noch offen war, fuhr er im Sommer
oft zum Seddinsee, wo sein Faltboot lag. Von seinem ersten Lehrlingsgehalt erstand
er ein altes Segelboot für 25 DM (viel Geld für ihn). Es hatte zwar West-Berlinern
gehört, lag aber in Schmöckwitz, einem Ortsteil in Ost-Berlin. 1961 wurde die
Mauer gebaut, und Bernhard konnte sein Schiff nicht mehr benutzen. Er schenkte
es seiner Ost-Berliner Cousine und versuchte es mit einem gebrauchten Ersatz-Boot
in West-Berliner Gewässern.
1978 baut sich Bernhard ein großes Schiff, um damit auf der
Ostsee zu segeln. Er kauft einen Rumpf und baut ihn mit einer Kajüte aus. Für
West-Berliner ist es umständlich und zeitaufwendig ein Boot bis an die Ostsee
zu transportieren. Man muss es durch die DDR schleppen lassen, für das man auf
jedem Weg zwei Tage braucht. Aber Bernhard perfektioniert sich als Segler und
legt die erforderlichen Prüfungen für den Segelschein ab. Seine routinierten
und fehlerlosen Manöver in der praktischen Prüfung bewirken ein ungläubiges
Staunen in den Gesichtern der Prüfer. Er muss alles wiederholen, um sie zu
überzeugen, dass er nicht geblufft hat.
Einmal unternimmt Bernhard mit seinen inzwischen fast erwachsenen
Kindern eine Segeltour im Mittelmeer rund um Korsika. Das Boot nehmen sie von
Berlin aus auf einem Autoanhänger mit. Auf dem Rückweg, sie befinden sich
gerade auf der Autobahn in der DDR, beginnt der Anhänger zu schlingern.
Bernhard reagiert falsch, der Anhänger kippt um und bleibt auf der Fahrbahn
liegen. Die Volkspolizei sperrt die Autobahn, und es dauert Stunden, bis ein
Kran kommt, der das Boot wieder aufrichtet. Als sie am Grenzkontrollpunkt
ankommen, werden sie von Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag eingekreist.
Wo sind Sie so lange gewesen? wollen sie wissen. (Man musste in einer
vorgeschrieben Maximalzeit den Transitweg durchquert haben, sonst gab es
Ärger.) Zu Hause stellt Bernhard das unbrauchbar gewordene Schiff auf seinem Grundstück
ab. Die Versicherung zahlt ihm eine kleine Entschädigung. In diese Zeit etwa
fällt die Scheidung von seiner Frau.
1981 lernte er Karen-Kristina kennen und schafft sich im Jahr darauf ein
neues größeres Boot an. Seinen Liegeplatz hat es an der Ostsee. Mit
Karen-Kristina unternimmt Bernhard in den nächsten Jahren größere Segeltörns.
Sie segeln nach England, Schottland, durch den englischen Kanal. An der
Irischen See geraten sie in einen Sturm, der das Boot beschädigt. Das Boot muss
in Irland bleiben und dort repariert werden. Im kommenden Frühjahr, es ist April
1986, holen Bernhard und ein Freund das Schiff wieder ab. Als sie in Cuxhaven
anlegen, empfangen sie die Meldung über die Explosion des Kernkraftwerks
Tschernobyl. Dieses Ereignis ist ein Schock, der wohl für immer im Gedächtnis
bleibt.
In der Tischlerei häuft sich die Arbeit. Angesichts der
guten Auftragslage muss sich die Firma vergrößern und zieht 1989 in den
Gewerbehof Niemetzstraße. Sein Sohn hat ebenfalls Tischler gelernt und arbeitet
längst mit. Nach dessen Meisterprüfung im Jahr 1990 übernimmt er mehr
Verantwortung. 1992 steigt die Tochter als gelernte Kauffrau ebenfalls in den
Betrieb ein.
Der Zeitpunkt scheint gekommen zu sein an die eigenen
Wünsche zu denken. Schon lange hat Bernhard davon geträumt die Welt zu
umsegeln. Karen-Kristina wäre bereit ihn zu begleiten und bei ihrer Arbeit eine
längere Auszeit zu beantragen. Viel versteht sie nicht vom Segeln, aber es gibt
genügend andere Aufgaben: sie hilft beim Anlegen, führt das Reisetagebuch und
sorgt für die Verpflegung. 1994, in seinem 50. Lebensjahr, kauft Bernhard einen
englischen Katamaran, 11 Meter lang, fünf Meter breit. Es gibt genügend Platz
für seine Frau und ihn, für die Fahrräder und den Proviant. Ein Beiboot mit
Rettungsinsel gehört natürlich dazu sowie die notwendige technische Ausstattung
wie Funkgeräte etc. Im September 1995 segeln sie durch den englischen Kanal,
vorbei an Spanien, Portugal zu den Kanarischen Inseln. Im November, nach der
Hurrikansaison, geht es weiter die klassische Passatroute über den Atlantik in
die Karibik. Für diesen letzten Abschnitt werden sie drei Wochen brauchen. Die
beiden sind aber nicht allein auf dem Meer. Per Funk sind sie mit einer
Gemeinschaft von Fahrtenseglern verbunden, die im Rahmen einer Regatta dieselbe
Route nehmen. Diese Gemeinschaft hat sie schon bei den Vorbereitungen
unterstützt und das Boot in Augenschein genommen. Vor allem für Karen-Kristina
ist das eine Beruhigung. Bernhard sagt, dass die lange Zeit auf dem offenen
Meer gar nicht so aufregend, sondern fast langweilig ist; die Gefahren lauern
eher in Küstennähe. Anstrengend sind nur die Nachtwachen, weil man alle 20
Minuten schauen muss, dass keine anderen Schiffe in die Quere kommen.
Zwischendurch kann man sich zum Schlafen hinlegen. „Letztlich kommen acht
Stunden Schlaf zusammen“, sagt Bernhard. Es gibt auch Schiffe, die nachts nur
mit der Selbststeuerungsanlage fahren, und auf denen keine Nachtwache gemacht
wird. Doch das hält Bernhard für zu gefährlich. Planmäßig erreichen sie mit den
anderen Seglern ihr Ziel in der Karibik. Dass ihr Katamaran den 3. Platz errungen
hat, können sie später in der Zeitung lesen. Nicht gesagt wurde, dass nur drei
Katamarane teilgenommen haben... „Für die Karibik sind solche Regatten ein
wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es kommen dann etwa 200 Boote an und jedes ist mit
mehreren Leuten besetzt.“
In der Karibik segeln die beiden von Insel zu Insel und
lernen Land und Leute kennen. Aber sie bekommen auch Besuch von Freunden aus
Deutschland, die von einem günstig gelegenen Flughafen abgeholt und später dort
wieder hingebracht werden müssen. Da heißt es dann auf die eine oder andere
Insel verzichten (was sie aber gerne für ihre Gäste tun). Nach einigen Monaten
heißt es: Wie soll die Fahrt weitergehen? Durch den Panamakanal? Oder nach
Venezuela, wo sie das Boot liegen lassen können, nach Berlin zurückfliegen und
im nächsten Jahr ab dort weiter segeln könnten? Ein Anruf nach Hause in die
Tischlerei führt zu einer anderen Entscheidung: Sie werden zurückkehren. In der
Tischlerei gibt es Probleme. Den „Kindern“ fehlt noch die Erfahrung, und Bernhard
muss unterstützen. Mit dem Boot segeln sie zu den Azoren, lassen das Schiff
dort liegen und fliegen zurück nach Berlin.
Die Pläne der Weltumsegelung muss Bernhard zu den Akten
legen. Er braucht mehr Zeit für die Firma, die inzwischen auf 25 Mitarbeiter
angewachsen ist. Für’s Segeln reserviert er sich trotzdem im Frühjahr drei und
im Herbst zwei Monate. „Dann segelten wir eben in Etappen“, sagt er. „Von den
Azoren ging es nach Portugal und Spanien, dort überwinterte das Boot, im
nächsten Jahr segelten wir über die Balearen und Sardinien nach Malta, ein Jahr
später nach Griechenland und in die Türkei und im letzten Jahr vom Mittelmeer
wieder zurück nach Deutschland.“ Diese letzte Etappe im Jahr 1998/99 übernimmt Bernhard
allein, denn Karen-Kristina muss wieder arbeiten; sie hatte sich für drei Jahre
beurlauben lassen. Für den Rückweg nimmt er den Weg über die Flüsse und Kanäle:
ab Frankreich auf der Rhone, dann auf Kanäle, Mosel und Rhein,, durch den
Mitteland- und Elbe-Seitenkanal bis zur Ostsee. Auf der Insel Poel findet das
Schiff einen neuen Liegeplatz.
In den folgenden Jahren unternehmen Bernhard und
Karen-Kristina jährlich mindestens eine große Segelreise. 2001 trennt sich
Bernhard endgültig von der Tischlerei und übergibt sie seinen Kindern. Das
Ehepaar segelt zunächst auf der Ostsee nach Schweden und Finnland (2000), dann
über Norwegen und die Faroer Inseln nach Island (2001), schließlich von der
Ostsee zur Nordsee nach England, wo sie in London Verwandte besuchen. Das
Schiff überwintert in Holland (2002/03). Die nächste Reise führt von Holland durch
den englischen Kanal, an der
französischen Küste der Biskaya entlang bis zur Grenze nach Spanien (2004) und
von dort zurück nach Deutschland (2005).
Der Sommer 2004 in Frankreich ist unglaublich heiß und
Bernhard empfindet die erbarmungslos brennende Sonne auf dem Meer plötzlich als
Belastung. Auch stören ihn die Arbeiten am Boot – Putzen, Reparieren, Schleifen
und Streichen – alles was ihn sonst zu Höchstleistungen herausgefordert hat,
findet er auf einmal lästig. Es findet sich niemand, der ihm helfen könnte,
wenn er das Boot in seinem Winterlager an der Ostsee in Ordnung bringen muss, obwohl
es doch in der Region so viel Arbeitslose geben soll! Allmählich wird ihm klar,
dass er keine Lust mehr hat und beschließt das Boot zum Kauf anzubieten. Dann
bespricht er seinen Entschluss mit seiner Frau, die erleichtert zustimmt, denn
sie war ja nie eine begeisterte Seglerin. Trotzdem haben sich die beiden auch auf
See immer gut verstanden, wahrscheinlich weil sie ihre Arbeitsteilung niemals
hinterfragten: Auf dem Boot ist Bernhard der Kapitän. Zu Hause hat sie das
Sagen.
Bernhard rechnet damit, dass es eine Weile dauern wird, bis
sich ein Käufer findet. Ein Katamaran ist schließlich eine große Investition.
Den kommenden Sommer könnten sie noch nutzen, um – ohne Mast – gemütlich durch
die Brandenburger Gewässer zu schippern. Doch es geht schneller als gedacht. Im
Januar 2006 wird der Kaufvertrag besiegelt. Das Boot ist weg.
Die neue Aufgabe wartet längst: Es ist Neukölln
beziehungsweise der Kiez, in dem Bernhard aufgewachsen ist und in dem er ein
Mietshaus in der Emser Straße 117 besitzt. Das Haus gehört der Familie Thieß schon
seit 1978, und die Hausverwaltung macht ihm eigentlich nur Ärger. Spätestens
seit Ende der Neunziger Jahre ist es weit über die Grenzen Neuköllns hinaus
bekannt, dass die Verhältnisse insbesondere in Nord-Neukölln zu kippen drohen.
Zeitungen schreiben von der „Bronx von Berlin“ und prangern Verwahrlosung,
Gewalt und Armut an. Der Spiegel redet von der „Endstation Neukölln“. Die
Auswirkungen spürt auch Bernhard als Vermieter. In seinem Mietshaus wohnen zum
Teil Mieter, die ihre Wohnungen vernachlässigen und nur zögerlich (oder auch
gar nicht) die Miete zahlen. Bernhard hegt schon lange den Gedanken sich von
dem Haus zu trennen.
Eines Tages im Jahr 2004 fällt ihm eine Zeitungsnotiz ins
Auge: „Bürgerstiftung Neukölln in Gründung“. Da finden sich Menschen zusammen,
die für Neukölln etwas tun wollen, um diese schwierigen Verhältnisse zu ändern!
Bernhard und Karen-Kristina wollen mitmachen, nehmen Kontakt auf und gründen
gemeinsam mit diesen engagierten Menschen die Bürgerstiftung Neukölln. Es sind Lehrer,
Künstler, Unternehmer, Migrantenvereine, Mietergemeinschaften sowie Menschen
aus Kirche, öffentlicher Verwaltung und Politik, die zu einem Fonds beitragen,
auf dessen Basis Projekte organisiert werden. Man erhofft sich mehr
Gemeinsamkeit und eine „bewusste Wahrnehmung der eigenen kulturellen Identität
als Neuköllner Bürgerinnen und Bürger“, wie es damals der evangelische
Superintendent formuliert.
Bernhard verkauft sein Haus also nicht. Er wird es instand
setzen, modernisieren und einige Räume für kulturelle Veranstaltungen
herrichten. So lässt er 2005 die Fassade reparieren und einen Leuchtturm darauf
malen, der über alle fünf Geschosse reicht. Der Leuchtturm symbolisiert das
Ende seiner Seeabenteuer und gleichzeitig den Neuköllner Aufbruch. Die den
Leuchtturm umgebende Küstenlandschaft hat auch den Zweck Graffiti-Sprayer davon
abzuhalten, die Fassade wieder zu beschmutzen. Das wirkt. Bis heute ist die
Fassade unangetastet. Immer, wenn eine Wohnung frei wird, baut Bernhard eine
Gasetagenheizung ein, saniert die Räume und das Bad. Er steckt viel Geld in die
Immobilie. Jede modernisierte Wohnung kostet zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Bei
der Vermietung zieht er Künstlerinnen und Künstler vor, weil er weiß, dass sie
es auf dem Wohnungsmarkt schwer haben und er deren Metier fördern möchte. Das
ist sicher auch gut für den Kiez. Darauf gebracht hat ihn seine Frau, die nach
der Phase des Segelns und ihrer Berufstätigkeit nun Malerin geworden ist. Inzwischen
wird Fernwärme bis in die Emser Straße geliefert, und Bernhard wird künftig
diese Wärmequelle nutzen.
Auch das Erdgeschoss wandelt er in eine einladende Etage um.
Die eine Hälfte mietet die Bürgerstiftung für ihr Büro. In der anderen Hälfte entstehen
Räume für Ausstellungen und Veranstaltungen. Ihm schwebt eine Art Begegnungszentrum
vor. Zehn Jahre lang organisieren Bernhard und Karen-Kristina Thieß in ihrem
Leuchtturm die unterschiedlichsten Veranstaltungen: Lesungen, Vorträge,
Konzerte, Diskussionszirkel, Ausstellungen. Beide wirken auch als Künstler mit.
Bernhard als Fotograf, Karen-Kristina als Malerin. Für ihre Hobbies haben sie
jetzt mehr Zeit. Der Leuchtturm entwickelt sich in eine über den Kiez hinaus
bekannte kulturelle Institution. Seit 2015 wollen sich Bernhard und
Karen-Kristina etwas mehr Ruhe gönnen und vermieten die Räume je nach Bedarf
für kulturelle oder soziale Zwecke, zum Beispiel auch an das „Erzählcafé im
Körnerkiez“.
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