Montag, 23. Oktober 2017

38. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 28. September 2017


Bernhard Thieß: Der (Halb-)Weltumsegler

Bernhard Thieß ist Chef des „Neuköllner Leuchtturms“. Das ist das Mietshaus in der Emser Straße 117, in dessen Erdgeschoss unser Erzählcafé stattfindet. 2006 ließ er auf die Fassade einen Leuchtturm malen, um auf seine Weise zu zeigen, dass sich „ab jetzt“ im vernachlässigten Neukölln etwas ändern wird. Das beschloss er gemeinsam mit anderen, die dazu beizutragen wollten, das Leben dort wieder erträglicher zu machen. Schließlich stammt er aus diesem Kiez. Der Leuchtturm symbolisiert aber auch einen besonderen Abschnitt in seinem Leben. Über diesen und andere Abenteuer berichtet Bernhard Thieß  gelassen und pragmatisch.


Es ist noch Krieg, als Bernhard am 27. Mai 1944 in Bad Landeck auf die Welt kommt. Bomben fallen auf Berlin, die Mütter wurden vorübergehend zur Geburt nach Schlesien gebracht, und wer nicht in die deutschen Ostgebiete evakuiert wurde, verbringt die Nächte im Luftschutzkeller. Am 2. Februar 1945 wird auch das Mietshaus in der Kreuzberger Pücklerstraße 23 dem Erdboden gleichgemacht. Dort wohnte Familie Thieß. Nun sie ist „ausgebombt“, wie man sagt. Bernhard und seine Mutter finden Unterschlupf bei Onkel Max, dem Bruder der Vaters, der in Britz eine Laube bewohnt. Doch schon am 1. Juli 1945 können die beiden eine Wohnung in der Emser Straße 25, Neukölln, beziehen – mit dem Vater, der aus dem Krieg heimgekehrt ist. Dem Mietshaus fehlt der Seitenflügel; und das angrenzende Gebäude ist nur noch ein Trümmerhaufen. So lebt die Familie im 4. Obergeschoss einer Teilruine. Die Tür ihrer Nachbarwohnung führt direkt in den Abgrund. Das Treppenhaus hat ein provisorisches Notdach erhalten, und die Familie nutzt diesen provisorischen Dachraum als Abstellkammer. Auf dem benachbarten Trümmergrundstück spielen die Kinder und machen aufregende Erkundungen. Eigentlich ist es verboten, das Gelände zu betreten, aber die Kinder tun es heimlich. Bernhard erinnert sich noch an einen Spielkameraden, dessen Vater besonders streng war. Beim kleinsten Vergehen wurde er von seinem Vater mit einer ledernen Peitsche, dem Siebenstriem, verprügelt. „Das kann ich bis heute nicht vergessen“, sagt Bernhard, dessen Vater zwar auch Gehorsam verlangte, ihn aber nicht körperlich züchtigte.

Bernhard besucht die Grundschule in der Jonasstraße. Die Kinder werden in Schichten unterrichtet, im Winter sind die Klassenräume notdürftig geheizt. „Aber das hat uns alles nicht gestört.“ In der Oberschule am Britzer Damm macht Bernhard die Mittlere Reife. In diesem alten Gebäude sind zwei Schulen auf engstem Raum untergebracht, später wird in der Parchimer Allee eine neue Schule gebaut.

Familie Thieß kann inzwischen eine bessere Wohnung beziehen, sogar mit Bad und Kohlebadeofen.  Sie liegt im selben Haus, nur zwei Stockwerke tiefer. 1951 gründet der Vater, von Beruf Tischler, in der Siegfriedstraße die Tischlerei Franz Thieß. Die Werkstatt befindet sich in einem ehemaligen Kuhstall, die er von einem alten Tischlermeister übernommen hat. „Bis in die 1959er-Jahre hinein gab es in Neukölln noch Kuhställe, wo man Milch kaufen konnte. In unserer Werkstatt fanden sich noch die offene Rinne und die Halterungen für die Kühe. Für große Umbaumaßnahmen fehlte das Geld, deshalb blieb alles so, wie es war“, erklärt Bernhard. Im Vorderhaus mietet der Vater weitere Räume für das Büro an, wo die Mutter die Buchhaltung und die Terminorganisation übernimmt. 1965 zieht die Familie in ein Haus, das neben der Werkstatt, in der Hermann- Ecke Siegfriedstraße liegt.

Als 1956 das Eisstadion an der Oderstraße eröffnet wird, lernt Bernhard dort Schlittschuhlaufen. Er bekommt Gleiter, die an die Schuhe angeschraubt werden müssen. „Richtige“ Schlittschuhe kaufen ihm seine Eltern, als er beginnt Eishockey zu spielen. Bis er 18 Jahre alt ist nimmt er regelmäßig an Mannschaftsspielen teil. Dann engagiert er sich als Schiedsrichter. Bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe gerät er aber oft zwischen die Fronten. Bis zu Wettkämpfen in der zweiten Bundesliga wird er gerufen. Oft muss er weit fahren und kommt nach dem Spiel erst nachts nach Hause. Zehn Jahre lang bleibt er dabei, dann gibt es dringendere Verpflichtungen: Die Tischlerei braucht ihn.

Nach der Mittleren Reife macht Bernhard eine Lehre bei einer Tischlerei in der Sonnenallee und schließt sie mit der Gesellenprüfung ab. Seiner Mutter schwebt vor, dass Bernhard auf der Ingenieurschule studiert, um Bauleiter zu werden. Durch gute Kontakte zu den Bauherren würden dann bei der Tischlerei Thieß laufend neue Bauaufträge eingehen. Bernhard aber weiß, dass ihm die Theorie nicht liegt. Immerhin tut er seiner Mutter den Gefallen und absolviert ein Praktikum auf dem Bau. Dort fühlt er sich in seiner Abneigung bestätigt und beginnt viel lieber in der Tischlerei zu arbeiten. Neben ihm sind zwei weitere Gesellen beschäftigt. Als der Vater erkrankt, liegt die Arbeit auf den Schultern der drei Gesellen. 1964 stirbt der Vater mit nur 56 Jahren. Die Tischlerei aber darf nur von einem Tischlermeister weitergeführt werden. Bernhard besucht eine Meisterabendschule und legt nach zwei Jahren mit einer Sondererlaubnis die Meisterprüfung ab. Nun ist er Chef und mit 22 Jahren der jüngste Tischlermeister Berlins. „Oftmals hielten mich die Bauherren für den Lehrling, wenn ich zu einem Besprechungstermin auf der Baustelle erschien. Ich sah viel jünger aus, als ich wirklich war“, sagt Bernhard lachend.

1965 heiratet Bernhard; 1966 wird sein Sohn geboren. Es ist schwer eine Wohnung zu finden. Aber Bernhard hat Glück. Er kann mit seiner jungen Frau zunächst zur Untermiete in der Wohnung der Großmutter wohnen. Die Oma lebt in der Kienitzer Straße und zieht vorübergehend zu ihrem Lebenspartner. Wenig später wird für die Familie eine Wohnung in der Emser Straße 111 frei. Dort kommt 1969 die Tochter zur Welt. Die Zeiten aber haben sich geändert. Während Bernhard als Kind noch gefahrlos auf der Straße spielen konnte, ist es nun wegen des zugenommenen Autoverkehrs nicht mehr möglich. Die nach den Kriegszerstörungen leer geräumten Grundstücke sind meistens wieder bebaut worden, aber Kinderspielplätze sind nicht entstanden. Bernhard will, dass seine Kinder frei aufwachsen können. Die Lösung ist ein Grundstück in Rudow, wo es noch Felder und Landwirtschaft gibt. Dort baut er für seine Familie ein Haus. Es ist ein Fertighaus. Keller und Dachgeschoss entstehen in Eigenarbeit. 1971 zieht die Familie ins Grüne, und die Kinder können eine unbeschwerte, geborgene Kindheit erleben.

Seit seiner Jugend ist Bernhard leidenschaftlicher Wassersportler. Doch als Familienvater und Tischlereibesitzer bleibt ihm wenig Zeit für sein Hobby. Früher, als die Grenze noch offen war, fuhr er im Sommer oft zum Seddinsee, wo sein Faltboot lag. Von seinem ersten Lehrlingsgehalt erstand er ein altes Segelboot für 25 DM (viel Geld für ihn). Es hatte zwar West-Berlinern gehört, lag aber in Schmöckwitz, einem Ortsteil in Ost-Berlin. 1961 wurde die Mauer gebaut, und Bernhard konnte sein Schiff nicht mehr benutzen. Er schenkte es seiner Ost-Berliner Cousine und versuchte es mit einem gebrauchten Ersatz-Boot in West-Berliner Gewässern.

1978 baut sich Bernhard ein großes Schiff, um damit auf der Ostsee zu segeln. Er kauft einen Rumpf und baut ihn mit einer Kajüte aus. Für West-Berliner ist es umständlich und zeitaufwendig ein Boot bis an die Ostsee zu transportieren. Man muss es durch die DDR schleppen lassen, für das man auf jedem Weg zwei Tage braucht. Aber Bernhard perfektioniert sich als Segler und legt die erforderlichen Prüfungen für den Segelschein ab. Seine routinierten und fehlerlosen Manöver in der praktischen Prüfung bewirken ein ungläubiges Staunen in den Gesichtern der Prüfer. Er muss alles wiederholen, um sie zu überzeugen, dass er nicht geblufft hat.

Einmal unternimmt Bernhard mit seinen inzwischen fast erwachsenen Kindern eine Segeltour im Mittelmeer rund um Korsika. Das Boot nehmen sie von Berlin aus auf einem Autoanhänger mit. Auf dem Rückweg, sie befinden sich gerade auf der Autobahn in der DDR, beginnt der Anhänger zu schlingern. Bernhard reagiert falsch, der Anhänger kippt um und bleibt auf der Fahrbahn liegen. Die Volkspolizei sperrt die Autobahn, und es dauert Stunden, bis ein Kran kommt, der das Boot wieder aufrichtet. Als sie am Grenzkontrollpunkt ankommen, werden sie von Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag eingekreist. Wo sind Sie so lange gewesen? wollen sie wissen. (Man musste in einer vorgeschrieben Maximalzeit den Transitweg durchquert haben, sonst gab es Ärger.) Zu Hause stellt Bernhard das unbrauchbar gewordene Schiff auf seinem Grundstück ab. Die Versicherung zahlt ihm eine kleine Entschädigung. In diese Zeit etwa fällt die Scheidung von seiner Frau.

1981 lernte er Karen-Kristina  kennen und schafft sich im Jahr darauf ein neues größeres Boot an. Seinen Liegeplatz hat es an der Ostsee. Mit Karen-Kristina unternimmt Bernhard in den nächsten Jahren größere Segeltörns. Sie segeln nach England, Schottland, durch den englischen Kanal. An der Irischen See geraten sie in einen Sturm, der das Boot beschädigt. Das Boot muss in Irland bleiben und dort repariert werden. Im kommenden Frühjahr, es ist April 1986, holen Bernhard und ein Freund das Schiff wieder ab. Als sie in Cuxhaven anlegen, empfangen sie die Meldung über die Explosion des Kernkraftwerks Tschernobyl. Dieses Ereignis ist ein Schock, der wohl für immer im Gedächtnis bleibt.

In der Tischlerei häuft sich die Arbeit. Angesichts der guten Auftragslage muss sich die Firma vergrößern und zieht 1989 in den Gewerbehof Niemetzstraße. Sein Sohn hat ebenfalls Tischler gelernt und arbeitet längst mit. Nach dessen Meisterprüfung im Jahr 1990 übernimmt er mehr Verantwortung. 1992 steigt die Tochter als gelernte Kauffrau ebenfalls in den Betrieb ein.

Der Zeitpunkt scheint gekommen zu sein an die eigenen Wünsche zu denken. Schon lange hat Bernhard davon geträumt die Welt zu umsegeln. Karen-Kristina wäre bereit ihn zu begleiten und bei ihrer Arbeit eine längere Auszeit zu beantragen. Viel versteht sie nicht vom Segeln, aber es gibt genügend andere Aufgaben: sie hilft beim Anlegen, führt das Reisetagebuch und sorgt für die Verpflegung. 1994, in seinem 50. Lebensjahr, kauft Bernhard einen englischen Katamaran, 11 Meter lang, fünf Meter breit. Es gibt genügend Platz für seine Frau und ihn, für die Fahrräder und den Proviant. Ein Beiboot mit Rettungsinsel gehört natürlich dazu sowie die notwendige technische Ausstattung wie Funkgeräte etc. Im September 1995 segeln sie durch den englischen Kanal, vorbei an Spanien, Portugal zu den Kanarischen Inseln. Im November, nach der Hurrikansaison, geht es weiter die klassische Passatroute über den Atlantik in die Karibik. Für diesen letzten Abschnitt werden sie drei Wochen brauchen. Die beiden sind aber nicht allein auf dem Meer. Per Funk sind sie mit einer Gemeinschaft von Fahrtenseglern verbunden, die im Rahmen einer Regatta dieselbe Route nehmen. Diese Gemeinschaft hat sie schon bei den Vorbereitungen unterstützt und das Boot in Augenschein genommen. Vor allem für Karen-Kristina ist das eine Beruhigung. Bernhard sagt, dass die lange Zeit auf dem offenen Meer gar nicht so aufregend, sondern fast langweilig ist; die Gefahren lauern eher in Küstennähe. Anstrengend sind nur die Nachtwachen, weil man alle 20 Minuten schauen muss, dass keine anderen Schiffe in die Quere kommen. Zwischendurch kann man sich zum Schlafen hinlegen. „Letztlich kommen acht Stunden Schlaf zusammen“, sagt Bernhard. Es gibt auch Schiffe, die nachts nur mit der Selbststeuerungsanlage fahren, und auf denen keine Nachtwache gemacht wird. Doch das hält Bernhard für zu gefährlich. Planmäßig erreichen sie mit den anderen Seglern ihr Ziel in der Karibik. Dass ihr Katamaran den 3. Platz errungen hat, können sie später in der Zeitung lesen. Nicht gesagt wurde, dass nur drei Katamarane teilgenommen haben... „Für die Karibik sind solche Regatten ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es kommen dann etwa 200 Boote an und jedes ist mit mehreren Leuten besetzt.“

In der Karibik segeln die beiden von Insel zu Insel und lernen Land und Leute kennen. Aber sie bekommen auch Besuch von Freunden aus Deutschland, die von einem günstig gelegenen Flughafen abgeholt und später dort wieder hingebracht werden müssen. Da heißt es dann auf die eine oder andere Insel verzichten (was sie aber gerne für ihre Gäste tun). Nach einigen Monaten heißt es: Wie soll die Fahrt weitergehen? Durch den Panamakanal? Oder nach Venezuela, wo sie das Boot liegen lassen können, nach Berlin zurückfliegen und im nächsten Jahr ab dort weiter segeln könnten? Ein Anruf nach Hause in die Tischlerei führt zu einer anderen Entscheidung: Sie werden zurückkehren. In der Tischlerei gibt es Probleme. Den „Kindern“ fehlt noch die Erfahrung, und Bernhard muss unterstützen. Mit dem Boot segeln sie zu den Azoren, lassen das Schiff dort liegen und fliegen zurück nach Berlin.

Die Pläne der Weltumsegelung muss Bernhard zu den Akten legen. Er braucht mehr Zeit für die Firma, die inzwischen auf 25 Mitarbeiter angewachsen ist. Für’s Segeln reserviert er sich trotzdem im Frühjahr drei und im Herbst zwei Monate. „Dann segelten wir eben in Etappen“, sagt er. „Von den Azoren ging es nach Portugal und Spanien, dort überwinterte das Boot, im nächsten Jahr segelten wir über die Balearen und Sardinien nach Malta, ein Jahr später nach Griechenland und in die Türkei und im letzten Jahr vom Mittelmeer wieder zurück nach Deutschland.“ Diese letzte Etappe im Jahr 1998/99 übernimmt Bernhard allein, denn Karen-Kristina muss wieder arbeiten; sie hatte sich für drei Jahre beurlauben lassen. Für den Rückweg nimmt er den Weg über die Flüsse und Kanäle: ab Frankreich auf der Rhone, dann auf Kanäle, Mosel und Rhein,, durch den Mitteland- und Elbe-Seitenkanal bis zur Ostsee. Auf der Insel Poel findet das Schiff einen neuen Liegeplatz.

In den folgenden Jahren unternehmen Bernhard und Karen-Kristina jährlich mindestens eine große Segelreise. 2001 trennt sich Bernhard endgültig von der Tischlerei und übergibt sie seinen Kindern. Das Ehepaar segelt zunächst auf der Ostsee nach Schweden und Finnland (2000), dann über Norwegen und die Faroer Inseln nach Island (2001), schließlich von der Ostsee zur Nordsee nach England, wo sie in London Verwandte besuchen. Das Schiff überwintert in Holland (2002/03). Die nächste Reise führt von Holland durch den englischen Kanal,  an der französischen Küste der Biskaya entlang bis zur Grenze nach Spanien (2004) und von dort zurück nach Deutschland (2005).

Der Sommer 2004 in Frankreich ist unglaublich heiß und Bernhard empfindet die erbarmungslos brennende Sonne auf dem Meer plötzlich als Belastung. Auch stören ihn die Arbeiten am Boot – Putzen, Reparieren, Schleifen und Streichen – alles was ihn sonst zu Höchstleistungen herausgefordert hat, findet er auf einmal lästig. Es findet sich niemand, der ihm helfen könnte, wenn er das Boot in seinem Winterlager an der Ostsee in Ordnung bringen muss, obwohl es doch in der Region so viel Arbeitslose geben soll! Allmählich wird ihm klar, dass er keine Lust mehr hat und beschließt das Boot zum Kauf anzubieten. Dann bespricht er seinen Entschluss mit seiner Frau, die erleichtert zustimmt, denn sie war ja nie eine begeisterte Seglerin. Trotzdem haben sich die beiden auch auf See immer gut verstanden, wahrscheinlich weil sie ihre Arbeitsteilung niemals hinterfragten: Auf dem Boot ist Bernhard der Kapitän. Zu Hause hat sie das Sagen.

Bernhard rechnet damit, dass es eine Weile dauern wird, bis sich ein Käufer findet. Ein Katamaran ist schließlich eine große Investition. Den kommenden Sommer könnten sie noch nutzen, um – ohne Mast – gemütlich durch die Brandenburger Gewässer zu schippern. Doch es geht schneller als gedacht. Im Januar 2006 wird der Kaufvertrag besiegelt. Das Boot ist weg.

Die neue Aufgabe wartet längst: Es ist Neukölln beziehungsweise der Kiez, in dem Bernhard aufgewachsen ist und in dem er ein Mietshaus in der Emser Straße 117 besitzt. Das Haus gehört der Familie Thieß schon seit 1978, und die Hausverwaltung macht ihm eigentlich nur Ärger. Spätestens seit Ende der Neunziger Jahre ist es weit über die Grenzen Neuköllns hinaus bekannt, dass die Verhältnisse insbesondere in Nord-Neukölln zu kippen drohen. Zeitungen schreiben von der „Bronx von Berlin“ und prangern Verwahrlosung, Gewalt und Armut an. Der Spiegel redet von der „Endstation Neukölln“. Die Auswirkungen spürt auch Bernhard als Vermieter. In seinem Mietshaus wohnen zum Teil Mieter, die ihre Wohnungen vernachlässigen und nur zögerlich (oder auch gar nicht) die Miete zahlen. Bernhard hegt schon lange den Gedanken sich von dem Haus zu trennen.

Eines Tages im Jahr 2004 fällt ihm eine Zeitungsnotiz ins Auge: „Bürgerstiftung Neukölln in Gründung“. Da finden sich Menschen zusammen, die für Neukölln etwas tun wollen, um diese schwierigen Verhältnisse zu ändern! Bernhard und Karen-Kristina wollen mitmachen, nehmen Kontakt auf und gründen gemeinsam mit diesen engagierten Menschen die Bürgerstiftung Neukölln. Es sind Lehrer, Künstler, Unternehmer, Migrantenvereine, Mietergemeinschaften sowie Menschen aus Kirche, öffentlicher Verwaltung und Politik, die zu einem Fonds beitragen, auf dessen Basis Projekte organisiert werden. Man erhofft sich mehr Gemeinsamkeit und eine „bewusste Wahrnehmung der eigenen kulturellen Identität als Neuköllner Bürgerinnen und Bürger“, wie es damals der evangelische Superintendent formuliert.

Bernhard verkauft sein Haus also nicht. Er wird es instand setzen, modernisieren und einige Räume für kulturelle Veranstaltungen herrichten. So lässt er 2005 die Fassade reparieren und einen Leuchtturm darauf malen, der über alle fünf Geschosse reicht. Der Leuchtturm symbolisiert das Ende seiner Seeabenteuer und gleichzeitig den Neuköllner Aufbruch. Die den Leuchtturm umgebende Küstenlandschaft hat auch den Zweck Graffiti-Sprayer davon abzuhalten, die Fassade wieder zu beschmutzen. Das wirkt. Bis heute ist die Fassade unangetastet. Immer, wenn eine Wohnung frei wird, baut Bernhard eine Gasetagenheizung ein, saniert die Räume und das Bad. Er steckt viel Geld in die Immobilie. Jede modernisierte Wohnung kostet zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Bei der Vermietung zieht er Künstlerinnen und Künstler vor, weil er weiß, dass sie es auf dem Wohnungsmarkt schwer haben und er deren Metier fördern möchte. Das ist sicher auch gut für den Kiez. Darauf gebracht hat ihn seine Frau, die nach der Phase des Segelns und ihrer Berufstätigkeit nun Malerin geworden ist. Inzwischen wird Fernwärme bis in die Emser Straße geliefert, und Bernhard wird künftig diese Wärmequelle nutzen.

Auch das Erdgeschoss wandelt er in eine einladende Etage um. Die eine Hälfte mietet die Bürgerstiftung für ihr Büro. In der anderen Hälfte entstehen Räume für Ausstellungen und Veranstaltungen. Ihm schwebt eine Art Begegnungszentrum vor. Zehn Jahre lang organisieren Bernhard und Karen-Kristina Thieß in ihrem Leuchtturm die unterschiedlichsten Veranstaltungen: Lesungen, Vorträge, Konzerte, Diskussionszirkel, Ausstellungen. Beide wirken auch als Künstler mit. Bernhard als Fotograf, Karen-Kristina als Malerin. Für ihre Hobbies haben sie jetzt mehr Zeit. Der Leuchtturm entwickelt sich in eine über den Kiez hinaus bekannte kulturelle Institution. Seit 2015 wollen sich Bernhard und Karen-Kristina etwas mehr Ruhe gönnen und vermieten die Räume je nach Bedarf für kulturelle oder soziale Zwecke, zum Beispiel auch an das „Erzählcafé im Körnerkiez“.


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