Mittwoch, 29. November 2017

40. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 26. Oktober 2017

Herbert Witzel – Der Worttransporteur

Herbert Witzel ist geschmackvoll gekleidet: Zur englischen Wachsjacke trägt er einen förstergrünen Filzhut mit breiter Krempe, darunter beige Cordhosen, einen dunkelblauen Pullover mit spitzem Ausschnitt, Schlips und weißes Leinenhemd. Damit ist er der am besten angezogene Mann im Raum. (Die Neuköllner legen im Allgemeinen keinen großen Wert auf Eleganz.) Er legt Hut und Jacke ab und setzt sich still auf einen Stuhl. Seine Gitarre stellt er neben sich. Er hat viele (angefangene) Berufe und einen Abschluss, wie wir noch erfahren werden. Heute trägt er seine Dienstkleidung als Liedermacher, allerdings ohne Hut. Bedeutet das etwas? Ist er nicht doch als „Privatmann“ hier? Mit kräftiger Stimme beginnt Herbert zu erzählen. Erst zurückhaltend, stockend und ein wenig schüchtern, doch bald kommt er in Fahrt. Er berichtet assoziativ, hält sich nicht an eine Chronologie, und würzt das Gesagte mit Kommentaren. Es ist unterhaltsam, ihm zuzuhören. Ich spüre die feine Ironie hinter seinen Worten, manchmal bitteren Humor. Zum Schluss trägt er zwei selbst geschriebene Lieder vor. Er vergisst, den Hut aufzusetzen und zeigt er eine weitere Facette von sich: den Schauspieler und Künstler.


Herbert Witzel wird 1949 in Braunschweig geboren und wächst dort auf. Schon als Schüler interessiert er sich für Gedichte. Erste eigene Versuche schickt er an das Feuilleton der Braunschweiger Zeitung und malt sich aus, was er mit dem Honorar alles anfangen wird. Leider werden seine Sachen nicht gedruckt. Aber der Redakteur bietet ihm immerhin ein Gespräch an: „Oder wollen Sie Ihre Texte gleich so zurückhaben?“

Herbert ist beeinflusst von seinem ältesten Bruder, einem intellektuellen „Bürgerschreck“ und Nietzsche-Fan. Zu ihm schaut er auf. Sein zweiter Bruder ist in seinen Augen das Gegenteil von dem Ältesten. Herbert beschreibt ihn als angepasst und wohlstandsorientiert, der Jura studierte, in der Welt herumgekommen ist, geheiratet, einen Sohn gezeugt und sich selbstständig gemacht hat. „Zwischen diesen beiden Polen bin ich aufgewachsen.“ Beide Brüder leben nicht mehr. Der Älteste schrieb als Abschiedsgruß: „In dieser Welt ist für mich ja doch kein Platz“. Der  Zweite starb mit 39 Jahren an einer Allergie gegen Katzenhaare. „Seiner Frau waren ihre Katzen wichtiger,“; kommentiert Herbert und macht den Eindruck, dass er die Situation zwischen den beiden extremen Brüdern bis heute nicht ganz bewältigt hat.

Nach dem Abitur beginnt er ein Germanistikstudium. 1968/69 wechselt er gemeinsam mit Studienkollegen an die Braunschweiger Hochschule für bildende Künste, Fachbereich Kunstpädagogik. „Da gab es einen Gastdozenten, der alle 14 Tage Vorlesungen hielt auf der Grundlage von Moshe Kagans marxistisch-leninistischer Ästhetik.“ Passende Bilder lieferte „TENDENZEN – Zeitschrift für engagierte Kunst“.
Doch Herbert hat das Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein, und beschließt, nach Berlin zu gehen. Dort lebt auch sein Jura-Bruder. Er schickt seine Bewerbungsunterlagen an die Hochschule der Künste und an die Pädagogische Hochschule (PH). An der PH in Lankwitz wird er angenommen und kann dort Latein und Kunst studieren mit dem damals obligatorischen Grundkurs zu „DAS KAPITAL“, der auf Seite 50 aufhört, weil keiner mehr den Unterschied zwischen „relativer Wertform“ und „Äquivalentform“ begreift.

Obwohl er alle Praktika absolviert hat, schließt er das Studium nicht ab, weil ihn seine „wahnsinnige Prüfungsangst“ daran hindert. „Ich bin auch zweimal durch meine Führerscheinprüfung gefallen“, ergänzt er. Später lernt er diese Angst zu überwinden, sonst hätte er heute im Erzählcafé ohne Notizen und Unterrichtsentwurf gar nicht auftreten können, meint er. „Früher wäre das für mich der Horror gewesen. Man bildet sich ein, die anderen erwarten von einem etwas, das man nicht kann. Man muss perfekt sein. Gerade heute habe ich den Spruch gelesen: ‚Gut ist besser als perfekt’“.

„Geschrieben habe ich schon immer, Schreiben ist mir leichter gefallen als Sprechen“, sagt Herbert und deutet damit an, dass es trotz aller Wirren um das Studium eine Kontinuität in seinem Leben gibt. Als er bei der TUSMA (Telefoniere Und Studenten Machen Alles) wieder einmal nach einem Job schaut, wird ein Nachhilfelehrer in Latein gesucht. Er nimmt den Job an, denn die Schülerin ist die Tochter von Günter Bruno Fuchs, wie er feststellt. Von diesem Profi möchte er unbedingt ein Urteil über seine Texte hören. In Herberts Elternhaus hat niemand mit Schreiben Geld verdient. Nachdem der Berliner „Malerpoet“ Fuchs eine von seinen Kurzgeschichten gelesen hat, äußert er sich positiv („Ihre Geschichte ist munter“) und ermutigt ihn, weiter zu schreiben: „Wenn Sie 60 Manuskriptseiten zusammen haben, dann helfe ich Ihnen, dass ein Buch daraus wird.“
Begeistert geht Herbert nach Hause, kauft unterwegs Schreibmaschinenpapier und hämmert seine Ideen in die Tasten. Nachdem er dem Schriftsteller seinen fertigen Text vorgelegt hat, reagiert dieser zurückhaltend. „Na ja, es war halt ein Anfängerwerk“, sagt Herbert. Ob er der Tochter den Nachhilfeunterricht gegeben hat, erzählt er nicht.

Herbert lässt sich durch diese Absage nicht entmutigen. Er wohnt in Kreuzberg, das damals den Ruf als Künstlerviertel hat. Die alten Mietshäuser mit ihren ehemaligen Hinterhoffabriken bieten ideale Werkstätten für Drucker, Maler und Bildhauer. Dort hat sich der „Kreuzberger Künstlerkreis“ um den Maler Kurt Mühlenhaupt gegründet, und Herbert ist mit einigen dieser Künstler befreundet. (Günter Bruno Fuchs gehört auch dazu.) Der heute noch aktive Drucker und Kleinverleger Hugo Hoffmann bietet ihm an, sein erstes Buch zu veröffentlichen. Es ist das „Gelbbuch“ von Herbert F. Witzel, das 1976 erscheint, mit Illustrationen von Bernhard Verlage. Mit dem Zusatz F. (Friedrich) hat sich Herbert einen Künstlernamen zugelegt. Im Buch geht es um folgende Geschichte: Ein junger Mann besetzt das Telefonhäuschen Schlesische Straße/Ecke Heckmannufer und versieht das Telefonbuch mit seinen Aufzeichnungen, es wird später gefunden und herausgebracht. „Das Ganze passte gut zur damaligen Hausbesetzerszene“, erläutert Herbert. „Mein Buch war ein gewisser Erfolg, aber ich konnte nicht damit umgehen. Ab jetzt fühlte ich mich wie Alexander der Große, habe mich nicht mehr um mein Studium gekümmert und weitere Bücher herausgebracht.“ Doch dieser eingeschlagene Weg führt nicht zu weiteren Erfolgen. Herbert muss Geld verdienen und arbeitet als Korrektor. Einmal bekommt er ein Arbeitsstipendium vom Senator für Wissenschaft und Kunst zur Fertigstellung des nächsten 60-Seiten-Manuskripts, das unter dem Titel „Kreuzberger Dreifaltigkeit“ erscheint.

Dann  erhält  er bei der evangelischen Kirche einen Job im Knast. Er arbeitet als Hiwi („Fürsorger“) für das evangelische Pfarramt in Alt-Moabit 12a, das eine eigene kleine Gefängnisbibliothek unterhält, die er nun betreut. Obwohl er es jeden Tag mit „diesen Monstern“ im Knast zu tun hat, möchte er gern eine „Lebensstellung“ daraus machen. Die Pastoren versprechen, ihn dabei zu unterstützen. Stattdessen drückt ihm am nächsten Tag sein Briefträger die offizielle Kündigung vom Konsistorium der ev. Landeskirche in die Hand. „Was tut ein deutscher Mann in so einer Situation? Er geht zu seiner Ärztin in der Bergmannstraße und lässt sich krankschreiben.“ Später bewirbt er sich um eine Anstellung im Justizvollzug und wird wegen dieser Krankschreibung abgelehnt. „Aber die haben mich doch gekündigt“, sagt Herbert. – „Ja, sehen Sie, Sie sind eben nicht belastbar.“ – „Heute bin ich froh, dass ich dort nicht länger geblieben bin, obwohl dies ein sicherer Job gewesen wäre. Ein Gefängniswärter sagte einmal: Die Regierungen kommen und gehen, aber uns braucht man immer.“

Mit 40 Jahren gerät Herbert in eine Lebenskrise. „Nach biblischen 40 Jahren in der Wüste landete ich in einer Freikirche und wurde fromm.“ Durch die kleine Rudower (Pfingst-)Gemeinde findet er eine neue Orientierung an Jesus Christus und traut sich, doch noch einen Berufsabschluss zu machen. Das Arbeitsamt fördert eine einjährige Ausbildung zum Handelsfachpacker. Dabei fällt er der Deutschlehrerin auf, die ihm den Weg in die Klasse der Speditionskaufleute auf dem gleichen Flur drei Türen weiter ebnet. Der Unterricht läuft allerdings schon seit einem halben Jahr. Herbert Witzel wird im Crash-Verfahren zum Spediteur und besteht ein Jahr später die entsprechende IHK-Prüfung. Danach arbeitet er zwei Jahre in der damaligen Berliner Speditionsgegend Heidestraße und wird, wie viele andere auch, arbeitslos, als die Konjunktur nachlässt. Mit zahlreichen Bewerbungen versucht er eine neue Stelle zu finden. Im Lebenslauf schreibt er: „1989 wurde Jesus Christus mein Boss.“ Diesen Satz mit Textmarker hervorgehoben, bekommt er seine Bewerbungsunterlagen „zu unserer Entlastung zurück“.

Herbert hat kein Vertrauen mehr in den  Arbeitsmarkt und sucht nach einer sinnvollen Beschäftigung, die Geld abwirft und die ihm niemand wegnehmen kann. Deshalb will er es nach 15 Jahren Pause wieder mit dem Schreiben versuchen, denn „ich hatte doch ganz gute Rückmeldungen“. Und er entwickelt zwei Figuren als Protagonisten für drei Pilotgeschichten: Kriminalhauptkommissar Müller, der in der Kreuzberger Friesenstraße im Abschnitt 52 arbeitet, und sein Kriminalassistentenanwärter, Herr Krahlmann aus Pankow. Der Kommissar geht jeden Montag in die Therapiegruppe und hat eine liebe Frau, die für ihn gut kocht, wenn er denn endlich Feierabend hat. „Ich wollte aber nur weiterschreiben, wenn ich Leute finde, die bereit sind, Geld dafür auszugeben. Deshalb habe ich diese drei Kurzgeschichten dann in der Medienwelt herumgeschickt.“ Wochenlang kommt keine Antwort. Kurz vor Weihnachten 1995 steckt ein großer weißer Briefumschlag in seinem Briefkasten. Absender: Süddeutsche Zeitung. Er enthält ein Belegexemplar, in dem eine seiner Geschichten abgedruckt ist. Sein Honorar: 236,20 DM. „Ich fühlte mich wie Onkel Dagobert, der seinen ersten Kreuzer verdient. Der Kontoauszug hängt immer noch an der Tür vom Archivschrank.“ Herbert ist gestärkt und motiviert weiterzumachen. „Da habe ich wieder angefangen, kreativ zu sein und bin dabei geblieben.“ Das erste Buch erscheint dann zur Jahrtausendwende im Schwarzwälder Johannis-Verlag, ein zweites mit Weihnachtsgeschichten folgt, das dritte wird dort nicht mehr gedruckt, weil der 1896 gegründete Traditionsbetrieb Johannis Insolvenz anmelden muss, sondern erscheint in einem Kleinverlag im Erzgebirge.

Eines Tages klingelt das Telefon, und Herbert erfährt, dass bei einem Kreuzberger Bildungsträger ein Speditionskaufmann mit Berufserfahrung gesucht wird. Er bewirbt sich und wird angenommen. Nun soll er junge Menschen als „Fachkraft für Lagerwirtschaft“ ausbilden. Ein Sprung ins kalte Wasser. Die Bildungsträger haben damals die Aufgabe, Verbundausbildungen zu organisieren, um den Schulabgängern eine Berufschance zu bieten. Herbert bemerkt kritisch, sie sollten auch dazu beitragen, die Jugendlichen aus der Arbeitslosenstatistik herauszuhalten. „Das Zusatzschuljahr hat nicht mehr gereicht für diesen Zweck.“ Die Arbeit macht ihm dennoch Spaß. Nach einiger Zeit weiß Herbert, wie er mit den jungen Leuten umgehen muss, schließlich wollte er mal Lehrer werden. Er tritt morgens vor seine Azubi-Gruppe und fragt: „Warum sind wir hier?“ - Antwort aller: „Damit wir die Prüfung bestehen, Herr Witzel!“ Herbert ist stolz darauf, dass schließlich alle seine Azubis durchgekommen sind. Im Leistungsdurchschnitt des Bildungsträgers kam sein Fachbereich auf den zweiten Platz. Allerdings musste sich die Hälfte der Azubis nach bestandener Prüfung arbeitslos melden.

In der Nachbarschaft des Bildungsträgers gibt es nahe am  Görlitzer Bahnhof einen türkischen Bäckerladen, wo er sich immer seine „Frühstücksschrippe“ kauft. Als er erfährt, dass das Geschäft am Monatsende zugemacht werden soll, denkt er: Eigentlich schade, ist ja ein netter Laden, aus dem könnte man doch was machen, einen Treffpunkt, wo er seine Bücher ausstellt, wo Künstler aus dem Kiez ihre Werke präsentieren und wo man auch eine Tasse Kaffee bekommt. Fasziniert von der Idee eines kleinen Kreuzberger Kulturzentrums übernimmt er kurzentschlossen den Laden. Einige Freunde helfen ihm, andere raten ihm kopfschüttelnd ab. „Jeder hat eben seine Macke. Wenn ich mich für eine Sache begeistere, denke ich nicht an das Finanzielle.“ Er legt seine Bücher in das Schaufenster, dazu ein großes Schild: HIER SCHREIBT DER CHEF! Später unterhält er sich mit einem interessierten Nachbarn, der das Schild gelesen hat und nicht wusste, was er davon halten soll. Dass „der Bäcker“ Bücher schreibt, darauf ist er nicht gekommen. „Offensichtlich konnte ich mich nicht verständlich machen. Aber ich habe auch nicht realisiert, dass der Laden für mein Vorhaben ungünstig gelegen war.“ Notgedrungen schließt er den Laden, weil die Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen zu groß wird. Die Höhe der Schulden ist zum Glück überschaubar.

Wegen einer Gesetzesänderung verliert Herbert eine bestimmte Eignungsvoraussetzung als Ausbilder und damit auch seinen Arbeitsplatz. Herbert braucht dringend eine neue, preiswerte Wohnung, am liebsten wieder in Kreuzberg. Doch inzwischen (im Jahr 2003) ist Kreuzberg „angesagt“, und die Mieten sind gestiegen. Deshalb versucht er es in Neukölln und findet am Wartheplatz eine günstige Wohnung mit Kachelbad und Südbalkon. „Da bin ich noch immer ganz glücklich.“

Anschließend bekommt er einen Job als Ausbilder bei einer „Maßnahme zur Berufsvorbereitung“. „Im Grunde wurden die Jugendlichen nur von der Straße weg und aus der schon erwähnten Statistik rausgehalten.“ Es gibt ein gesetzliches Recht auf Beschäftigung für Jugendliche. Wenn sie wegen ihres Verhaltens bei dem einen Bildungsträger hinausgeworfen werden, dann gehen sie zum nächsten und so weiter. Oder wie es Herberts Kollege ausdrückt, ein in Ehren ergrauter Handwerksmeister: „Wenn wir die alten Teufel los sind, dann kriegen wir dafür neue Teufel.“ Möglichkeiten zur Disziplinierung gibt es so gut wie keine. Entsprechend schwierig ist für ihn der Einstieg. „Ich kam da hin als Verantwortlicher für die Berufsgruppe ‚Lager und Logistik’, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer machten, was sie wollten. Keiner hörte auf mich. Der Sozialpädagoge der Einrichtung sagte mir: Solange die Jugendlichen nicht rausrennen, können Sie doch ganz zufrieden sein.“ Nach 14 Tagen spricht Herbert mit dem Leiter der Einrichtung und will ihm erklären, dass er der Falsche für diesen Job sei. Zu seinem Erstaunen stellt sich heraus, dass dieser an seiner Arbeit gar nichts auszusetzen hat. Ihm ist es nur wichtig, dass auf dem Flur Ruhe herrscht und dass weder vom Arbeitsamt noch von den Eltern Beschwerden kommen. Die Arbeit beim Bildungsträger ist auf ein Jahr befristet, kann aber auf Antrag verlängert werden. Herbert schließt diese Möglichkeit für sich aus. „Die Jugendlichen wurden in Ton und Umgang immer ruppiger, und ich wollte mir das nicht länger antun. Andere konnten es besser, wie ich zugeben muss.“

In Neukölln lebt er sich gut ein. Herbert konzentriert sich erneut auf das Schreiben. Nicht weit von seiner Wohnung wird der „Neuköllner Dschungel“ herausgegeben, eine sympathische „Verteilzeitung“, die sich vor allem um die Kultur Nord-Neuköllns kümmert. Er versteht sich gut mit der Redaktion in der Emser Straße und schreibt Artikel für die Zeitung. „Es gibt zwar kein Geld, aber sie drucken das, was ich schreibe.“

Als es bei Amazon die Möglichkeit gibt, eigene E-Books zu veröffentlichen, ist Herbert dabei und stellt seine Bücher ins Netz, um sie zu verkaufen. Es kostet ihn nichts, außer ein halbes Jahr lang Schweiß und schlaflose Nächte, bis er endlich die Dateiformate am Computer beherrscht. Sehr bald fallen die ersten Euros für ihn ab. Nach ein paar Monaten sind es einmal sogar mehr als 300 Euro. Ab jetzt geht es aufwärts, glaubt er. „So war das dann doch nicht. Es ist ein riesengroßer Flohmarkt, da kommt ab und zu ein kleines Taschengeld herein. Ich verfolge das nicht mehr.“

Herbert beginnt wieder Gitarre zu spielen. Er braucht dringend eine Abwechslung von den langen Arbeitszeiten am Computer. Inzwischen sind zahlreiche Texte und auch Gedichte entstanden, die er jetzt vertont und auf Kleinkunstbühnen in Neukölln und Kreuzberg vorträgt. Meistens tritt er mit anderen Künstlern auf, zu ihnen gehört auch der Entertainer Wolfgang Endler (dessen Geschichte ebenfalls in diesem Buch zu lesen ist). „Der könnte einen ganzen Abend allein bestreiten. Aber ich bin ja nicht bekannt und tue mich schwer mit Werbung, deshalb lass ich das lieber.“

Bei Amazon kann man inzwischen auch die E-Bücher ausdrucken lassen, doch das sind dann Bücher von der Stange, so langweilig wie alle typischen „Plastikbücher“ (wie sie Klaus Wagenbach nennt), findet Herbert. Er meint, es müsse doch möglich sein, mit der Technik von heute Bücher in kleinen Serien einzeln am Küchentisch herzustellen, die in hoher Qualität farbig bebildert sind wie im Offsetdruck. Das lohnt sich aber erst ab 1.000 Exemplaren, die einen Haufen Geld kosten und außerdem eine Menge Platz wegnehmen. Er erzählt anderen von dieser Idee und findet eine Nachbarin, die die Geschichten ihrer Mutter gedruckt sehen will. Sie finanziert die erste Kleinauflage von 20 Büchern. Allerdings reicht der Küchentisch nicht, einen Campingtisch braucht es auch noch für die Produktion.

Seit vier Jahren ist er nun dabei und erzielt ästhetisch durchaus befriedigende Ergebnisse, die sich auch verkaufen lassen. Mit jedem Buch probiert er etwas Neues aus und entwickelt die Qualität weiter, und er ist stolz auf seine Produkte. „Es ist ja ganz schön, Texte zu verfassen. Aber wenn so ein Buch fertig ist, das ist was Handfestes!“ Ähnlich hat er das bei einem anderen Schlüsselerlebnis empfunden: Bei einer Arbeit in einer Zimmerei hatte er die Aufgabe, im Grunewald Bänke zu bauen. Er setzte einen großen Baumstamm auf zwei kleine und brachte eine Lehne an. Als die Bank fertig war, nahm er auf ihr Platz und packte sein Frühstück aus. „Das gefiel mir, denn ich wusste, was ich getan habe.“

Herbert Witzel ist jetzt Verleger, Schriftsteller, Buchgestalter und Hersteller. Sein Verlag heißt worttransport.de. Der Name spielt auf den früheren Beruf des Verlegers an. Herbert hat den Ehrgeiz, ungewöhnliche Bücher zu machen. Das fängt bei den Ecken an: die sind abgeschrägt. „Bücher ohne Eselsohren“ sagt er dazu. Für farbige Abbildungen, Fotos, Gemälde oder Zeichnungen hat er eine besondere Technik entwickelt, das Giclée, eine Art Probedruck, den er mit seinem Tintenstrahldrucker herstellen kann. Die Qualität, die er dabei erreicht, ist besser als bei Massendrucksachen. Da er jedes Buch einzeln herstellt, bietet sich diese Methode an. Jede Seite ist nur einseitig bedruckt, damit keine durchscheinende Schrift die Abbildung beeinträchtigt. Das Buch besteht also aus gefalteten Doppelseiten. Auch die Bindung hat er inzwischen perfektioniert und verwendet dabei drei verschiedene Klebstoffe, die sein Betriebsgeheimnis bleiben. Dadurch werden die Bücher gleichzeitig stabil und flexibel, „so wie sich das gehört“.

Zwei Bücher wurden außer der Reihe im Offsetdruck mit klassischer Fadenheftung und Hardcover hergestellt, nämlich die Gedichtsammlung „Fakt ist“ des Berliner Autors Zvonko Piepelić, geboren in Zagreb, sowie der Nachdruck von Magnus Hirschfeld: „Die Gurgel Berlins“, ein Großstadt-Dokument über den Alkoholismus von 1905, das Herbert in Zusammenarbeit mit dem Guttempler Michael Annecke herausgebracht hat.

Weitere Bücher seines wachsenden Verlagsprogramms schreibt Herbert Witzel unter dem Pseudonym „Hermann Syzygos“. Unter ihnen sind die Lebensgeschichten von Johnny Cash und von Nikola Tesla, dem Erfinder des Wechselstroms und des Elektromotors, der die nach ihm benannten Autos antreibt. Sein neuestes Produkt ist die Geschichte von Mata Hari („Tänzerin durch die Galaxis“), reichlich versehen mit farbigen historischen Abbildungen. Da jedes Mata-Hari-Buch ein Unikat (und auch ein Kunstwerk) ist, wird es einzeln nummeriert und signiert. Demnächst erscheint „das schönste Buch der Welt“, eine bebilderte Vincent-van-Gogh-Geschichte auf Spezialpapier mit Leinwandstruktur, passend zu dem Film „Loving Vincent“, der Ende 2017 in die Kinos kommt.

Vielleicht ist Herbert Witzel jetzt angekommen bei der Suche nach seiner Bestimmung. „Ich habe ein gewisses Gottvertrauen.“ Er strahlt Gelassenheit aus, wenn er über seine Bücher spricht. Glücklich und stolz präsentiert er sie. Mit ihnen und mit seinen musikalischen Auftritten, bei denen er seine originelle, teilweise satirische Prosa vorträgt sowie seinen Beiträgen in Stadtteilzeitungen gehört er zu jenen Menschen, die den Kiez (bzw. Neukölln) mit ihrer Kunst bereichern.





Montag, 23. Oktober 2017

39. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag, 12. Oktober 2017

Bettina Stahn – Ethnologisches Forschen in Afrika

Bettina Stahn ist eine engagierte Besucherin des Erzählcafés. Von Beginn an ist sie regelmäßig dabei. Seit 1998 wohnt sie in der Emser Straße und verfolgt die Entwicklung des Kiezes. Die Erlebnisse im Erzählcafé haben ihr den Anstoß gegeben, sich zur Wahl des Quartiersrats aufstellen zu lassen, in den sie mit einer beachtlichen Quote gewählt wurde. Darauf ist sie stolz. Die studierte Ethnologin macht entwicklungspolitische Bildungsarbeit im Bereich der Erwachsenenbildung. Im Erzählcafé berichtet sie neben Kindheitserlebnissen über ihre Forschungsprojekte in Afrika.

Bettina Stahn wird 1959 in einer in Berlin-Steglitz wohnenden Arztfamilie geboren. Ihre drei Geschwister sind wesentlich älter als sie: Zu Bernhard beträgt der Altersunterschied 10, zu Cornelia 12 und zum ältesten Bruder Gottfried-Eckehard (genannt Dicki) 14 Jahre. Nach der Geburt Bernhards dachte die Mutter, er sei ihr letztes Kind. Sie war zu der Zeit 26 Jahre alt und von Beruf Gymnastiklehrerin. Eines Tages, so erzählt es die Mutter, holte der Vater sie von einem Ostsee-Urlaub ab. Er umarmte sie und stutzte. Dass sie wieder schwanger war, wollte sie erst nicht glauben. Aber der Vater, ein Arzt, hatte recht, denn er wusste, wie seine Frau sich anfühlte, wenn sie schwanger war. 

1962 zieht die Familie nach Wannsee in ein großes Haus mit Garten, das die Eltern gebaut haben. Bettina wächst geliebt und wohlbehütet auf. Sie ist ein lebhaftes Kind, das sich allein beschäftigen kann und nie gebrüllt haben soll, wenn es etwas haben wollte. Sie hat ihre eigene Methode sich durchzusetzen. Wenn zum Beispiel eines der Geschwister das Haus verlassen möchte, stellt sich Bettina blitzschnell in die Tür und versperrt so lange den Weg, bis der Bruder oder die Schwester bereit sind, sie mitzunehmen. Bei Familienspaziergängen bleibt Bettina stehen, wenn sie nicht mehr gehen kann oder will und spreizt die Beine, um von den Älteren auf die Schulter genommen zu werden. Einmal greift sie nach dem kostbaren Lippenstift der Mutter und bemalt damit die wertvollen, aus Birkenholz gebauten Schlafzimmerschränke. Alle diese Geschichten vermerkt die Mutter in ihrem Tagebuch. Später schenken Freunde ihr eine Filmkamera, die das Tagebuch ersetzt. Die Mutter filmt, wie das Engelchen Bettina beim weihnachtlichen Krippenspiel dem afrikanischen König (alias Bruder Bernhard) die Schokolade vom Gesicht ableckt oder wie der Vater Bettina übers Knie legt, um einen Knopf mit chirurgischer Naht und Verknotung an ihre gelbe Latzhose anzunähen.

1965 wird Bettina in die nahegelegene Dreilindenschule eingeschult. Ihre Lehrerin ist jung, liebenswürdig, und „sie hatte ebenso hellblonde Haare wie ich“. Vom ersten Schultag an ist Bettina mit ihrem Klassenkameraden Claus befreundet, einem dünnen, schwarzhaarigen Jungen mit großen braunen Augen. Die beiden sind unzertrennlich. Bettina leidet an Neurodermitis und hat oft die Hände verbunden. „Meine Hände wurden mit Teersalbe eingerieben. Das war damals das beste Mittel, das den Juckreiz linderte“, erklärt Bettina und beschreibt, wie sich die Kinder in ihrer Klasse die Nase zuhalten und „iii, riecht das eklig“ schreien. Claus dagegen fasst sie um und läuft mit ihr gemeinsam über den Schulhof. Das ist für die anderen Kinder ein Grund zum Lästern, und sie rufen ihnen hinterher: „Braut und Bräutigam!“

Bettina hat genügend Selbstbewusstsein, das gemeine Verhalten ihrer Mitschüler nicht allzu sehr an sich herankommen zu lassen. Sie fühlt sich von Claus unterstützt. Außerdem ist sie auch mit Claus’ Schwester befreundet, die zwei Jahre älter ist. „Wir drei bildeten eine eingeschworene Gemeinschaft, an die niemand herankam.“ Fast täglich sind sie zusammen, entweder zuhause bei Bettina oder bei Claus und denken sich fantasievolle Spiele aus, zum Beispiel: „Verkleiden“. Dabei dürfen sie sich aus der von Bettinas Mutter mit alten Kleidungsstücken vollgestopften Truhe bedienen. Oder: „Vater, Mutter, Kind“. Bettina muss immer das Kind sein, weil sie die Jüngste ist. Im Sommer ziehen die drei durch die Umgebung, erforschen unbekannte Ecken und fühlen sich wie eine Bande. Manchmal gibt es Streit, aber sie schaffen es, sich immer wieder zu versöhnen.

Die Großmutter mütterlicherseits wohnt ganz in der Nähe, Bettina darf sie oft besuchen, sie ist gern bei ihr. Die Großmutter ist Malerin, und Bettina hält sich mit ihr den ganzen Tag lang im Atelier auf und schaut ihr beim Malen zu. „Ich bin mit der Malerei, den Pinseln und Farben aufgewachsen. Das hat mich geprägt. Kunst fasziniert mich noch heute“.

Bettinas Vater arbeitet als Chirurg in einem Ost-Berliner Krankenhaus. Täglich fährt er mit seinem Auto über die Grenze nach Lichtenberg und nimmt dabei die lästigen Kontrollen in Kauf. Auch nach dem Bau der Mauer erträgt er die Strapazen eines „Grenzgängers“. Bettina sagt, ihr Vater sei ein Idealist gewesen. Er blieb im Osten, weil es dort an Ärzten mangelte. (Nach Gründung der DDR sind viele Fachkräfte nach Westdeutschland emigriert.) In West-Berlin dagegen gibt es nur selten freie Arzt-Stellen. Da er überwiegend Ost-Geld verdient, bleibt der Familie nicht anderes übrig, als in Ost-Berlin einzukaufen. Einmal in der Woche überquert die Mutter die Grenze, um den Großeinkauf – Lebensmittel und Bekleidung – für die Familie zu erledigen und nimmt eines der älteren Kinder mit. Bettina trägt die Kleider „aus dem Osten“ gern. Erst später, als sie in der Schule ihre Mitschülerinnen in Kleidern mit Rüschen und Schleifen sieht, will sie auch „so etwas Schönes“ haben. Nach einigen Jahren verbessert sich die medizinische Versorgung in Ost-Berlin, das medizinische Personal wird aufgestockt. Plötzlich sieht man dort die West-Ärzte schief an. Als schließlich eine West-Kollegin gemobbt wird, beschließt der Vater zu gehen und kündigt.

1968, an Bettinas neuntem Geburtstag, steht der Möbelwagen vor der Tür. Sie zieht mit ihren Eltern in das südliche Baden-Württemberg nach Schwenningen, wo ihr Vater in einer Klinik arbeiten wird. Die erwachsenen Geschwister gehen eigene Wege. Bettina ist wütend und traurig, ihre Berliner Freunde verlassen zu müssen. In Schwenningen kommt sie in die 4. Klasse zum Lehrer Herrn Dieterle, den sie als „personifizierten Teufel“ erlebt. Empört berichtet sie, wie er Klassenkameraden mit dem Rohrstock schlug. Als sie einmal ein Buch vergessen hat, nähert er sich ihr hinterhältig lächelnd, kneift sie kräftig in die Wange und schlägt noch einmal drauf. „Ich war völlig paralysiert und konnte es nicht meiner Mutter erzählen. Vielleicht, weil ich wegen des vergessenen Buches ein schlechtes Gewissen hatte.“ Erst viele Jahre später spricht Bettina mit ihrer Mutter darüber. Die Mutter hätte sie selbstverständlich gegenüber dem Lehrer verteidigt, ihn sogar angezeigt.

Auch mit den schwäbischen Kindern kommt Bettina nicht klar. Das Schlimmste ist der eigenartige Dialekt, den sie sprechen. Bettina hat große Mühe sie zu verstehen. Außerdem gefallen ihr ihre Spiele nicht. „Sie warfen Bälle an die Wand und sagten dazu einen blöden Spruch.“ Wenn Bettina ein Spiel vorschlägt, lehnen sie es ab mit der Begründung, es könnte eine „Sauerei“ entstehen. Aber was bedeutet das? Bettina lernt, dass die Kinder „Unordnung“ oder „Schmutz“ meinen. Sie antwortet: Wir können ja wieder aufräumen. Doch Spiele, die Unordnung und später eine Aufräumaktion nötig machen, sind bei den Schwaben wohl nicht vorgesehen, meint Bettina. Sie schwört, niemals so zu sprechen wie die Kinder in Schwenningen. Das wäre Hochverrat gegenüber ihren Berliner Freunden. Umgekehrt finden die Schwenninger Kinder Bettina, „die so komisch spricht“, hochnäsig und glauben, dass sie sich für etwas Besseres hält.

Trotzdem findet Bettina Freundinnen und Freunde, die zu ihr passen, und sie verliebt sich zum ersten Mal. 1976 ziehen ihre Eltern wieder um, diesmal nach Nord-Württemberg in eine kleine Stadt, wo der Vater eine Arztpraxis übernimmt. Bettina muss täglich mit dem Bus zur Schule in die benachbarte Stadt fahren. In ihrer neuen Heimatstadt findet Bettina schwer Anschluss. Nur im Sportverein lernt sie ein paar Leute kennen.

Im Wintersemester 1981/82 wählt Bettina Bayreuth als Studienort, wo die 1972 gegründete Universität einen Afrika-Schwerpunkt hat. Bettina wird dort Ethnologie studieren. „Ich habe schon als Kind gern Menschen beobachtet und mich später auch für fremde Kulturkreise interessiert“, sagt Bettina. Neben Ethnologie belegt sie die Fächer Afrikanistik und Soziologie und findet in überschaubar besetzten Seminaren angenehme Studienbedingungen vor. Die Stadt Bayreuth, die lediglich einmal im Jahr während der Wagner-Festspiele aufblüht, findet Bettina wenig attraktiv. Andere kulturelle Angebote gibt es kaum. Viele der männlichen deutschen Studierenden fahren über das Wochenende nach Hause, „um sich von ihren Müttern ihre Wäsche waschen zu lassen“.

Doch Bayreuth ist Anziehungspunkt für zahlreiche afrikanische Studierende, die sich oft für Germanistik oder Afrikanistik entscheiden. Fast alle wollen nach ihrem Studium in ihre Heimat zurückkehren, um dort bei der Entwicklung mitzuhelfen. Bettina studiert in einem deutsch-afrikanischen Arbeitskreis. Die Studierenden entwickeln Aktionsformen, um gegen den Rassismus im Alltag vorzugehen, machen Ausstellungen, kleben Plakate und verteilen Flyer. Im Studentenheim kommen sie zusammen, diskutieren, kochen gemeinsam köstliche afrikanische Gerichte und organisieren Tanzfeste. „Es war eine lebendige und intensive Zeit. Bei den permanenten Diskussionen mussten wir jedes Wort auf die Goldwaage legen“, sagt Bettina. Die afrikanischen Germanistik-Studierenden hinterfragen sehr genau die Bedeutung vieler Wörter. „Die Tanzfeste haben wir über mehrere Jahre organisiert. Als eine neue Gruppe Studierender hinzukam, die Drogen einführen und Frauen abschleppen wollten, haben wir damit aufgehört.“

Bettina befasst sich mit verschiedenen afrikanischen Sprachen, intensiv jedoch mit den beiden Verkehrssprachen Swahili und Hausa. „Die meisten Afrikanerinnen und Afrikaner sprechen mindestens zwei Sprachen, dazu kommen noch die Amtssprachen, die aus der Kolonialzeit herrühren, und die jeweiligen Verkehrssprachen. Da die vielen Ethnien innerhalb verschiedener Staatsgrenzen verstreut leben, werden in den einzelnen Regionen viele Sprachen gesprochen. In Afrika gibt es mehr als 2.000 Sprachen. Der amerikanische Sprachwissenschaftler Joseph Greenberg hat in den 1960er-Jahren die afrikanischen Sprachen in vier Sprachfamilien eingeteilt. „Die Grammatik afrikanischer Sprachen ist mit der europäischer Sprachen nicht zu vergleichen“, sagt Bettina und versucht die Regeln der so genannten Klassensprachen zu erklären. Um die Hausa-Sprache zu studieren, müssen die Seminareilnehmer das arabische Alphabet lernen, damit sie den Text in arabischer Schrift lesen können.

Im Rahmen eines linguistischen Forschungsprojektes, das Bettinas Bayreuther Professor leitet, reist sie mit anderen Studierenden nach Tansania und Kenia. Es geht darum, Verwandtschaftsbezeichnungen in den verschiedenen Bantu-Sprachen zu sammeln und zu systematisieren. Die Studierenden schlagen ihr Forschungslager auf einem Campingplatz nahe Mombasa auf, um von dort aus die umliegenden Dörfer zu besuchen und an Hand eines Fragebogens Interviews auf Swahili zu führen.

1986 setzt Bettina ihr Studium an der Freien Universität Berlin fort. 1988 hat sie die Möglichkeit, an einer Feldforschung teilzunehmen, diesmal in Zaire (heute Demokratische Republik Kongo), das seit 1965 von Mobuto beherrscht wird. Der Aufenthalt wird etwa drei Monate dauern. Bettina hat sich mit dem Werk des Jesuitenpaters Wauthier de Mahieu befasst, der Anfang des 20. Jahrhunderts über das im Nordosten Zaires lebende Volk der Kumu geforscht hat, und festgestellt, dass den Frauen nur vier Seiten gewidmet sind. Im Rahmen dieses Projektes will sie die Lebensbedingungen und die Kultur der Kumu-Frauen weiter erforschen. Nach einer langen Autofahrt durch den Urwald setzt sie ihr Berliner Professor in „ihrem“ Dorf ab. Sie wohnt bei einer Familie, mit der sie sich auf Französisch oder, noch besser, auf Swahili verständigt. In ihrem winzigen Zimmer, in das gerade das Bett mit dem Moskitonetz, ein Tisch und ein Stuhl passen, fühlt sie sich wohl, und sie beginnt sich im Dorf einzuleben. Anfangs wird ihre Anwesenheit interessiert zur Kenntnis genommen. In der 200 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Kisangani, die auch eine Universität besitzt, bemerkt sie argwöhnische Blicke, weil die Einwohner sie für eine Belgierin halten, die sie an die schrecklichen Zeiten als belgische Kolonie erinnert. Wenn Bettina sagt: Ich bin Deutsche, kann sie ein höfliches „Pardon, Madame“ entgegennehmen.

Bettinas Aufgabe ist es, die Frauen bei ihrer Arbeit auf Schritt und Tritt zu begleiten. Drei Stunden vom Dorf entfernt befindet sich ein Goldabbau, wo die meisten Männer des Dorfes arbeiten. Dort übernehmen einige Frauen den Restaurantbetrieb oder verkaufen Lebensmittel. Im Dorf kümmern sich die Frauen um sämtliche anfallende Arbeiten, auch um die, die sonst von Männern übernommen werden, wie Häuserbau oder Holzfällen. Die Häuser sind aus Lehm gebaut, die Dächer mit Bananenblättern gedeckt. Nach langen Regenzeiten fallen große Reparaturen an. Die Frauen kümmern sich auch um die Kinder, kochen das Essen, gehen auf die Felder oder in den Urwald, um Feuerholz zu holen. Bettina arbeitet täglich mit. Auf der Hinreise zu ihrem Dorf hat sie sich Kinshasa und Kinsangani afrikanische Stoffe gekauft und daraus Kleider nach einheimischen Vorlagen nähen lassen, die sie jetzt im Dorf trägt. Im Urwald zieht sie Hosen an. Es ist bequemer, weil sie und die Frauen oft über große Baumstämme steigen müssen, und ihre Gasteltern haben nichts dagegen. Bei der Zubereitung der Mahlzeiten spielt Maniok eine große Rolle. Bettina schält und kocht diese Wurzel, die ein wenig wie Kartoffeln schmeckt. Um Mehl herzustellen, muss die Wurzel erst gewässert, dann getrocknet und gemahlen werden. Beim Stampfen der Maniokblätter in einem hohen Holzgefäß versucht sie, es den Frauen gleichzutun und ihren gleichmäßigen Rhythmus zu finden. Doch sie bespritzt sich von oben bis unten mit dem Maniokmus – aller Anfang ist schwer! Aus Maniok wird auch Schnaps gebrannt, mit dem sie sich schon mal mit Frauen aus der Familie einen lustigen Nachmittag macht.

Ende 1988 fährt Bettina zurück nach Berlin, beginnt ihren Forschungsbericht zu schreiben und lässt sich abschließend im Tropeninstitut untersuchen: ohne Befund. Doch nach eineinhalb Jahren fühlt sie sich nicht gut. Es heißt, wenn man diesen Zeitraum nach einem Aufenthalt in den Tropen gut überstanden hat, sei man völlig gesund, nicht jedoch Bettina. Ihr geht es immer schlechter, und sie bekommt hohes Fieber. Bettinas Freund muss den Notarzt rufen, der sie ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus bringt. Nach ausführlichen Anamnesen mit unzähligen Blutabnahmen ist kein Ergebnis in Sicht. Bis nach einigen Tagen ein junger Arzt nach ihr schaut und sagt: Ich weiß jetzt, was Sie haben: Malaria tertiana. Typisch für diese Krankheit sind die unregelmäßigen Fieberanfälle. Bettina wird auf die Infektionsabteilung verlegt, wo sich auch die neue Station für Aids-Kranke befindet. Nach sechs Wochen kann sie das Krankenhaus verlassen, wissend, dass das vielen anderen Kranken auf dieser Station nicht mehr vergönnt sein wird.

Wieder zu Hause, teilt ihr Freund ihr mit, dass er sich von ihr trennen wird. Auch das muss verkraftet werden. Bettina schließt ihren Forschungsbericht und damit auch das Studium ab und beginnt mit einer Arbeit als freiberufliche Ethnologin in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie unterrichtet in Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung über Afrika, seine Sprachen, Geschichte und Kulturen. Dabei kann sie auch ihre in Bayreuth gemachten Erfahrungen im Kampf gegen den Rassismus verwerten. Bettinas Eltern und Geschwister unterstützen sie in allen ihren Vorhaben.

Die Eltern haben sich am Rand des Schwarzwaldes noch ein Haus gebaut. Sie haben eine gute Ehe geführt und im Einklang miteinander gelebt, findet Bettina. Als der Vater 1984 im Sterben liegt, ist immer jemand aus der Familie bei ihm. „Nach seinem Tod hatte ich das Gefühl, endlich erwachsen geworden zu sein“, sagt Bettina. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Die Mutter bleibt noch viele Jahre allein in dem Haus wohnen. Als sie gebrechlich wird, machen sich die Kinder Sorgen um sie. Bettina legt ihre Unterrichtseinheiten so, dass sie alle zwei Wochen für eine Woche bei der Mutter sein kann. Die Mutter stirbt 2012 mit 90 Jahren.

Seit 1998 wohnt Bettina im Körnerkiez und sie fühlt sich wohl dort. Auch ihre Mutter ließ sie daran teilhaben: Solange diese sie noch besuchen konnte, genossen sie stets einen gemeinsamen Spaziergang im Körnerpark.