Dass Bernhard Heeb als Geschäftsführer des Nachbarschaftsheims Neukölln sehr beschäftigt ist, wissen alle im Körnerkiez. Trotzdem geht er auf meine Anfrage ein und besucht das Erzählcafé. Entspannt , konzentriert und offen schildert er den Lauf seines von Wendungen gezeichneten Lebens, bei dem er nie sein Ziel aus den Augen verlor.
Bernhard Heeb und das Nachbarschaftsheim Neukölln e.V.
Bernhard Heeb stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von St. Gallen in der Ost-Schweiz. Er ist der jüngste Spross einer Großfamilie mit 9 Kindern: 7 Mädchen und zwei Jungen. Früher, als Bernhard ein kleiner Junge war, gab es im Tal noch einige dieser großen Handwerker- und Bauernfamilien; inzwischen ist die Kinderzahl in solchen Familien viel kleiner. Sein Vater betreibt ein kleines Sägewerk, es besteht lediglich aus einem Haus, das am Bach liegt und in dem die Familie auch wohnt. Der Großvater hat es von einem Vetter übernommen und später mit seinem Sohn bewirtschaftet. Beide sägen dort zuverlässig bis zum Rentenalter das Holz und versorgen mit den bescheidenen Einkünften ihre Familien. Bernhards Mutter ist Italienerin, deren Familie kurz vor ihrer Geburt im Jahr 1920 in das Dorf gezogen ist. Ihre Eltern - der Vater war Maurer - zogen 6 Kinder groß, die alle eine Ausbildung erhielten, auch die Mädchen. Bernhards Mutter hat Bürokauffrau gelernt und geht trotz ihrer vielen Kinder halbtags arbeiten. Mit 25 Jahren bekommt sie ihr erstes Kind, mit 45 ihr letztes: 1967 wird Bernhard geboren.
Nach einer neunjährigen Schulzeit beginnt Bernhard eine vierjährige Lehre als Mechaniker. Dazu gehört der Besuch einer Berufsschule an einem Tag in der Woche. An einem zweiten Tag besucht er eine Berufsmittelschule, die für das spätere Ingenieurstudium qualifiziert. Im Laufe der Berufslehre haben sich seine Hauptinteressen gewandelt. Er möchte lieber mit Menschen arbeiten und interessiert sich mehr für gesellschaftspolitische Fragen. Sein Lehrbetrieb liegt im Nachbardorf. Die Industrialisierung in der Schweiz war schon im 19. Jahrhundert weit fortgeschritten, haben sich doch in den Schweizer Tälern entlang der Wasserläufe viele Industriebetriebe angesiedelt. Erst als die Elektrizität aufkam, hat sich die Industrie in die Ballungszentren verschoben.
Nach der Ausbildung findet Bernhard eine Anstellung als Gruppenleiter in einer Behindertenwerkstatt, wo ihm seine Qualifikation als Mechaniker und sein Händchen für’s Soziale – schon früher hat er Jugendgruppen geleitet und Jugendgruppenleiter ausgebildet – zugute kommen. Nach zweieinhalb Jahren wird ihm deutlich, das er mehr möchte und bedauert kein Abitur abgelegt zu haben, um studieren zu können. Doch es gibt die Möglichkeit, ein Studium der Sozialarbeit zu absolvieren, wenn man eine zweijährige Berufstätigkeit, den Schulabschluss und bestimmte Qualifizierungen nachweisen kann. Bernhard holt das Notwendige nach, erreicht das Niveau des Fachabiturs, wird zum Auswahlgespräch an der Höhere Fachschule für Sozialarbeit in Bern eingeladen, kann seine Eignung überzeugend darlegen und wird 1990 als Student aufgenommen. Das Studium dauert dreieinhalb Jahre, in denen zwei Praktika verlangt werden, eines davon muss ein halbes Jahr umfassen. Neu ist die Regelung, dass das Praktikum im Rahmen des Erasmus-Hochschulprogramms auch im Ausland abgeleistet werden kann. Bernhard entscheidet sich für Berlin. Freunde haben ihm von Berlin vorgeschwärmt.
Beim Nachbarschaftsheim Schöneberg erhält er 1992/93 einen Praktikumsplatz und erlebt im Bereich Stadtteil- und Kulturarbeit, wie dort die Gemeinwesenarbeit in der Praxis abläuft. Ihn fasziniert, mit welcher Offenheit und Neugier sich die Menschen begegnen und dass sich jeder, der möchte, an kulturellen Projekten beteiligen und dabei lernen und Erfahrungen machen kann. Auch ist er angetan von der Stadt und ihrer Dynamik. Für einen Schweizer ist es zum Beispiel unvorstellbar, dass ein Straßenname geändert wird, geschweige denn so viele in kürzester Zeit wie damals in Berlin und den neuen Bundesländern. (Zu erklären ist diese besondere Situation mit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990. Bestimmte Straßennamen nach z. B. kommunistischen „Helden“ waren im vereinten, marktwirtschaftlichen Deutschland nicht mehr opportun.) Bernhard gefällt es, dass man leicht Kontakte schließen kann und auch akzeptiert wird. In der Schweiz schließt man sich eher einem Grüppchen oder Kreis an und bleibt dabei. Es wird beobachtet, wer wohin gehört. Nach dem halben Praktikumsjahr kehrt Bernhard in die Schweiz zurück und beendet dort sein Studium. Ein Jahr später beschließt er erneut nach Berlin zu gehen.
Jetzt merkt er, dass er seine Vorstellungen revidieren muss. So einfach wie in der Schweiz ist das Berliner Leben nicht. Der Lebensstandard ist niedriger. Als Mechaniker und Sozialarbeiter konnte er in der Schweiz gut leben. Wenn er 30 Prozent seiner Zeit zum Geldverdienen einsetzte, verblieben 70 Prozent für Themen, die ihn interessieren und Freude machen. In Berlin muss man 100 Prozent Zeit hergeben, um sich einen Lebensunterhalt zu erarbeiten und kann dann noch froh sein einigermaßen über die Runden zu kommen. In der Schweiz hatte er vertretungsweise in einem Fahrradrecycling-Projekt für schwer vermittelbare Arbeitslose gearbeitet. Sein Stundenlohn betrug 34,50 Franken (damals etwa 38,00 DM). Als er sich in Berlin bei einem ähnlichen Projekt bewirbt, nimmt er sich vor, einen moderaten Preis zu nennen, schlägt 20 DM vor und stößt auf völliges Unverständnis. Trotzdem lebt er sich gut ein und lernt nach einem Jahr seine spätere Frau kennen. Sie wird schwanger, was nicht geplant war. Plötzlich hat Bernhard eine Familie und muss ernsthaft Geld verdienen. Das ist jetzt kompliziert. Sein Schweizer Diplom wird nicht anerkannt. Hätte er eine Sozialarbeiterstelle gefunden, wäre er nur als unqualifizierter Mitarbeiter bezahlt worden. Aber 1992 ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt schwierig, erst recht für Ausländer. Arbeitgeber müssen die Einstellung eines Ausländers beantragen und prüfen lassen, ob es nicht bevorrechtigte deutsche Bewerber gibt. Und da es viele deutsche, Arbeit suchende Sozialarbeiter gibt, hat Bernhard keine Chancen.
Bernhard besinnt sich auf seine anderen, praktischen Fähigkeiten und macht sich als Handwerker selbstständig; dafür braucht er keine Arbeitserlaubnis. Ein halbes Jahr verdingt er sich in Neukölln bei einem Schleifmaschinenverleih; dann wirbt ihn ein Kunde ab, dessen Betrieb auf den Ausbau von Läden und auf Holzfußböden spezialisiert ist. Dort ist er Vorarbeiter auf den Baustellen. Als sein Chef das Geschäft aufgibt, macht Bernhard auf eigene Rechnung weiter. Seinen Betrieb, den er vier Jahre lang führt, nennt er „Heeb-Raumgestaltung“. Mitarbeiter sind Studenten oder Freiberufliche, die er nach Stunden bezahlt. Arbeit gibt es genügend, denn die Altbaugebiete im ehemaligen Ost-Berlin müssen dringend erneuert werden. In Prenzlauer Berg sanieren sie ganze Mietshäuser. Sie schleifen hunderte Quadratmeter Dielen ab, verlegen Parkett oder restaurieren kostbare Intarsien-Holzböden.
Bernhard wohnt mit Frau und Kind in einem alten Haus in Kreuzberg, wo sie als Untermieter eine Wohnung bezogen haben. Nach und nach werden die Wohnungen als Eigentum verkauft. Erst spät merken die neuen Eigentümer, wie kaputt die Immobilie eigentlich ist. Da nutzt Bernhard die Möglichkeit als Käufer mit einzusteigen und beteiligt sich an den Modernisierungsmaßnahmen.
Die Arbeit im Baubetrieb läuft gut, geht aber an die Substanz. Es wäre an der Zeit, das Geschäft wirtschaftlich breiter aufzustellen - mit fest angestellten Mitarbeitern. Das wiederum hätte zur Folge gehabt, immer volle Auftragsbücher haben zu müssen, um den Grundumsatz erzielen zu können. Bernhard sieht den körperlichen Verschleiß kommen, weiß, dass er diese Arbeit nicht bis ins Alter machen kann und möchte; er sehnt sich danach, wieder stärker „mit dem Kopf“ zu arbeiten. Als seine Tochter in die Kita kommt und seine Frau wieder voll arbeitet, bietet sich eine neue Chance: ein Masterstudium „Soziale Arbeit und Menschenrechte“, das gerade in Berlin eingerichtet wurde. Von 2000 bis 2003 ist er wieder Student; sein Praktikum absolviert er im Deutschen Institut für Menschenrechte, nebenbei arbeitet er als Fortbildungstrainer. Dann heißt es wieder: Arbeit suchen. Bekannte machen ihm einen Kontakt zum Nachbarschaftsheim Neukölln, das sich allerdings zu dieser Zeit in einem bedauernswerten Zustand befindet.
Das Nachbarschaftsheim ist heute eine zentrale Einrichtung der interkulturellen Kinder- und Familienarbeit im Quartier und in ganz Nord-Neukölln. Es wurde 1947 auf Initiative der amerikanischen Militärverwaltung und mit Unterstützung des amerikanischen Verbandes christlicher junger Frauen (YWCA) gegründet. Damals wollte man von Bürgern getragene Orte der Begegnung und gegenseitiger Hilfe fördern, die zugleich ein Übungsfeld für die neue Demokratie und Kompensation für die nach dem Krieg ausgedünnte soziale Infrastruktur sein sollten. Von Anfang an waren engagierte Berliner*innen und Vertreter*innen der Neuköllner Politik und der Sozialverwaltung beteiligt. Zunächst wurden Räume in einem beschädigten Haus in der Ziethenstraße (heute Werbellinstraße) bezogen, später wurde an der Schierker Straße eine ehemalige Militärbaracke hergerichtet. Dank einer großzügigen amerikanischen Spende der Alliierten Hohen Kommission konnte 1952/53 auf dem angrenzenden Grundstück ein Neubau nach Plänen des Architekten Max Taut errichtet werden. Jugendliche aus aller Welt beteiligten sich im Rahmen eines internationalen Freiwilligeneinsatzes an den Bauarbeiten. Der Neubau umfasst ein zweigeschossiges Hauptgebäude, einen Saal sowie einen eingeschossigen Anbau. Seit 1953 ist das Nachbarschaftsheim als gemeinnütziger Verein organisiert, der zum Ziel hat sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken und gemeinsam mit den Bewohnern die soziale Situation im Quartier zu verbessern. Dabei dürfen Herkunft, Religion oder Partei keine Rolle spielen.
In den Anfangsjahren entsprachen Angebote wie eine Nähstube oder eine Tischlerei den Bedürfnissen der Nachkriegszeit. So gab es eine Frauengruppe, die aus Stoffresten Kleidung nähte; aus 7 Armeekrawatten ließ sich beispielsweise ein Mädchenrock herstellen. Das Nachbarschaftsheim entwickelte sich schnell zu einem Treffpunkt für Gruppen von Kindern, Jugendlichen, Frauen Senioren und Behinderten. Von 1954 bis 1970 gab es eine Zeitung heraus. Sie hieß „Das Fenster“, erschien monatlich bis vierteljährlich und brachte ein Sammelsurium von Artikeln heraus: theoretische Abhandlungen zur sozialen Arbeit, Grußworte aus Amerika, Praktikantenberichte und Fragen zum Alltag. Im Keller des Nachbarschaftsheims liegen noch die säuberlich gebundenen Jahrgangsbücher. Mit dem wandelnden Zeitgeist änderte sich auch das Programm des Nachbarschaftsheims. Bis in die 1960er-Jahre war das es ein Zentrum internationalen Austauschs. Ende der 1950er-Jahre dominierten Arbeiterjugendliche das Gruppenleben. Für die „Halbstarken“ wurden Rock’n Roll-Tanzabende organisiert und Rockergruppen mussten integriert werden. Die anderen Gruppen arbeiteten weiterhin im Haus.
Anfang der 1970er-Jahre gab es durch den Einfluss der Ideen der Studentenbewegung einen völligen Umbruch. Das Haus wurde nun selbstverwaltet. Basisdemokratische Strukturen herrschten vor. Die politische Arbeit stand im Vordergrund. Im Kinder- und Jugendbereich galt das Prinzip der „offenen Tür“. Bahnbrechend war der Aufbau von Abenteuerspielplätzen, wo die Kinder Selbstbestimmung und Selbstverantwortung lernen sollten. Es gab zu dieser Zeit genügend Geld für die notwendige Betreuung. In den 1980er-Jahren startete das Deutsch-Türkische Integrationsprojekt, um Vorurteile unter türkischen und deutschen Kindern abzubauen.
Mitte der 1980er-Jahre wurde die Jugendwerkstatt „Statt Knast“ mit einer Siebdruck- und einer Fahrrad- und Metallwerkstatt eröffnet. Getreu dem Grundsatz „Erziehen statt strafen“ lenkte man die Energie straffällig gewordener Jugendlicher in künstlerische und kreative Bahnen, indem sie, angeleitet von künstlerisch und handwerklich begabten Sozialarbeiter*innen, Plakate, Drucke und Skulpturen schufen oder auch Fahrräder reparierten.
Nach der Wende wurde es schwierig für die staatlich geförderte Sozialarbeit, denn viele Gelder und Stellen wurden gestrichen. In Neukölln wurden die Probleme indes nicht weniger, sondern durch die horrende Arbeitslosigkeit im Gegenteil noch stark verschärft. Das Nachbarschaftsheim kam mit den Veränderungen nicht zurecht. Nachdem seine Arbeit immer stärker in die Kritik geriet, wurde der damalige Geschäftsführer im Jahr 2004 aus der Verantwortung entlassen und der ehrenamtliche Vorstand führte nun selbst die Geschäfte.
Zu diesem Zeitpunkt kommt Bernhard mit dem Nachbarschaftszentrum in Berührung; er übernimmt die Vertretung und soll mit den verbliebenen 7 Mitarbeitern den Betrieb aufrecht erhalten und eine neue Struktur aufbauen. Ein Glücksfall für das Nachbarschaftsheim ist, dass 2005 ein Quartiersmanagement eingerichtet wird. Damit stehen Ressourcen zur Verfügung, mit denen im Nachbarschaftsheim Projekte für den Kiez umgesetzt werden können. Das ist die Chance, wieder neue Impulse zu setzen. In einer ersten Aktion wird der alte, dunkle Saal, der sich nicht so recht nutzen ließ, umgebaut. Er erhält eine große Fensterwand, eine Schall absorbierende Decke, einen strapazierfähigen Bodenbelag und eine gute Beleuchtung, so dass er den unterschiedlichen Ansprüchen, Spiel, Sport, aber auch Stadtteilversammlungen und anderen Veranstaltungen, gerecht werden kann. Gemeinsam mit dem Quartiersmanagement werden Ideen für den Kiez entwickelt und die Bedarfe aus der Sicht von Familien und Kindern bestimmt. Ein Projekt der ersten Stunde ist die Hausaufgabenhilfe, auf die viele Kinder aus dem Kiez angewiesen sind, weil die Familien sie im schulischen Bereich nur ungenügend unterstützen können. Darüber hinaus wird das Familienbildungszentrum in der Altenbraker Straße aufgebaut, das u.a. Müttern mit Kleinkindern mit Rat und Tat zur Seite steht. Aktuell werden dort auch zweisprachige Mutter-Kind-Gruppen und Hebammendienste für rumänische Zugewanderte angeboten. Bernhard und seine inzwischen neu hinzugekommenen Kollegen entwickeln das Nachbarschaftsheim zu einem Zentrum der Familienarbeit im Kiez. Inzwischen gibt es ein Kiezcafé mit Garten, eine Kita, die Hausaufgabenhilfe, Freizeit- und Sportangebote für Familien, Kinder und Senioren sowie die Unterstützung von Bewohnerinitiativen und Integrationsprojekten. Die Angebote weiten sich bis in andere Kieze aus. In den Jahren 2010/11 wird das gesamte Gebäude saniert und technisch erneuert. Außerdem wird der Garten mithilfe der Besucher neu gestaltet, so dass sie jetzt über einen neuen Spielplatz, eine Terrasse für die Kita, eine abgesenkte Feuerstelle, einen Grillplatz und einen Nachbarschaftsgarten mit Hoch- und Tiefbeeten verfügen können.
Nach allen diesen Maßnahmen ist das Nachbarschaftsheim mit seinem attraktiven Gebäude und dem wunderschönen Garten eine bedeutende Infrastruktur im Kiez und ein beliebter Anziehungspunkt für alle Bewohner. Bernhard Heeb und seine Kollegen, aber auch die Quartiersmanager, können mit ihrer Arbeit zufrieden sein.
Bernhard Heeb stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von St. Gallen in der Ost-Schweiz. Er ist der jüngste Spross einer Großfamilie mit 9 Kindern: 7 Mädchen und zwei Jungen. Früher, als Bernhard ein kleiner Junge war, gab es im Tal noch einige dieser großen Handwerker- und Bauernfamilien; inzwischen ist die Kinderzahl in solchen Familien viel kleiner. Sein Vater betreibt ein kleines Sägewerk, es besteht lediglich aus einem Haus, das am Bach liegt und in dem die Familie auch wohnt. Der Großvater hat es von einem Vetter übernommen und später mit seinem Sohn bewirtschaftet. Beide sägen dort zuverlässig bis zum Rentenalter das Holz und versorgen mit den bescheidenen Einkünften ihre Familien. Bernhards Mutter ist Italienerin, deren Familie kurz vor ihrer Geburt im Jahr 1920 in das Dorf gezogen ist. Ihre Eltern - der Vater war Maurer - zogen 6 Kinder groß, die alle eine Ausbildung erhielten, auch die Mädchen. Bernhards Mutter hat Bürokauffrau gelernt und geht trotz ihrer vielen Kinder halbtags arbeiten. Mit 25 Jahren bekommt sie ihr erstes Kind, mit 45 ihr letztes: 1967 wird Bernhard geboren.
Nach einer neunjährigen Schulzeit beginnt Bernhard eine vierjährige Lehre als Mechaniker. Dazu gehört der Besuch einer Berufsschule an einem Tag in der Woche. An einem zweiten Tag besucht er eine Berufsmittelschule, die für das spätere Ingenieurstudium qualifiziert. Im Laufe der Berufslehre haben sich seine Hauptinteressen gewandelt. Er möchte lieber mit Menschen arbeiten und interessiert sich mehr für gesellschaftspolitische Fragen. Sein Lehrbetrieb liegt im Nachbardorf. Die Industrialisierung in der Schweiz war schon im 19. Jahrhundert weit fortgeschritten, haben sich doch in den Schweizer Tälern entlang der Wasserläufe viele Industriebetriebe angesiedelt. Erst als die Elektrizität aufkam, hat sich die Industrie in die Ballungszentren verschoben.
Nach der Ausbildung findet Bernhard eine Anstellung als Gruppenleiter in einer Behindertenwerkstatt, wo ihm seine Qualifikation als Mechaniker und sein Händchen für’s Soziale – schon früher hat er Jugendgruppen geleitet und Jugendgruppenleiter ausgebildet – zugute kommen. Nach zweieinhalb Jahren wird ihm deutlich, das er mehr möchte und bedauert kein Abitur abgelegt zu haben, um studieren zu können. Doch es gibt die Möglichkeit, ein Studium der Sozialarbeit zu absolvieren, wenn man eine zweijährige Berufstätigkeit, den Schulabschluss und bestimmte Qualifizierungen nachweisen kann. Bernhard holt das Notwendige nach, erreicht das Niveau des Fachabiturs, wird zum Auswahlgespräch an der Höhere Fachschule für Sozialarbeit in Bern eingeladen, kann seine Eignung überzeugend darlegen und wird 1990 als Student aufgenommen. Das Studium dauert dreieinhalb Jahre, in denen zwei Praktika verlangt werden, eines davon muss ein halbes Jahr umfassen. Neu ist die Regelung, dass das Praktikum im Rahmen des Erasmus-Hochschulprogramms auch im Ausland abgeleistet werden kann. Bernhard entscheidet sich für Berlin. Freunde haben ihm von Berlin vorgeschwärmt.
Beim Nachbarschaftsheim Schöneberg erhält er 1992/93 einen Praktikumsplatz und erlebt im Bereich Stadtteil- und Kulturarbeit, wie dort die Gemeinwesenarbeit in der Praxis abläuft. Ihn fasziniert, mit welcher Offenheit und Neugier sich die Menschen begegnen und dass sich jeder, der möchte, an kulturellen Projekten beteiligen und dabei lernen und Erfahrungen machen kann. Auch ist er angetan von der Stadt und ihrer Dynamik. Für einen Schweizer ist es zum Beispiel unvorstellbar, dass ein Straßenname geändert wird, geschweige denn so viele in kürzester Zeit wie damals in Berlin und den neuen Bundesländern. (Zu erklären ist diese besondere Situation mit der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990. Bestimmte Straßennamen nach z. B. kommunistischen „Helden“ waren im vereinten, marktwirtschaftlichen Deutschland nicht mehr opportun.) Bernhard gefällt es, dass man leicht Kontakte schließen kann und auch akzeptiert wird. In der Schweiz schließt man sich eher einem Grüppchen oder Kreis an und bleibt dabei. Es wird beobachtet, wer wohin gehört. Nach dem halben Praktikumsjahr kehrt Bernhard in die Schweiz zurück und beendet dort sein Studium. Ein Jahr später beschließt er erneut nach Berlin zu gehen.
Jetzt merkt er, dass er seine Vorstellungen revidieren muss. So einfach wie in der Schweiz ist das Berliner Leben nicht. Der Lebensstandard ist niedriger. Als Mechaniker und Sozialarbeiter konnte er in der Schweiz gut leben. Wenn er 30 Prozent seiner Zeit zum Geldverdienen einsetzte, verblieben 70 Prozent für Themen, die ihn interessieren und Freude machen. In Berlin muss man 100 Prozent Zeit hergeben, um sich einen Lebensunterhalt zu erarbeiten und kann dann noch froh sein einigermaßen über die Runden zu kommen. In der Schweiz hatte er vertretungsweise in einem Fahrradrecycling-Projekt für schwer vermittelbare Arbeitslose gearbeitet. Sein Stundenlohn betrug 34,50 Franken (damals etwa 38,00 DM). Als er sich in Berlin bei einem ähnlichen Projekt bewirbt, nimmt er sich vor, einen moderaten Preis zu nennen, schlägt 20 DM vor und stößt auf völliges Unverständnis. Trotzdem lebt er sich gut ein und lernt nach einem Jahr seine spätere Frau kennen. Sie wird schwanger, was nicht geplant war. Plötzlich hat Bernhard eine Familie und muss ernsthaft Geld verdienen. Das ist jetzt kompliziert. Sein Schweizer Diplom wird nicht anerkannt. Hätte er eine Sozialarbeiterstelle gefunden, wäre er nur als unqualifizierter Mitarbeiter bezahlt worden. Aber 1992 ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt schwierig, erst recht für Ausländer. Arbeitgeber müssen die Einstellung eines Ausländers beantragen und prüfen lassen, ob es nicht bevorrechtigte deutsche Bewerber gibt. Und da es viele deutsche, Arbeit suchende Sozialarbeiter gibt, hat Bernhard keine Chancen.
Bernhard besinnt sich auf seine anderen, praktischen Fähigkeiten und macht sich als Handwerker selbstständig; dafür braucht er keine Arbeitserlaubnis. Ein halbes Jahr verdingt er sich in Neukölln bei einem Schleifmaschinenverleih; dann wirbt ihn ein Kunde ab, dessen Betrieb auf den Ausbau von Läden und auf Holzfußböden spezialisiert ist. Dort ist er Vorarbeiter auf den Baustellen. Als sein Chef das Geschäft aufgibt, macht Bernhard auf eigene Rechnung weiter. Seinen Betrieb, den er vier Jahre lang führt, nennt er „Heeb-Raumgestaltung“. Mitarbeiter sind Studenten oder Freiberufliche, die er nach Stunden bezahlt. Arbeit gibt es genügend, denn die Altbaugebiete im ehemaligen Ost-Berlin müssen dringend erneuert werden. In Prenzlauer Berg sanieren sie ganze Mietshäuser. Sie schleifen hunderte Quadratmeter Dielen ab, verlegen Parkett oder restaurieren kostbare Intarsien-Holzböden.
Bernhard wohnt mit Frau und Kind in einem alten Haus in Kreuzberg, wo sie als Untermieter eine Wohnung bezogen haben. Nach und nach werden die Wohnungen als Eigentum verkauft. Erst spät merken die neuen Eigentümer, wie kaputt die Immobilie eigentlich ist. Da nutzt Bernhard die Möglichkeit als Käufer mit einzusteigen und beteiligt sich an den Modernisierungsmaßnahmen.
Die Arbeit im Baubetrieb läuft gut, geht aber an die Substanz. Es wäre an der Zeit, das Geschäft wirtschaftlich breiter aufzustellen - mit fest angestellten Mitarbeitern. Das wiederum hätte zur Folge gehabt, immer volle Auftragsbücher haben zu müssen, um den Grundumsatz erzielen zu können. Bernhard sieht den körperlichen Verschleiß kommen, weiß, dass er diese Arbeit nicht bis ins Alter machen kann und möchte; er sehnt sich danach, wieder stärker „mit dem Kopf“ zu arbeiten. Als seine Tochter in die Kita kommt und seine Frau wieder voll arbeitet, bietet sich eine neue Chance: ein Masterstudium „Soziale Arbeit und Menschenrechte“, das gerade in Berlin eingerichtet wurde. Von 2000 bis 2003 ist er wieder Student; sein Praktikum absolviert er im Deutschen Institut für Menschenrechte, nebenbei arbeitet er als Fortbildungstrainer. Dann heißt es wieder: Arbeit suchen. Bekannte machen ihm einen Kontakt zum Nachbarschaftsheim Neukölln, das sich allerdings zu dieser Zeit in einem bedauernswerten Zustand befindet.
Das Nachbarschaftsheim ist heute eine zentrale Einrichtung der interkulturellen Kinder- und Familienarbeit im Quartier und in ganz Nord-Neukölln. Es wurde 1947 auf Initiative der amerikanischen Militärverwaltung und mit Unterstützung des amerikanischen Verbandes christlicher junger Frauen (YWCA) gegründet. Damals wollte man von Bürgern getragene Orte der Begegnung und gegenseitiger Hilfe fördern, die zugleich ein Übungsfeld für die neue Demokratie und Kompensation für die nach dem Krieg ausgedünnte soziale Infrastruktur sein sollten. Von Anfang an waren engagierte Berliner*innen und Vertreter*innen der Neuköllner Politik und der Sozialverwaltung beteiligt. Zunächst wurden Räume in einem beschädigten Haus in der Ziethenstraße (heute Werbellinstraße) bezogen, später wurde an der Schierker Straße eine ehemalige Militärbaracke hergerichtet. Dank einer großzügigen amerikanischen Spende der Alliierten Hohen Kommission konnte 1952/53 auf dem angrenzenden Grundstück ein Neubau nach Plänen des Architekten Max Taut errichtet werden. Jugendliche aus aller Welt beteiligten sich im Rahmen eines internationalen Freiwilligeneinsatzes an den Bauarbeiten. Der Neubau umfasst ein zweigeschossiges Hauptgebäude, einen Saal sowie einen eingeschossigen Anbau. Seit 1953 ist das Nachbarschaftsheim als gemeinnütziger Verein organisiert, der zum Ziel hat sozialer Ungleichheit entgegenzuwirken und gemeinsam mit den Bewohnern die soziale Situation im Quartier zu verbessern. Dabei dürfen Herkunft, Religion oder Partei keine Rolle spielen.
In den Anfangsjahren entsprachen Angebote wie eine Nähstube oder eine Tischlerei den Bedürfnissen der Nachkriegszeit. So gab es eine Frauengruppe, die aus Stoffresten Kleidung nähte; aus 7 Armeekrawatten ließ sich beispielsweise ein Mädchenrock herstellen. Das Nachbarschaftsheim entwickelte sich schnell zu einem Treffpunkt für Gruppen von Kindern, Jugendlichen, Frauen Senioren und Behinderten. Von 1954 bis 1970 gab es eine Zeitung heraus. Sie hieß „Das Fenster“, erschien monatlich bis vierteljährlich und brachte ein Sammelsurium von Artikeln heraus: theoretische Abhandlungen zur sozialen Arbeit, Grußworte aus Amerika, Praktikantenberichte und Fragen zum Alltag. Im Keller des Nachbarschaftsheims liegen noch die säuberlich gebundenen Jahrgangsbücher. Mit dem wandelnden Zeitgeist änderte sich auch das Programm des Nachbarschaftsheims. Bis in die 1960er-Jahre war das es ein Zentrum internationalen Austauschs. Ende der 1950er-Jahre dominierten Arbeiterjugendliche das Gruppenleben. Für die „Halbstarken“ wurden Rock’n Roll-Tanzabende organisiert und Rockergruppen mussten integriert werden. Die anderen Gruppen arbeiteten weiterhin im Haus.
Anfang der 1970er-Jahre gab es durch den Einfluss der Ideen der Studentenbewegung einen völligen Umbruch. Das Haus wurde nun selbstverwaltet. Basisdemokratische Strukturen herrschten vor. Die politische Arbeit stand im Vordergrund. Im Kinder- und Jugendbereich galt das Prinzip der „offenen Tür“. Bahnbrechend war der Aufbau von Abenteuerspielplätzen, wo die Kinder Selbstbestimmung und Selbstverantwortung lernen sollten. Es gab zu dieser Zeit genügend Geld für die notwendige Betreuung. In den 1980er-Jahren startete das Deutsch-Türkische Integrationsprojekt, um Vorurteile unter türkischen und deutschen Kindern abzubauen.
Mitte der 1980er-Jahre wurde die Jugendwerkstatt „Statt Knast“ mit einer Siebdruck- und einer Fahrrad- und Metallwerkstatt eröffnet. Getreu dem Grundsatz „Erziehen statt strafen“ lenkte man die Energie straffällig gewordener Jugendlicher in künstlerische und kreative Bahnen, indem sie, angeleitet von künstlerisch und handwerklich begabten Sozialarbeiter*innen, Plakate, Drucke und Skulpturen schufen oder auch Fahrräder reparierten.
Nach der Wende wurde es schwierig für die staatlich geförderte Sozialarbeit, denn viele Gelder und Stellen wurden gestrichen. In Neukölln wurden die Probleme indes nicht weniger, sondern durch die horrende Arbeitslosigkeit im Gegenteil noch stark verschärft. Das Nachbarschaftsheim kam mit den Veränderungen nicht zurecht. Nachdem seine Arbeit immer stärker in die Kritik geriet, wurde der damalige Geschäftsführer im Jahr 2004 aus der Verantwortung entlassen und der ehrenamtliche Vorstand führte nun selbst die Geschäfte.
Zu diesem Zeitpunkt kommt Bernhard mit dem Nachbarschaftszentrum in Berührung; er übernimmt die Vertretung und soll mit den verbliebenen 7 Mitarbeitern den Betrieb aufrecht erhalten und eine neue Struktur aufbauen. Ein Glücksfall für das Nachbarschaftsheim ist, dass 2005 ein Quartiersmanagement eingerichtet wird. Damit stehen Ressourcen zur Verfügung, mit denen im Nachbarschaftsheim Projekte für den Kiez umgesetzt werden können. Das ist die Chance, wieder neue Impulse zu setzen. In einer ersten Aktion wird der alte, dunkle Saal, der sich nicht so recht nutzen ließ, umgebaut. Er erhält eine große Fensterwand, eine Schall absorbierende Decke, einen strapazierfähigen Bodenbelag und eine gute Beleuchtung, so dass er den unterschiedlichen Ansprüchen, Spiel, Sport, aber auch Stadtteilversammlungen und anderen Veranstaltungen, gerecht werden kann. Gemeinsam mit dem Quartiersmanagement werden Ideen für den Kiez entwickelt und die Bedarfe aus der Sicht von Familien und Kindern bestimmt. Ein Projekt der ersten Stunde ist die Hausaufgabenhilfe, auf die viele Kinder aus dem Kiez angewiesen sind, weil die Familien sie im schulischen Bereich nur ungenügend unterstützen können. Darüber hinaus wird das Familienbildungszentrum in der Altenbraker Straße aufgebaut, das u.a. Müttern mit Kleinkindern mit Rat und Tat zur Seite steht. Aktuell werden dort auch zweisprachige Mutter-Kind-Gruppen und Hebammendienste für rumänische Zugewanderte angeboten. Bernhard und seine inzwischen neu hinzugekommenen Kollegen entwickeln das Nachbarschaftsheim zu einem Zentrum der Familienarbeit im Kiez. Inzwischen gibt es ein Kiezcafé mit Garten, eine Kita, die Hausaufgabenhilfe, Freizeit- und Sportangebote für Familien, Kinder und Senioren sowie die Unterstützung von Bewohnerinitiativen und Integrationsprojekten. Die Angebote weiten sich bis in andere Kieze aus. In den Jahren 2010/11 wird das gesamte Gebäude saniert und technisch erneuert. Außerdem wird der Garten mithilfe der Besucher neu gestaltet, so dass sie jetzt über einen neuen Spielplatz, eine Terrasse für die Kita, eine abgesenkte Feuerstelle, einen Grillplatz und einen Nachbarschaftsgarten mit Hoch- und Tiefbeeten verfügen können.
Nach allen diesen Maßnahmen ist das Nachbarschaftsheim mit seinem attraktiven Gebäude und dem wunderschönen Garten eine bedeutende Infrastruktur im Kiez und ein beliebter Anziehungspunkt für alle Bewohner. Bernhard Heeb und seine Kollegen, aber auch die Quartiersmanager, können mit ihrer Arbeit zufrieden sein.
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