Donnerstag, 28. März
2016
Am Mittwoch ruft mich
Anneliese Gergs an: „Sie können sicher sein, ich werde morgen kommen.“ Ich bin
erleichtert, denn noch vor ein paar Tagen fühlte sich die fast 86-Jährige nicht
wohl. Schon einmal hatte sie absagen müssen.
Heute steht sie froh
gestimmt im Leuchtturm vor mir und sieht mich mit wachen Augen an. Trotz der
Krücken, die ihr das Laufen erleichtern, sieht man ihr das Alter nicht an.
Unser Versammlungsraum füllt sich. Wir stellen uns wie immer vor, Anneliese
Gergs nimmt es interessiert zur Kenntnis und legt dann mit ihrer Geschichte
los.
Ich muss es
vorwegnehmen: Sie berichtet stringent, konzentriert und ohne lange Pausen fast
druckreif. Wir hören atemlos zu.
Anneliese Gergs:
Bewohnerin des Ilsenhofs seit 1930
Der Ilsenhof in den
1930er-Jahren
Anneliese Gergs verbringt ihr ganzes Leben im Ilsenhof - mit
einer Ausnahme: Während des Krieges hält sie sich drei Jahre im ehemaligen
Westpreußen bei ihrer Großmutter auf. Der Ilsenhof ist eine 1928/29 nahe am
Körnerpark erbaute Wohnanlage. Sie zählt zu den fortschrittlichen
Wohnsiedlungen der 1920er-Jahre, die zur Linderung der Wohnungsnot, aber auch
als Alternative zu den Mietskasernenvierteln der Gründerzeit errichtet wurden. Bauherr
und Eigentümer ist die Berliner Baugenossenschaft. Nach der Fertigstellung des
Ilsenhofs mit seinen 182 Wohnungen zählen Annelieses Eltern zu den ersten
Nutzern.
Annelieses Vater, geboren 1899, stammt aus Berlin-Kreuzberg.
Er ist Schriftgießer. Dieser Beruf, bei dem man Buchstaben in Blei gießt, ist
heute so gut wie ausgestorben. Ihre Mutter, geboren 1900, wächst in Westpreußen
auf. Nach der Volksschule lernt sie Haus- und Landwirtschaft auf einem Gut. In
den 1920er-Jahren geht sie nach Berlin und arbeitet als „Stütze der Hausfrau“
in verschiedenen bürgerlichen Haushalten. Die letzte Stelle hat sie beim
Verleger Langenscheidt in Wannsee.
Die beiden lernen sich in den 1920er-Jahren kennen und heiraten
1928. Bis zur Fertigstellung des Ilsenhofs wohnen sie in Kreuzberg zur
Untermiete, woran sie sich nicht gern erinnern. Im November 1929 können sie
endlich im Ilsenhof Nr. 10 eine Eineinhalbzimmer-Wohnung beziehen, und im April
1930 wird Anneliese geboren. Für die 50 Quadratmeter große Wohnung ist 48,50 RM
als Miete zu entrichten. Dieser Preis verändert sich nicht bis zur
Währungsreform.
Die Miete wird persönlich beim Verwalter bezahlt. Anneliese
ist eifrig darauf bedacht diese Aufgabe zu übernehmen. Mit dem
Mietquittungsbuch in der Hand sucht sie den Verwalter auf. Das Geschäft wird in
der Diele seiner Wohnung abgewickelt, wo ein großer Schreibtisch steht – immer
mit einer Schüssel voller Schokoladenplätzchen...
Das Haus hat vier Stockwerke. Familie Gergs wohnt im 3.
Stock. Im Dachgeschoss befindet sich die Waschküche mit dem Trockenboden, und für
jede Mietpartei gibt es einen Verschlag für die Waschwannen. Wenn wieder Wäsche
gewaschen werden muss ist das eine aufwändige Angelegenheit, die sich über
mehrere Tage hinzieht. Die Benutzung der Waschküche ist beim Hauswart zu
bestellen, und der Kupferkessel, in dem die Wäsche gewaschen wird, muss
hinterher wieder blank geputzt werden, bis er goldgelb glänzt. Zum Trocknen wird die Wäsche auf dem Trockenboden
aufgehängt. Dann werden die großen Stücke zusammengelegt und in das
Seifengeschäft in der Jonasstraße getragen. Dort befindet sich eine Rolle, wo
man die Wäsche für 50 Pfennige pro Stunde mangeln kann. Wie oft kommt Anneliese
aus der Schule und sieht ihre Mutter schwitzend in der dampfenden Waschküche
arbeiten.
Das ist angesichts der modernen Waschmaschinen, die heute jeder
Haushalt besitzt, längst Geschichte. Aber auch das Leben im Kiez hat sich
völlig verändert. Während man heute in einen entfernt gelegenen Supermarkt
geht, wo man alles kaufen kann, musste
man früher verschiedene Geschäfte aufsuchen. Im Kiez gibt es noch in den
1950er-Jahren vier Bäcker, drei Fleischer, einen Kolonialwarenladen, ein
Seifengeschäft und sogar einen Kuhstall.
Dieser befindet sich im Hinterhof der Jonasstraße 21. Anneliese wird dort oft
mit einer Aluminiumkanne hingeschickt, um zwei Liter Milch zu holen. Besonders
ihr Vater braucht regelmäßig Milch als Ausgleich für die Arbeit mit dem giftigen
Blei.
Der Körnerkiez - ein
Spielparadies
Auf den Straßen fahren so gut wie keine Autos. Deshalb ist
die Gegend um den Körnerpark ein Spielparadies. Anneliese und die
Nachbarskinder spielen auf der Straße Ball und Hopse, Einkriegen, Versteck, und
für den Triesel nutzen sie die Plattenwege in der Ilsestraße. Wenn im Winter
Schnee liegt, wird gerodelt oder eine Schlitterbahn angelegt. Die einzigen
Fahrzeuge, die man ab und zu sieht, sind ein Leiterwagen und ein Motorrad. Der
Leiterwagen wird von einem Mann gezogen, der eine Glocke läutet und ruft:
„Brennholz für Kartoffelschalen“. Dann kommen die Leute aus ihren Häusern und
geben ihre gesammelten Kartoffelschalen ab, um ein wenig Anmachholz für die
Öfen entgegenzunehmen. Das Motorrad gehört einer Familie aus der Nr. 7. Jeden
Sonntag machen die Eltern mit ihre Sohn Ausflüge, wobei die Erwachsenen auf das
Motorrad steigen und der Sohn im Beiwagen Platz findet.
Natürlich spielen die Kinder auch im Körnerpark. Aber in den
an der Jonasstraße liegenden Bereich, den Rosengarten, dürfen Kinder nur in
Begleitung Erwachsener eintreten. Oben an der Jonasstraße gibt es einen
Buddelplatz. Die Orangerie dient im Winter als Abstellraum für die Gartenmöbel
und die eingetopften Bäume. Im Gebäudeteil, der an der Jonasstraße liegt, hat
die Stadtbibliothek einen Lesesaal eingerichtet, den auch Kinder ab 10 Jahren
besuchen dürfen. Anneliese, die noch jünger ist, macht sich einfach ein
bisschen älter.
Schule in der
Nazizeit
Im April 1936 wird Anneliese in die Mädchenschule an der
Thomasstraße (die heutige Konrad-Agahd-Schule) eingeschult. Im ersten Jahr hat
sie über dem Kleid eine Schürze zu tragen. Das gefällt ihr nicht, aber die
Mutter überzeugt sie schließlich mit dem Argument, dass die Schürze einfacher
zu waschen sei als das Kleid. Anneliese bekommt einen Schulranzen mit einer
Schiefertafel; Schwamm und Griffel sind an einer Strippe festgebunden und baumeln
aus dem Tornister. In der Schule lernt sie die Sütterlin-Schrift, erst 1940
wird die lateinische Schrift eingeführt. Im ersten Schuljahr schreiben die
Kinder nur mit dem Griffel auf der Schiefertafel, die auf der einen Seite
liniiert und auf der anderen mit Karos versehen ist. Erst im zweiten Schuljahr
lernen die Kinder mit Tinte und Feder in ein Heft zu schreiben.
Anneliese hat in den vier Grundschuljahren nur eine einzige,
wunderbare Lehrerin, die alle Fächer unterrichtet: Lesen, Schreiben, Rechnen,
Heimatkunde, Singen, Religion und Sport. Obwohl die Schule nicht konfessionell
ist, wird jeden Morgen gebetet. Die Lehrerin belastet die Kinder in keiner
Weise mit nationalsozialistischer Ideologie. Vermutlich ist sie kein
Parteimitglied, denn 1945 wird sie Rektorin einer anderen Neuköllner Schule.
Sonst hätte sie das nicht werden können. Zu Ferienbeginn und Ferienende wird
ein Fahnenappel auf dem Schulhof abgehalten, bei dem die Schüler beider
angrenzender Lehranstalten, der Jungen- und der Mädchenschule, stramm stehen und
den Worten des Rektors lauschen müssen. Das lange Stehen ist immer sehr
anstrengend für Anneliese. Die Kinder singen die erste Strophe des
Deutschlandliedes und das Horst-Wessel-Lied. Welchen Inhalt diese Lieder haben,
wird nicht erläutert. Im Horst-Wessel-Lied heißt es beispielweise relativ
kompliziert: „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im
Geist in unseren Reihen mit.“ Was „Reaktion“ ist, versteht Anneliese nicht, und
so singt sie nach der Phonetik mit und macht daraus „Drehaktion“.
An den 1. September 1939 erinnert sich Anneliese noch ganz
genau. Der Vater wurde schon eingezogen.
In der Wohnküche läuft der Volksempfänger mit Marschmusik, und ihre Mutter
sitzt auf einem Stuhl und weint. Die Neunjährige ist fassungslos und fragt:
„Mutti, warum weinst du denn?“ Die Mutter, die schon den Ersten Weltkrieg
mitgemacht hat, antwortet: „Kind, es ist Krieg!“ Anneliese: „Mutti, was ist
Krieg?“ Das Wort hat Anneliese noch nie
gehört, wie auch, es gibt doch noch kein Fernsehen wie heute.
Nach vier Jahren Volksschule soll Anneliese eine
weiterführende Schule besuchen. Doch diese kostet Schulgeld. Sie wird für das
Lyzeum vorgeschlagen, das würde 20 RM im Monat bedeuten; zu viel für Familie
Gergs, wenn man bedenkt, dass die Miete kaum mehr als das Doppelte beträgt. Der
Vater ist in Folge der Wirtschaftskrise von Kurzarbeit betroffen, so dass das
Geld knapp ist. In der Volksschule hat Anneliese immer gebrauchte Bücher
benutzt, um zu sparen. So wird sie ab 1940 für die nächsten zwei Jahre auf die
Mittelschule im Richardkiez geschickt, wo nur 10 RM verlangt wird. Nur eine
einzige Lehrerin ist ein Nazi. Sie unterrichtet ausgerechnet Geschichte und
nervt durch übertriebenes Darlegen der Rassengesetze.
Mit 10 Jahren werden die Kinder in die Hitlerjugend
aufgenommen. Die Schulen geben die Namen weiter, und die Kinder versammeln sich
nachmittags in ihrem „Heim“. In Neukölln
ist es eine Parterrewohnung in der Glasower Straße, Ecke Hermannstraße. Während
der Heimabende werden die Kinder mit nationalsozialistischem Gedankengut und
Hitlers Biografie vertraut gemacht; sie
singen auch Wanderlieder. Jedes Jahr zu Hitlers Geburtstag marschieren sie durch
Neukölln und versammeln sich in einer Schulaula, wo ein Lehrer eine markige
Ansprache hält. Anneliese entspricht mit ihren rotblonden Zöpfen dem Bild des
„deutschen Mädels“, aber seit ihrer frühen Kindheit trägt sie winzige Ohrstecker. Daran nimmt die
Jungmädelführerin Anstoß. Anneliese und auch andere Mädchen beugen sich und
legen die Stecker ab. Aber Anneliese findet das unnötig. Nach der Besetzung Frankreichs
1940 werden die Schüler ins Kino abgeordnet, um einen Propagandafilm über den
Feldzug im Westen anzusehen.
Annelieses Vater ist in keiner Partei Mitglied, und im
Elternhaus gibt es eine sozialdemokratische Tradition. Der Onkel des Vaters ist
Paul Löbe, der frühere Reichstagspräsident der Weimarer Republik. Die Eltern
verbieten Anneliese bei den großen Nazi-Aufmärschen mitzumachen, und sie hat
nichts dagegen. Deshalb hat sie nie Adolf Hitler zu Gesicht bekommen. Aber
einer Nazi-Prominenz begegnet sie:
Goebbels. Ihr Vater hat sich 1939 als Soldat bei der Küchenarbeit an einer
Konservendose verletzt und eine Blutvergiftung am Daumen zugezogen. Nach einer
Operation im Lazarett, dem heutigen Wenckebachkrankenhaus, bleibt der Daumen
steif, ein gutes Argument für ihn, kein Gewehr mehr bedienen zu müssen. Goebbels
Frau Magda, eine fanatische Nationalsozialistin, arbeitet aus Propagandagründen
zu dieser Zeit als Krankenschwester im Lazarett, und eines Tages, als Anneliese
gerade ihren Vater besucht, betritt Goebbels mit seinen beiden älteren Kindern
das Krankenhaus, um mit den Kriegsverletzten ein paar Worte zu wechseln.
Annelieses Vater meint später, dass Magda Goebbels menschlich in Ordnung
gewesen sei.
Im Ilsenhof leben nur wenige „echte“ Nazis. Neukölln ist
traditionell ein Arbeiterbezirk, wo sich die Nazis mit ihrer Propaganda nur
schlecht durchsetzen können. Anneliese spielt mit allen Kindern, auch mit denen
eines hohen NS-Beamten. Ein Mitglied der NS-Frauenschaft versucht vergeblich
Annelieses Mutter anzuwerben. Anneliese fällt auf, dass eine jüdische Familie
plötzlich nicht mehr zu sehen ist. „Sie sind abgeholt“, sagen die Leute, und
Anneliese versteht nicht. In der Nähe gibt es ein „Zigeunerlager“, das
irgendwann verschwunden ist. Zum Alltag im Nationalsozialismus gehört, dass die
Schulkinder im Rahmen der Winterhilfe mit einer Büchse Geld einsammeln müssen;
Anneliese schämt sich immer ein wenig, weil sie sich wie eine Bettlerin fühlt.
Manchmal suchen die Kinder auch Altpapier und Buntmetall zusammen. Während in
Neukölln der Hitlergruß nicht so verbreitet ist, gehört es in Westpreußen dazu,
dass man mit „Heil Hitler“ grüßt; Annelieses Vater zieht „Guten Tag“ vor und
wird dafür manchmal komisch angesehen.
Erst später erfährt Anneliese, dass ein Vetter ihres Vaters,
von Beruf Schriftsetzer, jüdische Nachbarn mit deutschen Pässen versorgt hat,
damit sie ausreisen konnten. Ihm wurde der Prozess im Volksgerichtshof unter
Freisler gemacht und er kam ins Zuchthaus. Das hat er überlebt, starb aber sehr
bald nach dem Krieg. Zu den wenigen Berlinern, die in Yad Vashem geehrt werden,
zählt ihr Onkel Erich Löbe; für Anneliese eine späte Genugtuung!
Der Bombenkrieg
Als ab 1940 der Bombenkrieg für die Menschen in der Stadt
immer gefährlicher wird, beginnt die KLV: Kinderlandverschickung. Sie ist
freiwillig. Die Ziele sind Ostpreußen, Österreich und die besetzte
Tschechoslowakei. Die Schulen werden aufgelöst, Klassen zusammengelegt.
Annelieses Eltern wollen nicht, dass ihre Tochter an der KLV teilnimmt, sondern
sie lieber nach Westpreußen zu ihren Verwandten schicken. Anneliese fällt es
schwer, sich aus der vertrauten Umgebung zu lösen, stimmt aber endlich zu.
Schließlich kennt sie den Ort durch die regelmäßigen Aufenthalte in den
Sommerferien. So verbringt sie von 1942 bis Januar 1945 drei idyllische Jahre
in der Kleinstadt Flatow, die an der Bahnstrecke Berlin-Posen liegt und genießt
die herrliche landschaftliche Umgebung mit Wald und vielen Seen. Kein feindseliges Flugzeug verirrt sich in
diese Gegend. Was bleibt, ist die Sorge um die Eltern in Berlin. Im Ort gibt es
eine Oberschule für Jungen, die aber auch Mädchen aufnimmt. Der Umgangston ist
rau. Schüler wie Schülerinnen werden mit dem Nachnamen angeredet. Erst als eine
junge Lehrerin einführt, alle Schüler mit Vornamen anzusprechen, verbessert
sich das Klima. Die Großmutter hat eine Gastwirtschaft, betreibt Landwirtschaft
und hat Vieh. Anneliese gibt der Tochter eines Fleischers Nachhilfeunterricht
und wird in Naturalien bezahlt. Sie leiden keine Not.
Trotz des Vetos der Eltern wird Anneliese Führerin bei den
Jungmädeln und soll für die Bauerntöchter Heimabende organisieren. Doch diese
müssen oft bei der Landwirtschaft helfen und haben (zum Glück) gar keine Zeit.
Im Herbst 1944 fällt wegen der nahenden Kriegsfront die
Schule häufig aus. Die älteren Schüler
werden an die Oder geschickt, um Panzergräben zu bauen. Die jüngeren, zu denen
Anneliese zählt, müssen zum Ernteeinsatz. Bis Weihnachten gibt es noch 14 Tage Unterricht.
Nach den Weihnachtsferien ist die Schule bereits Lazarett. Annelieses Mutter
lebt weiterhin in Berlin im Ilsenhof und ist zur Arbeit in den Chemiefabriken
Riedel und Schwartzkopff dienstverpflichtet.
Sie besucht die Verwandten an den Wochenenden. Die Front ist schon zu hören als
am 23. Januar 1945 Anneliese mit den Verwandten aus Flatow fliehen.
Nach zwei Tagen in verschieden Zügen kreuz und quer durch
Pommern erreichen sie in der Nacht Berlin. Annelieses Verwandte erleben zum ersten
Mal in ihrem Leben einen Fliegerangriff, und zwar den besonders schweren am 3.
Februar 1945. Ihre Tante ist zu Tode erschrocken. Sie hat Haus und Hof
verloren, aber ihr Leben will sie retten. Am nächsten Tag macht sie sich nach
Wittenberg zu ihrem Bruder auf.
Kriegsende
Die Zeit bis zum Kriegsende ist geprägt durch Hamsterfahrten.
Viele Berliner fahren in Richtung Osten an die Oder, bis die Front es nicht
mehr möglich macht. Schulunterricht gibt es nicht mehr. Den April 1945
verbringen Anneliese und ihre Mutter überwiegend im Luftschutzkeller. Der Vater
wird zum Volksturm eingezogen. (Der Deutsche Volksturm ist eine militärische
Formation in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, der „alle waffenfähigen
Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren“ rekrutierte.) Bereits 1940, nach seiner
Stationierung in Dänemark, wurde er aus der Wehrmacht entlassen. Danach verpflichtete
man ihn zur Arbeit in einer Spandauer Rüstungsfabrik. Nun muss er sich an der
Oberbaumbrücke melden. Aber er wird zurückgeschickt und erscheint nach zwei
Tagen wieder zu Hause: Er hat sich nicht bei der Lebensmittelkartenstelle
abgemeldet. Dieser Umstand hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Ist es
der Bürokratie zu verdanken oder einem einsichtigen Vorgesetzten? Anneliese
reißt ihm die Volkssturmbinde vom Arm und verbrennt sie im Ofen.
Am 25. April kommen die Russen nach Neukölln. Sie leuchten
mit einer Taschenlampe in den Keller des Ilsenhofs und fragen nach deutschen
Soldaten. Dann sind sie wieder weg. Glücklicherweise quartiert sich die
russische Kommandantur, die für den Bezirk zuständig ist, in der Parterrewohnung
Ilsenhof Nr. 10 ein. Damit fühlen sich Anneliese und die Menschen in den Kellern
des Ilsenhofs sicher. Aber aus anderen Häusern hört man schreckliche
Geschichten. Die Bäckersfrau berichtet über Vergewaltigungen in ihrem Haus in
der Jonasstraße. Und im Nebenhaus hat sich der Luftschutzwart mit seiner ganzen
Familie erhängt.
Schülerin in der
frühen Nachkriegszeit
Am 8. Mai 1945 ist der Krieg vorbei. Die russischen Soldaten
bauen im Ilsenhof ein Podest auf, um zu tanzen und zu feiern. Und schon am 1.
Juni kann Anneliese, dank der russischen Organisation, wieder zur Schule gehen,
obwohl die Fenster noch mit Pappen oder Brettern vernagelt sind. Sie geht jetzt
in die 9. Klasse des Gymnasiums. Die Russen quartieren sich für die kommenden
drei Wochen in einem Teil des Ilsenhofs ein, und die Mieter müssen
zusammenrücken. Anneliese und ihre Mutter kommen bei Freunden in der
Jonasstraße unter, der Vater kann bei einem Freund im nicht besetzten Teil des
Ilsenhofs wohnen. Später erhalten sie eine Entschädigung für den übermäßigen
Stromverbrauch durch die Russen in ihrer Wohnung.
Bis zum Abitur besucht Anneliese die Ernst-Abbe-Schule in
der Sonnenallee. Der Unterricht findet im Hinterhaus statt, weil das Vorderhaus
zu sehr beschädigt ist. Es herrscht Lehrermangel. Die Lehrer sind entweder sehr
jung oder haben bereits die Pensionsgrenze überschritten, wie der 72-jährige Lateinlehrer.
Auch wechseln sie Lehrer ständig, sobald wieder einer aus der Gefangenschaft
zurückkommt und einsatzfähig ist. Wegen fehlender Fachräume sind die
Bedingungen für den naturwissenschaftlichen Unterricht besonders schlecht. In
der Anfangszeit gibt es keine Schulbücher. Und der Geschichtsunterricht ist von
den alliierten Besatzungsmächten eine Zeit lang verboten worden. So werden bis
zum Herbst 1945 viele deutsche Gedichte zum Thema Herbst und Frühling an die
Tafel geschrieben und von den Schülern auswendig gelernt. Anneliese kann sie
noch heute aufsagen.
Das Abiturjahr fällt in die Zeit der Blockade. Wegen des
Mangels an Heizmaterial hat im Winter nur noch die Abiturklasse Unterricht. Ein
eiserner Ofen wärmt den Klassenraum notdürftig, und die Schüler nutzen ihn, um
ihre trockenen Brote darauf zu rösten. Strom gibt es nur für zwei Stunden am
Tag und zu wechselnden Zeiten, auch in der Nacht. Dann steht die Mutter auf, um
zu bügeln. Bei Stromsperre werden Petroleumlampen oder die stinkenden
Carbitleuchten angezündet. Die Carbitlampen sind ausdauernder und verbreiten ein
grünliches Licht. Die Schulklingel funktioniert dann nicht, und Anneliese, zur
Schulsprecherin bestimmt, hat die Aufgabe, nach jeder Stunde durch das Haus zu
gehen und das Ende der Stunde mit einer Handklingel anzukündigen. Das Amt des
Schulsprechers wurde von den Alliierten eingeführt, um im Rahmen einer
Schülermitverwaltung demokratische Strukturen aufzubauen. Um dieser Forderung
zu genügen, betraut der Schulleiter zunächst Anneliese mit dem Amt. Später wird
der Schulsprecher demokratisch gewählt.
Studentin an der
Freien Universität Berlin
Im Sommer 1949 legt Anneliese ihr Abitur ab. Dass sie
Lehrerin werden will, steht für sie schon lange fest. Sie bewirbt sich an der
gerade gegründeten Freien Universität Berlin (FU) für Englisch und Geschichte und
wird zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Zu diesem Zeitpunkt befindet
sich Anneliese bei einem Sommerlager auf der Pfaueninsel, das die Amerikaner
für Jugendliche veranstalten. Wegen des guten Essens und der wunderbaren
Landschaft ist das Sommerlager beliebt; Anneliese hat schon öfter teilgenommen.
Es ist Sonntag, der 14. August 1949, und an diesem Tag finden die ersten
Bundestagwahlen statt. Doch Anneliese
bekommt auf der Pfaueninsel nichts mit; dort gibt es keine Zeitungen. Am
nächsten Tag begibt sie sich zur FU. Die Bewerber versammeln sich am Treffpunkt,
beginnen sich zu unterhalten, und ein Student berichtet, wie die
Bundestagswahlen ausgegangen sind. Dann wird Anneliese aufgerufen. In der
Zulassungskommission sitzt neben den Professoren ein Studentenvertreter, der sie
nach dem Ergebnis der Wahlen fragt. Sie kann die Frage „natürlich“ beantworten.
Wie peinlich wäre es gewesen, wenn sie, die Geschichte studieren will, nicht
Bescheid gewusst hätte!
Anneliese erhält die Zulassung und muss die Studiengebühren
bezahlen, weil das Einkommen ihres Vaters ein wenig über dem Limit liegt, nach
dem man von den Zahlungen befreit werden kann. Ein Stipendium gibt es deshalb ebenfalls
nicht. So jobbt Anneliese einmal in der Woche freitags als Putzhilfe in
Steglitz und ab und zu bei anderen Stellen, die sie über die „Heinzelmännchen“
bekommt. Von dem üblichen Stundenlohn in Höhe von 1 DM sind 10 Prozent an die „Heinzelmännchen“
abzugeben. Einmal hat sie das Glück einen Job für drei Wochen in der
Adrema-Fabrik in Moabit zu ergattern. Damit verdient sie sich das Geld für
einen ersehnten England-Aufenthalt. Ein internationales Erntelager in Yorkshire
bietet ihr 1951 die Möglichkeit nach Großbritannien zu reisen. Für die
Reisekosten muss sie selbst aufkommen, aber Unterkunft und Verpflegung sind
frei. In England treffen junge Leute aus den verschiedensten Ländern zusammen
und ernten im Akkord Kartoffeln, Möhren und Rüben. Sie verdienen 1 Pfund am
Tag, das sind damals etwa 12 DM. Anneliese genießt die internationale Atmosphäre
und den Austausch unter den jungen Leuten. An den Wochenenden macht sie mit
einer Freundin per Anhalter Erkundungsfahrten durch England. Und weil Neugier und Reiselust
längst nicht befriedigt sind, verlängert sie ihren Aufenthalt nach der Ernte um
ein halbes Semester. Die Uni in Berlin kann warten. Über die Kirche erhält sie
die Verbindung zu einer Familie, die sie für zwei Wochen aufnimmt. Dann startet
sie mit einer Freundin eine große Rundreise per Anhalter. Erst soll es nach
Schottland gehen, zunächst über Aberdeen, Inverness nach Glasgow. Je weiter die
beiden Frauen nach Norden vordringen, desto beschwerlicher wird das Fortkommen.
Bauern nehmen sie von einem Dorf zum anderen mit. Es stürmt und schneit.
Endlich hält ein Auto mit zwei Männern. Sie wollen die beiden Frauen bis
Inverness mitnehmen. Aber die Jugendherberge dort hat geschlossen. Sie öffnet
im Winter nur an den Wochenenden. Die
beiden Männer helfen eine Pension für die Tramperinnen zu finden. Sie selbst
übernachten in einem Hotel. Am nächsten Morgen stellen sie sich als Besitzer einer Schokoladenfabrik und dessen
Mitarbeiter vor und laden sie zur Weiterfahrt nach Glasgow ein. Sie sind wohl
auf Hamsterfahrt gewesen, denn der Kofferraum ist vollgepackt mit Eiern und
anderen Lebensmitteln. In England gibt es zu dieser Zeit noch Lebensmittelkarten.
Auf der Fahrt machen die heimatliebenden Schotten einem Umweg durch die Highlands,
laden die jungen Frauen zum Essen ein und schließlich auch zum Übernachten in
die Villa des Fabrikbesitzers, die er in einem Vorort von Glasgow mit seiner
Schwester bewohnt. Am Abend sind die Gastgeber zu einem Fest eingeladen und
verabschieden sich im Kilt und Abendkleid. Die beiden Frauen bleiben allein in
der Villa, dürfen Radio hören, das gerade einen Auftritt der Wiener
Sängerknaben während ihrer England-Tour überträgt. Überwältigt von der Musik
und der großzügigen Gastfreundschaft brechen sie in Tränen aus: Die Briten sind
doch „unsere Feinde“ gewesen!
Endlich Lehrerin!
Nach dem Staatsexamen im Dezember 1954 gilt es sich bei den
Schulämtern um eine Stelle zu bewerben. Anneliese kann eine
Schwangerschaftsvertretung in einer Grundschule übernehmen, obwohl sie dafür
eigentlich nicht ausgebildet ist. Es wird ein anstrengendes halbes Jahr. Im
April 1955 beginnt die Referendarausbildung und Anneliese braucht eine Stelle in
einer Oberschule. Das bedeutet: wieder Klinkenputzen bei den Schulämtern, wo
man oft von oben herab behandelt wird. Ein Wilmersdorfer Schulrat mokiert sich
zum Beispiel über Annelieses (dezent) geschminkte Lippen. Die Schulämter der
Bezirke Reinickendorf, Wedding und Spandau meidet sie zunächst, weil die
Entfernung zu ihrer Neuköllner Wohnung zu groß ist, wenn sie dort Lehrerin wäre.
Doch dann wird ausgerechnet in Reinickendorf an der Bertha-von-Suttner-Oberschule
eine Schwangerschaftsvertretung gebraucht. Anneliese bekommt die Stelle und
bleibt 35 Jahre – bis zur Pensionierung - an dieser Schule. Da es für ihre
Vorgängerin keine Teilzeitstelle gibt, hat diese auf die Rückkehr in die Schule
verzichtet. Die Bertha-von-Suttner-Schule besitzt kein eigenes Schulgebäude und
muss sich die Klassenräume mit einer anderen Schule teilen. Vier Jahre lang gibt
es Schichtunterricht - abwechselnd eine Woche Unterricht am Vormittag, in der
nächsten Woche am Nachmittag - bis sie 1960 ein neues eigenes Haus bekommt.
An der Schule gibt es mehrere „Ostklassen“. Diese
Einrichtung ermöglicht Schülern aus Ost-Berlin das Abitur zu machen. Sie dürfen
dort nicht die Oberschule besuchen, weil sie aus bürgerlichen Verhältnissen stammen;
das Abitur ist in der DDR Arbeiterkindern vorbehalten. Mit dem Bau der Mauer
1961 werden die Ostklassen überflüssig. Einer von Annelieses Schülern ist
Jan-Carl Raspe, der spätere RAF-Terrorist. Anneliese kennt ihn als ruhigen
Schüler, der nichts von seinem späteren Werdegang ahnen lässt. Dass sein Leben
1977 mit einem Selbstmord im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim endet,
beschäftigt sie noch lange.
Als am 13. August 1961 die Mauer gebaut wird, die Berlin
endgültig teilt, befindet sich Anneliese gerade in England. Beunruhigt will sie
ihre Eltern anrufen. Das funktioniert nur mithilfe einer Fernmeldevermittlung,
die an diesem Tag überbelastet ist. Da sagt der Operator: „Honey, today everybody
wants to telefone with West-Berlin“... Anneliese
weiß von einigen Kollegen und ehemaligen Schülern, dass sie sich seitdem als
Fluchthelfer engagieren. Einer von ihnen, der Student Dieter Wohlfahrt, wird im
Dezember 1961 an der Mauer zwischen Staaken und Spandau von der Grenzpolizei
der DDR erschossen. Er war Schüler ihrer „Ostklasse“.
Ende der 1980er-Jahre geht Anneliese in den Ruhestand,
nachdem sie noch 8 Jahre die Fachbereichsleitung in Englisch innehat. Ihr
großes Hobby ist die Musik. Sie spielt Klavier, das sie als Zehnjährige zu
lernen begann, und singt im Lauf ihres Lebens in verschiedenen großen Chören.
Eine Familiengründung hat sich nicht ergeben, da es damals Mangels der
Möglichkeit in Teilzeit zu arbeiten schwer war Beruf und Mutterschaft zu
verbinden.
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