Donnerstag, 22. Oktober 2015

2. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 22.10.2015

Ich eile mich, weil ich rechtzeitig im Leuchtturm sein möchte, um in Ruhe den Tisch aufzubauen und Kaffee zu kochen. Eva Willig hat versprochen den Tisch zu decken. Hoffentlich kommen nicht ganz so viele Gäste wie beim letzten Mal. Es ist intimer, wenn wir eine Tischrunde sind. Man versteht sich besser und kann leichter zuhören.

Das Aufbauen geht fix, ich komme ins Schwitzen. Eva tritt fröhlich herein, schenkt mir ein reizendes Kräutersträußchen und packt mit an. Der Tisch sieht wieder einladend aus, der Kaffee steht bereit. Die Gäste treten nach und nach ein, es sind etwa 20, eine gute Zahl. Die Einleitung der Vorstellungsrunde vergesse ich dummerweise, und Eva Willig beginnt mit ihrem Bericht.

Eva Willig, „Lobbyistin für Arme“

Eva Willig kämpft gegen Armut. Sie beleuchtet Hintergründe, befasst sich mit Hartz IV, der Gesundheits- und Wohnungsversorgung und dem Problem der steigenden Mieten. Auf ihrer Visitenkarte ist zu lesen: „Eva Willig - Lobbyistin für Arme“. Eva Willig wohnt seit 1977 in Neukölln und verleiht all denen ihre Stimme, die sich zu wenig wehren. Wie wird man denn „Lobbyistin für Arme“? In ihrem letzten PR-Kurs habe sie gelernt, dass man „etwas sein muss“, sagt sie ironisch, deshalb wählte sie diese Formulierung.


Eva Willig im Zitronencafé am Körnerpark, 2015
Eva wird 1948 in Thüringen geboren. Ihre Mutter stammt aus einer kleinstädtischen Handwerkerfamilie. Ihr Großvater, ein begeisterter Radrennfahrer, besaß ein Fahrradgeschäft, das er 1903 eröffnet hatte. Die Großeltern hatten 7 Kinder. Evas Mutter war die Älteste und musste schon früh Verantwortung übernehmen. Diese Verpflichtung überträgt sie später auf Eva, ihr erstgeborenes Kind. 

Die Großmutter väterlicherseits brachte nach einem Ostseeurlaub 1907 einen unehelichen Sohn zur Welt, der später Evas Vater wurde. Als Zehnjähriger wurde er vom späteren Ehemann der Großmutter adoptiert. Er lernte den Beruf des Technischen Kaufmanns und konnte Englisch, Französisch und Russisch sprechen. Daneben war er erfolgreicher Gelände-Motorradrennfahrer. Im Krieg diente er anfangs in Frankreich, dann in Russland. Beim Ariernachweis - in der Nazizeit Pflicht - stellte sich heraus, dass er Halbjude war, denn seine Mutter hatte sich an der Ostsee in einen Juden verliebt. Somit war der Krieg 1942 für ihn beendet, denn Juden durften nicht Soldaten sein.

Das Haus der Großeltern
Zum Ende des Krieges errichtete er in Thüringen eine Vergaserfabrik. Thüringen gehört zur russischen Besatzungszone und ab 1949 zur DDR. Er heiratet Evas Mutter im September 1947, kurz darauf wird Eva geboren. Ein Jahr später kommt der Bruder zur Welt. Um sein Einkommen aufzubessern, handelt er mit West-Reifen und schmuggelt sie in die DDR. Er wird angezeigt und muss wegen Wirtschaftskriminalität ins Gefängnis. Bei den Verhören stellt sich heraus, dass er zahlreiche öffentliche Institutionen der Stadt Gera mit Reifen versorgt hat, auch die Polizei und die Müllabfuhr.
1950 nutzt er einen Hafturlaub, um aus der DDR zu fliehen. Die Familie fährt mit dem Auto nach Berlin (West) und besorgt neue Pässe. Von dort aus geht es mit dem Flugzeug nach Nürnberg. In einem winzigen Dorf finden sie eine Unterkunft, die die Großmutter für sie besorgt hat. Der Vater übernimmt eine Vertretung für eine Motorradfabrik und ist häufig unterwegs. Mit seinem Auto stellt er sich im Dorf gelegentlich als Chauffeur zur Verfügung, denn die Bauern haben nur Traktoren. Der Mutter kommt ihre Qualifikation als Kauffrau zugute, hatte sie doch die Höhere Handelsschule absolviert. Sie ist die einzige im Dorf, die eine Schreibmaschine besitzt und erledigt anfallende Büroarbeiten gegen Brot, Milch, Butter, Wurst und Speck. Eva wächst in dieser ländlichen Gegend auf, darf die Kühe hüten und lernt, was alles im Gemüsegarten blüht und gedeiht.

Die Großeltern
Das beschauliche Leben endet, als die Familie eine Neubauwohnung in einem Nürnberger Vorort findet. In dem 6-Familienhaus leben Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten zusammen: Fabrikanten, Verkäuferinnen, Neureiche und die Familie Willig. Eva ist jetzt 6 Jahre alt und gerade eingeschult worden. Plötzlich stirbt der Vater. Die Familie verfügt über keine Ersparnisse. Eines Tages steht die Fürsorgerin vor der Tür und will die Kinder mitnehmen, weil sie angeblich nicht ausreichend versorgt seien. Die Mutter lässt die Fürsorgerin nicht in die Wohnung, kämpft um ihre Kinder und kann sie schließlich bei sich behalten. Zu der Zeit lebt die Familie von der Fürsorge, die die Miete übernimmt und monatlich 64 DM auszahlt. Ein Nachbar bietet der Mutter nach geraumer Zeit eine Stelle in seiner Fabrik an. Dort arbeitet die Mutter anfangs 48 Stunden pro Woche und bekommt 1,65 DM Stundenlohn. Aber wohin mit den Kindern? Der Bruder erhält einen Platz in einem Kindergarten. Eva kann die Zeit nach der Schule bei verschiedenen Bekannten verbringen, manchmal kommt auch die Oma zu Besuch.

Eva merkt allmählich, wie schwierig es ist sich in die vorstädtische Gemeinschaft zu integrieren. Die Kinder werden als „Flüchtlingsbankert“ stigmatisiert und stehen auf gleicher Stufe mit dem „blöden“ (behinderten) Fred aus der Nachbarschaft und dem dunkelhäutigen Norbert, dessen Mutter sich mit einem farbigen amerikanischen Soldaten eingelassen hatte. In der Volksschule im Dorf begegnet Eva alten und autoritären Lehrern, die noch die Prügelstrafe als pädagogische Maßnahme einsetzen. In Bayern wird die körperliche Züchtigung erst 1973 verboten. Eva ist intelligent und soll nach der 4. Klasse das Gymnasium besuchen. Aber nicht in Nürnberg, sagt die Mutter, weil sie ihrer Tochter die Großstadt nicht zumuten will. Im alten Universitätsdorf Altdorf findet sich schließlich ein geeignetes privates Gymnasium, für das allerdings Schulgeld gezahlt werden muss. Später wird es verstaatlicht. Der Pfarrer übernimmt die Verpflichtung für das Schulgeld. Weil die Mutter sich wegen ihrer Fabrikarbeit schämt, empfiehlt sie ihrer Tochter, dass sie in der neuen Schule als Beruf der Mutter „Konfektionärin“ angeben soll. Doch gleich in der ersten Stunde sagt der Lehrer ohne sie zu fragen: Deine Mutter arbeitet in der Fabrik, nicht wahr?

Evas Mutter (links) und ihre 5 Geschwister 
Eva besucht das Gymnasium bis zur 10. Klasse. Beim Einjährigen fällt sie durch. Wiederholen kommt für sie nicht in Frage. Sie möchte endlich eigenes Geld verdienen und etwas zum Haushalt beitragen. Eva und ihr Bruder haben jahrelang die abgelegten Kleider ihrer in der DDR gebliebenen Cousinen und Cousins aufgetragen, die sie in gelegentlichen Paketen erhalten haben. Selbst das Konfirmationskleid war gebraucht und wurde nach Evas Figur umgeändert. Wenigstens bekommt sie neue Schuhe - und Strümpfe von Dior! Etwas Besonderes muss sein.
Eva sehnt sich nach neuer, schicker Kleidung und beginnt 1964 eine Ausbildung in Nürnberg als Einzelhandelskaufmann im Bereich der Mode. Fischer + Co., das erste Haus am Platz, stellt sie als Lehrling ein. Für die weiblichen Lehrlinge ist ein grauer Trägerrock vorgeschrieben, den sie mit schwarzen, blauen, weißen oder grauen Blusen kombinieren dürfen. Viel besser als die Kleiderordnung bei C&A, wo nur Schwarz und Weiß zugelassen ist, findet Eva. Sie schnallt den Gürtel so hoch wie möglich. Der Rock soll kurz sein. Zurzeit ist der Minirock in Mode, der von der bekannten Modedesignerin Mary Quant kreiert wurde. In der Ausbildungszeit werden die Lehrlinge auch zum Fahrstuhldienst herangezogen, anfangs zweimal und im dritten Lehrjahr einmal wöchentlich.

Neben der Ausbildung besucht Eva Willig die Abendschule, um die Mittlere Reife nachzuholen. 1967 schließt sie die Lehre als Textileinzelhandelskauffrau mit besonderer Auszeichnung ab und hat gleichzeitig das Einjährige in der Tasche.

Eva und ihre Eltern, 1951
Ihre erste Arbeitsstelle ist eine Boutique, die den Söhnen der Eigentümer des Modehauses Wöhrl gehört, und die Nürnberg mit der schicksten Mode aus England versorgt. Das Besondere dieser Arbeit ist, dass die Angestellten als Models auf Popkonzerten auftreten und die neueste Mode vorführen dürfen. Nach einem halben Jahr entscheidet sich Eva für eine weitere Qualifizierung und beginnt ein zweisemestriges Studium an der Textilfachschule in Münchberg/ Oberfranken, das sie als Textilkauffrau abschließt. In Münchberg herrscht ein internationales Studentenleben. Von 300 Studenten kommen 200 aus aller Welt, um von dem vielfältigen Angebot der Fachschule zu profitieren. Eva knüpft viele Freundschaften und lernt exotische Spezialitäten aus fremden Ländern kennen. Nach dem Studium zieht es sie in die große weite Welt – zumindest nach Berlin.

Bei „Madame“ im Europa-Center beginnt Eva als Substitutin. Sie ist für den Einkauf zuständig, muss die Ware berechnen, auszeichnen und sich um die Auszubildenden kümmern. Zu ihrem großen Ärger darf sie nicht mit zu Messen fahren. Schließlich wird sie auch noch in das Provinznest Bielefeld versetzt! Sie kündigt und arbeitet ein Jahr als Telefonistin und am Empfang eines Autozulieferers, um dann noch ein Studium aufzunehmen. Es gibt drei Studienfächer, für die man mit kleiner Matrikel zugelassen werden kann: Ingenieurwesen - dafür fühlt sich sich nicht talentiert genug, BWL – hat zuviel mit dem Beruf der Mutter zu tun, Sozialpädagogik – trifft auf ihr Interesse an der sozialen und politischen Welt. Wie so viele Studenten in dieser Zeit erhofft sich auch Eva künftig gesellschaftsverändernd tätig sein zu können. In Berlin herrscht während der Studentenbewegung ein aufregendes politisches Klima.

1971 beginnt sie ihr Studium bei der evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit und schließt es 1974 als graduierte Sozialpädagogin ab. Während dieser Zeit genießt sie das linke Studentenleben. Sooft sie Zeit hat, hält sie sich im legendären Steve Club auf, wo Liedermacher und Musikgruppen politische Lieder vortragen. Sie befasst sich mit alternativer Heimerziehung („Heim statt Knast“) wie sie von den PH-Professoren C.W. Müller („Wie Helfen zum Beruf wurde“, 1981) und Günter Soukup entwickelt wird und verbringt ihr Anerkennungsjahr in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft, wo sie sich mit schwierigen Jugendlichen auseinandersetzen muss.

Eva im Jahr 1954
1976 erhält Eva eine Stelle in der Suchtkrankenstation im Jüdischen Krankenhaus. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Fotografie. Zwei Jahre später stirbt die Mutter und vererbt Eva etwas Geld. Eva kündigt und tut das, worauf ihre Mutter immer verzichten musste: Sie fliegt für fünf Monate in die USA und reist von der Ostküste zur Westküste. 

Wieder in Berlin meldet sie sich arbeitslos und hofft, dass ihr das Arbeitsamt nicht einen Job anbietet, den sie partout nicht haben will, wie z. B. eine Arbeit im Knast. Doch sie findet eine neue Anstellung auf der Schulfarm Insel Scharfenberg in Reinickendorf als Betreuerin für die im Internat wohnenden Kinder. Scharfenberg ist eine Insel im Tegeler See. Der Dienst ist von 12 Uhr Mittag bis Mitternacht angesetzt. Nach Dienstschluss fährt sie mit dem Boot zum Ufer und von dort immer entlang der Mauer bis zu ihrer Wohnung nach Neukölln. Als ihr nach drei Jahren der Beamten-Status angeboten wird, lehnt sie ab. Unabhängigkeit ist ihr wichtiger. Ein Jahr später kündigt sie.

Dann lieber selbstständig arbeiten: 1982 pachtet sie eine Gaststätte, macht daraus ein Galerie-Restaurant, was sie aber nach einem halben Jahr wieder aufgeben muss. Es folgt ein Jahr der Erwerbslosigkeit. Eva fällt in eine Depression. Über die Kontakte zu dem besetzten Haus in der Richardstraße 8 in Neukölln lernt sie den Vorsitzenden der Grünen kennen. Sie tritt 1988 in die Partei der Grünen ein und kümmert sich um das Soziale. Nach einer ersten ABM-Stelle im öffentlichen Dienst wird sie Mitglied der ÖTV und versucht dort für die kaum vorhandenen Rechte der ABM-Stelleninhaber einzutreten. Dieser ArbeitsBeschaffungsMaßnahme folgen bis 2005 noch 15 weitere. Zwischendurch ist sie noch zweimal befristet beschäftigt. Von 1989 bis 1991 ist sie für die Grünen in der BVV.

1994 möchte sie es noch einmal wissen und eröffnet einen Modeladen für „Frauen mit und ohne handicaps“. Sie hat gute Ideen, und viele Frauen sind ihr dankbar. Dann wird das Behindertengeld gekürzt, und ihre Kundinnen können sich nicht mehr bei ihr einkleiden. 2002 macht sie sich mit der Arbeitsvermittlungsagentur „Anachronisma“ selbstständig, hat aber zu wenige Jobs, die sie hätte vermitteln können. Trotzdem erhält sie Dankschreiben von Arbeitssuchenden, weil diese sich von ihr gut behandelt fühlen. Ihr letzter Versuch mit der Selbstständigkeit ist der Laden „Alche-Milla“, ein kleines Kaufhaus für die Sinne, das Blumen, Kräuter, Wohnaccessoires und Kunstwerke anbietet. Die Agentur für Arbeit bewilligt einen Lohnzuschuss für eine ältere, arbeitslose Angestellte. Auch dieser Versuch scheitert. Nach einem halben Jahr kündigt das Jobcenter die Unterstützung, obwohl ihm laut Businessplan bekannt ist, dass die Anlaufphase mindestens ein Jahr dauern würde.

Heute ist Eva Willig Kleinstrentnerin und weigert sich die ihr zustehenden 16 Euro aus der ergänzenden „Grundsicherung im Alter“ zu beantragen. Dann hätte sie sich erneut unter Kuratel stellen müssen. Nicht nach 10 Jahren Hartz IV! So bleibt ihr noch genügend Kraft, um gegen soziale Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Sie engagiert sich ehrenamtlich beim „Wohntisch Neukölln“, einem Diskussionsforum für gemeinschaftliche Wohnformen. Sie unterstützt die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen und wehrt sich gegen die Abhängigkeit, in die Hartz-IV-Empfänger geraten. Sie prangert an, dass  in der Gesundheitsversorgung die Wohlhabenden wesentlich besser gestellt sind und eine längere Lebenserwartung haben. Gelegentlich veranstaltet sie Kräuterspaziergänge durch Neukölln und anderswo. Sie weist auf heilende, giftige und essbare Pflanzen hin. Sie spielt Theater, schreibt und macht in ihren Texten die Armut zum Thema (www.evasgeschichten.de). Dabei verliert sie nie ihren Humor. Manchmal ist es Galgenhumor.

Eva Willig beim Kräuterspaziergang, 2015


Donnerstag, 8. Oktober 2015

Start des 1. Erzählcafés im Körnerkiez


Donnerstag, der 8.10.2015


Ich gebe es zu: Ich bin ein wenig nervös. Wie viele Menschen werden heute das Erzählcafé besuchen? Werden auch einige von denen dabei sein, die die Stadtführungen mitgemacht haben? Ich habe gehört, dass das Interesse an der heutigen „Berichterstatterin“ groß ist. Ruth Weber, ehemalige Schulleiterin der Peter-Petersen-Schule, arbeitet heute noch in verschiedenen Gremien mit und ist allgemein bekannt und beliebt. Wahrscheinlich werden auch einige Lehrer und Lehrerinnen beim Erzählcafé erscheinen. 

Ich baue den Tisch auf im großen, an der Emser Straße gelegenen Raum des Neuköllner Leuchtturms. Frau Bloch-Thieß, die Eigentümerin des Hauses, zeigte mir, wo ich die Böcke und Tischplatten, die Tischdecken und das Geschirr mit der Kaffeemaschine finden kann. Ich freue mich über die gute Organisation. Alles funktioniert und ist liebevoll eingerichtet. Nun ist der Tisch so schön wie möglich gedeckt, die Kekse auf Tellern dekoriert, der Kaffee gekocht. Die Gäste können kommen....

Und sie strömen. Ich bekomme einen kleinen Schreck, mit so vielen habe ich nicht zu rechnen gewagt. Es sind fast 30. Hoffentlich sind alle diszipliniert und hören ruhig zu. Wir müssen weitere Reihen vor dem Tisch aufbauen. Endlich sitzen alle. Jeder in der Runde stellt sich kurz vor. Dann beginnt Ruth Weber zu erzählen.




















Ruth Weber, ehemalige Schulleiterin der Peter-Petersen-Schule

Ruth Weber ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen und hat auch dort ihren Beruf ausgeübt. Dabei spielte die 12. Grundschule, die in der Nachkriegszeit den Namen Peter-Petersen-Schule erhielt, eine entscheidende Rolle. Als Kind besuchte Ruth Weber diese Schule, und als junge „Lehrerin zur Anstellung“ fing sie dort wieder an, wurde Schulleiterin und blieb bis zu ihrer Pensionierung. Insgesamt verbrachte sie 42 Jahre an ein und derselben Schule. Wie langweilig, könnte man denken, aber Ruth Weber beweist das Gegenteil. Sie und ihre Lehrerkollegen krempelten im Lauf der Jahre den Schulunterricht völlig um und machten aus der Peter-Petersen-Schule eine „Schule besonderer pädagogischer Prägung“.

Ruth Weber wurde mitten im Krieg 1942 in der Charité geboren. Ihr Vater, ein Arzt, war zu dieser Zeit Soldat. Die Mutter verließ mit dem Baby und dem älteren Bruder die von Bomben bedrohte Stadt und zog nach Crimmitschau in Sachsen. Dort wurde eine Schwester geboren. Am 25.Juni 1946 kehrte die Familie wieder zurück nach Berlin. Ruth Webers Vater, Dr. Wolfgang Mehling, eröffnete in einer großen Wohnung in der Hasenheide, in der die Großeltern lebten, eine Arztpraxis. Die Familie wurde zur Untermiete in eine Zweizimmerwohnung eingewiesen, die bereits von einer Frau bewohnt wurde. Somit stand dem Ehepaar und ihren drei kleinen Kindern lediglich ein Zimmer zu; ein Bad gab es nicht, die Haare wurden in der Küche gewaschen. Daran kann sich Ruth noch erinnern, auch dass die kleine Schwester ständig schrie und ein weiterer Bruder geboren wurde. Bald darauf war die Mutter wieder schwanger.
Ruth mit den Eltern und ihrem älteren Bruder, 1942
Die gläubigen Eltern waren davon überzeugt, dass es für jedes Kind einen Platz geben würde. Dennoch brauchten sie eine größere Wohnung, die sie 1949 in der Leykestraße fanden: 3 ½ Zimmer auf 110 Quadratmetern. Es war die größte Wohnung im Haus, die die Familie aufgrund freundschaftlicher Beziehungen innerhalb der Kirchengemeinde bekam. Drei weitere Kinder kamen auf die Welt. Nun wohnten acht Kinder und zwei Erwachsene in dieser Wohnung. Mit dem Hausmädchen, ohne das die anfallende Hausarbeit gar nicht zu schaffen war, waren es schließlich 11 Personen. Immer wieder wurden die Kinder in der Schule gefragt, wie viele sie denn nun zu Hause seien, und als sie im Englischunterricht die Geschichten mit den “guinea-pigs“ durchnahmen, die sich bekanntlich schnell vermehren, sagten ihre Mitschüler: „Wie bei euch zu Hause“.
Die komplette Familie Mehling mit 8 Kindern

Ruth (links) mit Mutter und 5 Geschwistern

1948 wurden Ruth und ihr Bruder in die Grundschule Weserstraße eingeschult. Nach dem Umzug in die Leykestraße besuchten die beiden die 12. Grundschule. Aufgrund des Raummangels nach dem Krieg fand der Unterricht in verschiedenen Gebäuden statt. Die Schüler mussten ständig umherziehen. Die 12. Grundschule war beispielsweise in der Lessingstraße (heute Morusstraße) angesiedelt; die 2. Klassen wurden in der Kopfstraße unterrichtet. Alle Schüler mussten dann in die Briesestraße umziehen. Ruth und ihr Bruder teilten sich einen Klassenraum mit 54 Schülern. Manche Lehrer waren streng und ungerecht. Ruth erinnert sich an Herrn Brühmeier, der Kinder bestrafte, indem er ihre Köpfe zwischen die Knie nahm und sie dann verprügelte. Einmal wurde sie von ihm geohrfeigt, weil sie ihren Bruder, der wegen einer Behinderung schlecht laufen konnte, aus einem anderen Schulgebäude abholen wollte. Sie fühlte sich doch für den Bruder verantwortlich! Obwohl Prügelstrafen in der Schule seit 1945 abgeschafft waren, kamen sie noch vor. 1959 konnte die 12. Grundschule in ihr Stammgebäude in die Jonasstraße zurückziehen und erhielt den Namen des Reformpädagogen Peter Petersen. 
Einschulung 1948. Ruth steht in der Mitte der letzten Reihe
Schülerin der 3. Klasse
Ruth besuchte zu diesem Zeitpunkt längst das Albrecht-Dürer-Gymnasium - mit 49 Schülern in einer Klasse – und machte dort 1961 ihr Abitur. An der Universität studieren wollte sie nicht, das hätte zu viel Geld gekostet. Deshalb dachte sie an eine Ausbildung als Beschäftigungstherapeutin, doch es war kein Ausbildungsplatz frei. Ruth hatte einen Freund. Das gefiel dem Vater nicht (sie hätte ihn nach seiner Meinung heiraten müssen), so dass er seiner Tochter den Vorschlag machte, für längere Zeit nach England zu gehen. Sie folgte und verbrachte ein Jahr in England, lernte die Sprache und begegnete verschiedenen Lehrerinnen. Von ihren Klassenkameradinnen studierten einige an der Berliner Pädagogischen Hochschule, und diese brachten sie auf die Idee ebenfalls das Studium dort aufzunehmen. Die Vorteile: Das Studium war kurz, dauerte nur dreieinhalb Jahre und kostete nichts. Damals herrschte in Berlin Lehrermangel, und für das Studium wurde auf diese Weise geworben. 

Ruth in der 6. Klasse, 1953
Bereits im 4. Semester absolvierte Ruth Weber Praktika an verschiedenen Neuköllner Schulen. Aus heutiger Sicht großes Glück hatte sie als „Lehrerin zur Anstellung“: Der damalige Schulrat kannte sie, weil er einmal Lehrer am Albrecht-Dürer-Gymnasium gewesen war, und schickte sie an die Peter-Petersen-Schule, wo sie ihre alten Lehrerinnen aus der 12. Grundschule wiedertraf, nun als Kolleginnen. Ruth Weber wurde sehr freundlich aufgenommen, dennoch hat man ihr, der 23jährigen Anfängerin, die schwierigen, äußerst lebendigen Klassen, voll besetzt mit 35 bis 40 Kindern, zugeschoben: 6. Klasse: Sport, 4. Klasse: Schönschreiben, 3. Klasse: Kunst, Förderkurs: Englisch, 6. Klasse: Klassenleitung und Führung zur Oberschule, Erdkunde und Deutsch. Es war heftig, meint sie noch heute, und nach 14 Tagen war sie davon überzeugt, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Allerdings gab es einen mitfühlenden Schulleiter, der zu ihr sagte: „Fräulein Mehling lassen Sie sich und der Klasse ein halbes Jahr Zeit.“ Die ersten Jahre an der Schule waren nicht einfach, man arbeitete mit Druck und Strafen; unliebsame Schüler wurden schnell an andere Schulen geschickt ohne den Hintergrund der Probleme zu erforschen.
Die erste Unterricht an der Petersen-Schule: eine 6. Klasse, 1965 (R.W.:letzte Reihe, 3. von links)

1967 legte Ruth Weber das 2. Staatexamen ab. Ein Jahr später wählte das Kollegium die 27Jährige zur stellvertretenden Schulleiterin. Seit 1981 oblag ihr die Schulleitung, die sie bis zum Ruhestand 2007 innehatte.

Ende der 1960er-Jahre herrschten in der Lehrerschaft ein großer Altersunterschied und damit unterschiedliche pädagogische Auffassungen vor. Viele Ältere standen kurz vor der Pensionierung und bestanden auf ihrem scheinbar bewährten Unterrichtsstil. Die jungen Lehrer und Lehrerinnen hatten eine moderne Ausbildung genossen und wollten vieles anders machen. Es gab aber im Kollegium keine Gespräche darüber. Einmal stand eine ältere Kollegin weinend im Flur, weil sie mit den Schülern nicht mehr zurechtkam. Diesmal reagierten die Kollegen anders, sie eröffneten unter Billigung des Schulleiters das gemeinsame Gespräch in solidarischer Atmosphäre über persönliche Schwierigkeiten in der Schule. Das war ein einschneidendes Erlebnis, denn normalerweise wäre der Lehrerin eiskalt Unfähigkeit bescheinigt worden. 

Bei manchen Lehrern hatte sich ein gewisser Schlendrian breit gemacht, den die Jüngeren, allen voran Ruth Weber, nicht länger tolerieren wollten. Zum Beispiel die Besuche beim Schulzahnarzt, die einen Grund boten, die Schüler anschließend nach Hause zu schicken. Ruth Weber mahnte, dies nicht mehr zu tun und lieber etwas Gemeinsames zu unternehmen, zum Beispiel noch eine Stunde auf dem Spielplatz zu verbringen. Eines Tages erfuhr sie, dass ihrer Vorgabe nicht Folge geleistet wurde, und bat die betreffende Lehrerin zu einem Gespräch in ihr Büro. Das war für beide Seiten eine schwierige Situation, aber es wurde Klarheit geschaffen. Ähnlich wurde das Thema „Hitzefrei“ behandelt. Waren gerade 25 Grad erreicht, wollten die engagierten, verantwortungsvollen Lehrer kein Hitzefrei haben, sondern mit den Schülern arbeiten. Das aber musste mühsam durchgesetzt werden.

Die jüngeren Kollegen haben sich dann freiwillig zusammengesetzt und darüber nachgedacht, was sie als Lehrpersonen erreichen und an der Schule verändern wollen. Sie sahen vieles anders, als es in der Schule gehandhabt wurde, und erarbeiteten neue Vorschläge. Sie erkannten, dass ein Teil der Kinder unterfordert, ein weiterer Teil aber auch überfordert war und zielten auf eine stärkere individuelle Förderung. Der Schulleiter ließ ihnen die Freiheit und schottete sie zur Schulverwaltung hin ab. Gleichzeitig besannen sich die Lehrer auf den Namenspatron Peter-Petersen und studierten die Ideen des Schulreformers. 

Peter Petersen (1884-1952) begründete in den 1920er-Jahren als Hochschullehrer für Erziehungswissenschaften an der Universität Jena die „Jena-Plan-Pädagogik“. Ihr Ziel ist die kindgerechte Lebensgemeinschaftsschule, in der neben dem Erwerben des Wissens auch das soziale Zusammenleben eingeübt wird. Die Grundlagen des Unterrichts bilden die Grundformen des Zusammenlebens: Gespräch-Arbeit-Spiel-Feier, ebenso wie das Lernen in altersgemischten Gruppen, Fächer übergreifender Unterricht, individuelle Lernwege und Weltorientierung der Schule. Für Ruth Weber waren diese Prinzipien nicht neu, konnte sie doch auf ihre Erfahrungen in einer kinderreichen Familie zurückgreifen.

1983 begannen die Lehrer mit verschiedenen Aktionen zur Umweltgestaltung. Sie befreiten die Hasenheide vom Müll, veranstalteten eine Friedenswoche und gestalteten die Schulflure. Für jede Aktion mussten Pläne eingereicht und die positiven Bescheide abgewartet werden. Es war Ruth Webers Aufgabe als Schulleiterin diese Aktionen beim Schulamt durchzusetzen. Für das Putzen der Hasenheide gab es viel Applaus, aber die Friedensaktion war streng verboten. Wieso sollte die Schule sich nicht für den Frieden einsetzen? Auf die eingereichten Pläne gab es keine Antwort vom Schulamt. Die Friedenswoche fand trotzdem statt. Erst nach zwei Jahren, im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Veröffentlichung, erfuhr die Schulleiterin, dass der Schulrat absichtlich nicht geantwortet hatte. Er bat sie nichts über die Friedensaktion zu publizieren, es könnte Probleme geben. Sie akzeptierte seinen Wunsch.

1984 führte die Schule anlässlich des 100. Geburtstages von Peter Petersen eine Projektwoche durch, welche als den Beginn der Umsetzung seiner Pädagogik zu sehen ist. Zunächst konzentrierte sich die Schule weiterhin auf die Umwelterziehung und gestaltete mit der benachbarten Konrad-Agahd-Schule und unter Einbeziehung der Eltern den gemeinsamen Schulhof zu einer grünen Frei- und Spielfläche um. Es war ein siebenjähriger Prozess, der auch in die unterschiedlichen Unterrichtsfächer einfloss, wiederum orientiert an den verschiedenen Leistungsniveaus der Kinder.

Ruth Weber an ihrem letzten Arbeitstag in ihrem Büro, 2007
1994 begann die Schule gemäß dem Jena-Plan altersgemischte Lerngruppen einzurichten, die drei Klassenstufen umfassen. Seit 2000/2001 lernen alle 340 Schüler in altersgemischten Stammgruppen.

Es brauchte also 10 Jahre, um die Peter-Petersen-Schule grundlegend zu verändern. Einen großen Anteil daran hatte Ruth Weber, die jede Projektwoche, jede Veränderung bei der Schulverwaltung aber auch gegenüber den Eltern durchsetzen musste. Natürlich wäre das ohne das engagierte Lehrerkollegium nicht gelaufen, betont sie. Andererseits war es wichtig, klare Regeln einzuführen und Verstöße nicht zu akzeptieren. Klassenfahrten und Schwimmen beispielsweise gehören zum Unterricht, da werden keine Ausnahmen gemacht. Allerdings hat man ein offenes Ohr für manche Ängste der Eltern und versucht gemeinsam Lösungen zu finden. Nach der grundlegenden Umstellung der Schule haben sich fünf Lehrer an andere Schulen versetzen lassen. Neue und bewegliche Lehrer aus dem früheren Ost-Berlin kamen hinzu, weil dort Personal abgebaut werden musste: ein Gewinn für die Peter-Petersen-Schule, der 2002 der Status „Schule besonderer pädagogischer Prägung“ verliehen wurde. Darüber hinaus wurde sie „unesco-Projektschule“, in der internationale Verständigung, Nachhaltigkeit und interkulturelles Lernen im Mittelpunkt stehen.

Rosen zum Abschied, 2007




Samstag, 3. Oktober 2015

Den Körnerkiez entdecken mit Cornelia Hüge, Teil 2

Samstag, 3. Oktober 2015

Der dritte und letzte Sonnabend der Stadterkundungen war der Kunst und den Kunstorten des Viertels gewidmet. Cornelia Hüge führte uns auch an diesem Tag. Wir begannen beim Kunstraum t27 in der Thomasstraße 27, wo wir gerade noch Gelegenheit hatten die als Galerie genutzten Räume zu besichtigen, bevor sie geschlossen werden. Der Eigentümer will das Haus sanieren und dann teurer vermieten, so dass der derzeitige Mieter, das Kulturnetz e.V., die neuen Mietkosten nicht aufbringen kann. Hier fanden seit 2005 zahlreiche interessante Ausstellungen aller Sparten zeitgenössischer bildender Kunst statt. Uns empfing der Leiter Martin Steffens, der uns die eigens zum Auszug spontan angefertigte Ausstellung erläutert. Dann steuerten wir die kommunale Galerie am Körnerpark an, die verschiedene Künstler eingeladen hatte gestalterische Aussagen zum Thema „Garten“ zu machen. Zwei der Kunstwerke schauten wir uns unter den Erläuterungen unserer Expertin genauer an. Nach einem Besuch im Atelier der südkoreanischen Künstlerin Eunsun Ko werfen wir noch einen Blick in die Ausstellungsräume des Neuköllner Leuchtturms und erfahren noch einiges über andere Kunststandorte wie die WerkStadt Kunstverein Berlin und Veranstaltungen wie „48 Stunden Neukölln“.



(Literaturempfehlung: U. Bach, C. Hüge: Rund um den Körnerpark. Geschichte und Gegenwart eines Neuköllner Wohnquartiers, Berlin 2006, www.qm-koernerpark.de)