Donnerstag, 19. November 2015

4. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 19. November 2015


Heute sind wir eine Runde mit 13 Gästen, eine angenehme Zahl. Ich habe mich für den kleinen Tisch entschieden. Jetzt geht das Vorbereiten schon wie am Schnürchen, aber ich finde die Thermoskannen nicht. Wir werden improvisieren. Veronika Hitpaß kommt rechtzeitig, um noch einen Moment nach der Schule zu verschnaufen. Dann legt sie in ihrer frischen und temperamentvollen Art los.



Veronika Hitpaß sitzt links auf dem Sofa

Veronika Hitpaß, evangelische Religionslehrerin an der Peter-Petersen-Schule

Veronika Hitpaß, Jahrgang 1953, wächst in Nordrhein-Westfalen auf, in einem Dorf nahe der holländischen Grenze. Ihr soziales Umfeld ist katholisch geprägt. Die gläubigen Eltern vermitteln Nächstenliebe und sind stets bereit Menschen in Not zu helfen. Der Vater ist Schuhmachermeister, die Mutter Hausfrau. Die Familie lebt bescheiden, empfindet sich aber nicht als arm. Veronika trägt ganz selbstverständlich die Kleider ihrer Cousinen und sogar die Schuhe ihrer älteren Brüder auf. Von den vier Kindern, drei Jungen, ein Mädchen, können die beiden jüngeren das Gymnasium besuchen, weil im Bundesland Nordrhein-Westfalen seit 1965 die Schulbücher kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Alle Kinder sollen die Chance haben das Abitur zu machen, so die offizielle Bildungspolitik. Die im Dorf  vorherrschende Frömmigkeit geht einher mit Freundlichkeit und Lebenslust. Veronikas Mutter hat 8 Schwestern und zwei Brüder. Verwandtschaftliche Zusammenkünfte sind große, fröhliche und unbeschwerte Runden; Veronika genießt es dabei zu sein. Sie verlebt eine glückliche, freie Kindheit auf dem Land. Die Kirche besucht sie regelmäßig. Mit 17 Jahren ändert sich ihre Haltung zur Kirche, sie empfindet es nun als Knechtung jeden Sonntag zur Messe zu gehen und auch noch beichten zu müssen. Für den Pfarrer im Beichtstuhl legt sie sich Dinge zurecht, die sich aber nicht wirklich zugetragen haben.

Nach dem Abitur zieht es sie zum Studium nach Berlin, weil dort ein junger Mann auf sie wartet.  Auch will sie mehr von der linken Studentenbewegung erfahren. Sie schreibt sich in das Fach Soziologie ein mit der Vorstellung, eines Tages in die Gesellschaft einzugreifen und dafür zu sorgen, dass es kein Unrecht mehr auf der Welt gibt. Sie ergänzt das Studium mit den Fächern Psychologie, Pädagogik und Politologie. Außerdem tritt sie zum Leidwesen ihrer Eltern aus der katholischen Kirche aus und engagiert sich politisch.

Neben dem Studium übernimmt sie eine Aufgabe in der Offenen Jugendarbeit und betreut in einem Reinickendorfer Jugendfreizeitheim schwierige, zum Teil schon vorbestrafte Jugendliche, um die sich sonst niemand kümmert. Zweimal wöchentlich von 18-22 Uhr beschäftigt sie sich mit ihnen; sie spielen Karten, sprechen miteinander oder sehen sich gemeinsam Filme an. Im Film „Die Faust in der Tasche“ von Max Willutzki (1978) haben sogar einige der Jugendlichen als Darsteller mitgespielt. Der Film analysiert die Situation arbeitsloser Jugendlichen und ihre Gewaltbereitschaft. Leider driftet später einer der Jugendlichen völlig ab und bringt einen Menschen um.

Veronika beschließt ihr Studium als Diplom-Soziologin, obwohl sie schon während der Studienzeit, vor allem bei der Arbeit mit den Reinickendorfer Jugendlichen, bemerkt hat, dass ihr die Pädagogik viel mehr liegt. Sie findet eine Stelle im Wedding, wo gerade ein Jugendladen eröffnet wurde, und arbeitet dort eineinhalb Jahre lang als Sozialarbeiterin mit Mädchen und Jungen aus dem Arbeitermilieu.

Dann wird beim evangelischen Kirchenkreis Kreuzberg eine Stelle in der Jugendeinrichtung „Die Wille“ frei, die man Veronika anbietet. Deswegen tritt sie in die evangelische Kirche ein, aber auch aus innerer Überzeugung. „Die Wille“ liegt in einem alten Mietshaus in einer einsamen und unwirtlichen Gegend nahe der Mauer und beherbergt eine Schüleretage und ein Jugendfreizeitzentrum. Veronika betreut Kinder mit Einschränkungen in ihren Lese- und Schreibfähigkeiten und unterstützt sie bei den Schularbeiten. Die Arbeit mit den Kindern macht ihr große Freude, so dass sie es jetzt sogar bereut keinen Pädagogik-Abschluss gemacht zu haben. Damals in der Abiturklasse wählten fast alle den Lehrerberuf; Veronika aber nicht; sie wollte sich wohl von ihren Mitschülern mit einer besonderen Berufswahl absetzen. 

Die Arbeit in der „Wille“ prägt Veronika entscheidend. Sie kooperiert mit den engagierten Kollegen und wirkt am umfassenden Bildungsprogramm für die Kinder und Jugendlichen mit. Neben dem Schularbeitszirkel werden Ausflüge unternommen, Feste gefeiert, Diskotheken besucht, sogar Reisen gemacht. Die Jugendlichen wohnen in der näheren Kreuzberger Umgebung. Die meisten stammen aus armen Familien. Selbst ein Ausflug an den Schlachtensee ist ein großes Ereignis, weil viele der Jugendlichen noch nicht einmal bis dorthin gekommen sind. In der „Wille“ werden sie in ihrem Fortkommen unterstützt, zum Beispiel bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Einmal begleitet Veronika die Jugendlichen auf einer Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz, die von der Aktion Sühnezeichen alljährlich organisiert wird. In Auschwitz leisten sie einen einwöchigen Friedensdienst ab, der aus Gartenarbeit am Vormittag sowie Gesprächen und Archivarbeit am Nachmittag besteht. Bei einem Gespräch mit einem ehemaligen Insassen bemerken sie dessen eingravierte Nummer auf dem Arm. Ebenfalls beeindruckend ist die Aufgabe, allein in einer der Baracken, die mit Schuhen ehemaliger Häftlinge vollgestellt ist, zwei Stunden zu verweilen und dort die Schuhe zu reinigen. Plötzlich ist man für sich und kann die Eindrücke sacken lassen. Veronika wird klar, dass man konkret etwas tun muss, damit nie wieder ein solches Unrecht passiert.

Wieder zurück in Kreuzberg denkt Veronika erneut darüber nach, wie sie doch noch Pädagogin werden könnte. Sie trifft eine Freundin, die ihr erzählt, dass sie an einer Ausbildung zur evangelischen Religionslehrerin teilnimmt. Ob das auch etwas für sie wäre? Veronika informiert sich, bewirbt sich, wird genommen und beginnt ein sehr intensives berufsbegleitendes Studium. Sie lernt die Bibel unter kritischen und historischen Aspekten kennen und befasst sich erneut mit Didaktik, Pädagogik und Psychologie. Gleichzeitig gibt sie an der Karl-Weise-Schule Religionsunterricht. Das Studium gibt ihr auch die Möglichkeit über ihre Haltung als Christin nachzudenken. Nach bestandener Prüfung darf sie bis zur 13. Klasse unterrichten.

Veronika zieht die Grundschule vor und wird an der Karl-Weise-Schule in Nord-Neukölln angestellt. Dort herrscht ein Schulleben mit harten Bedingungen. In einer Klasse gibt es höchstens 4 oder 5 Kinder ohne Migrationshintergrund. Die Lehrer versuchen alles, um trotz der schwierigen Situation eine gute Arbeit zu machen. Veronika kann die Kinder nicht disziplinieren, die Kinder kriechen unter die Tische, benutzen schmutzige Schimpfwörter oder rennen aus der Klasse. Die evangelische Seminarleiterin schüttelt nur den Kopf, sie kann es sich einfach nicht vorstellen, mit welchen Verhältnissen Lehrer in Neukölln konfrontiert sind. Veronika lernt, dass man die Ausbildungsinhalte nicht einfach abspulen kann, sondern sich immer wieder neu auf die Kinder beziehen muss.

Nach einigen schwierigen Jahren an der Karl-Weise-Schule wechselt Veronika an die Matthias-Claudius-Schule im Süden Neuköllns und an die Hugo-Heimann-Schule in der Gropiusstadt. Dort ist der Unterricht nicht weniger problematisch. An der Matthias-Claudius-Schule lernen zu dieser Zeit viele Kinder aus der bürgerlichen Mittelschicht in großen Klassen, und manchmal findet auch der Religionsunterricht in großer Besetzung statt. Die Hugo-Heimann-Schule dagegen ist eine harte Kiezschule mit einem allerdings sehr bemühten Kollegium. Doch in beiden Schulen ist jeder Lehrer weitgehend auf sich gestellt. Es gibt weder eine Koordination noch Absprachen im pädagogischen Profil. Veronika hat kaum noch Kraft und trägt sich mit dem Gedanken aufzugeben.

Gelegentlich besucht Veronika andere Religionslehrer in ihrem Unterricht. Begeistert ist sie von den Stunden in der Peter-Petersen-Schule. So also kann auch der Unterricht vonstatten gehen, denkt sie und bittet den Kollegen ihr Bescheid zu sagen, wenn er aus Altersgründen die Schule verlässt. Eines Tages wird sie tatsächlich angerufen: Hast du Interesse an meiner Stelle? Nach einem langen Gespräch mit dem scheidenden Kollegen steht für sie fest, dass sie künftig an der Peter-Petersen-Schule unterrichten möchte. Diese Schule hat ein besonderes pädagogisches Profil: jahrgangsübergreifender Unterricht, Teamarbeit, Projektarbeit, Einbeziehung der Eltern. Manche Interessenten fürchten eine zu große Belastung und nehmen ihre Bewerbung zurück. Der Direktor der Matthias-Claudius-Schule warnt sie, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilt. Aber Veronika, die diese Stelle wirklich bekommt, hat ihren Entschluss bis heute nicht bereut.

Veronika gestaltet den evangelischen Religionsunterricht vielfältig. Man muss bedenken, dass die Kinder nur zwei Stunden Religion in der Woche haben. Auf der Internetseite der Peter-Petersen-Schule hat Veronika den Inhalt ihres Unterrichts dargestellt. Wichtig sind zum Beispiel die „Themen des Lebens“ wie Streit und Versöhnung. Einmal war Ruth Recknagel zu Gast, eine Halbjüdin, die in der nahe gelegenen Emser Straße gewohnt hat. Anschließend konnten die Kinder ihre Eindrücke auf vielfältige Weise bearbeiten, darüber schreiben, ein Bild malen, darüber berichten. Ein Projekt ist die Patenschaft für Stolpersteine. Wenn die Kinder möchten, können sie die Steine putzen, damit sie wieder glänzen und auffallen. Die Peter-Petersen-Schule hat einen Stein vor dem Haus Jonasstraße 66 gestiftet, weil ihr Standort sich in derselben Straße befindet. Dort wohnte Liselotte Ascher, eine Jüdin, die von den Nazis ermordet wurde. Veronika will über die sinnliche Erfahrung mit den Steinen den Kindern die Geschichte nahebringen und bestimmte Fragen vertiefen: Was ist Jude, was ist Christ? Darf ein Staat Menschen umbringen? Wohin führt Gewalt? 

Auch schließt der evangelische Religionsunterricht die Beteiligung am schulischen Umwelt-Projekt ein: „Wir halten unseren Kiez sauber“. Zwei- bis dreimal jährlich können die Kinder verantwortungsbewusste „Kehrenbürger“ sein und Straßen und Körnerpark von Schmutz und Abfall befreien. Natürlich gibt es auch eine Zusammenarbeit mit dem katholischen Religionslehrer und den muslimischen Religionslehrerinnen. Einmal im Jahr besuchen alle Schüler gemeinsam die Gotteshäuser der verschiedenen Religionen. Sie besichtigen eine Synagoge, eine Moschee und eine christliche Kirche, entdecken die Unterschiede, stellen Fragen und lernen von ihren Mitschülern, die oft nur wenig wissen, über die jeweils andere Religion. Das übt den anderen zu respektieren. Das Erntedankfest wird ebenfalls gemeinsam gefeiert.

Die Kinder wenden sich oft mit Lebensfragen an Veronika. Manchmal schwingen Vorurteile oder Unkenntnis mit. Veronika steht ihnen Rede und Antwort und muss manche kindlichen Aussagen korrigieren. Darin sieht sie eine wichtige Aufgabe.

Veronika ist jetzt 62 Jahre alt und glücklich darüber, dass sie den letzten Teil ihres beruflichen Weges an der Peter-Petersen-Schule absolvieren kann, wo sie sich angenommen fühlt und miterlebt, wie die Kinder in einer konstruktiven Lernumwelt Fortschritte machen und sich zu freien, solidarischen Menschen entwickeln können.

Donnerstag, 5. November 2015

3. Erzählcafé im Körnerkiez

Do, 5. November 2015


Heute werden wohl nicht ganz so viele kommen, einige hatten abgesagt, so dass ich eine kleinere Tischrunde ausprobieren möchte. Dann brauche ich nicht die schweren Holzplatten zu schleppen. Ich stelle vier Couchtische zu einem Quadrat zusammen und umrahme sie mit dem üppigen Ledersofa, dem Sessel und einigen Stühlen. Sieht auch ganz nett aus. Es folgt das zur Routine werdende Kaffeekochen, Geschirr auftragen und Kekse arrangieren.
Wir sind tatsächlich eine kleine Gruppe mit 11 Gästen, eine angenehme Größe für ein Gespräch. Marianne Pyrczek lässt uns zunächst an ihrer Beobachtung des Kiezes und seiner Entwicklung teilhaben, bevor sie über sich berichtet. Zwischendurch gibt es immer wieder Kommentare, die ich manchmal als störend empfinde, weil sie den Redefluss von Marianne Pyrczek unterbrechen. Beim nächsten Mal sollten wir uns mit Zwischenbemerkungen zurückhalten und uns lieber im Anschluss gemeinsam unterhalten. Zum Schluss kehrt noch einmal Ruhe ein, als Christel Lucht eine ihrer kurzen Geschichten vorliest.



Marianne Pyrczek, engagierte Nachbarin

1. Der Körnerkiez im Wandel

Marianne Pyrczek lebt seit ihrer Kindheit - mit einigen Unterbrechungen - im Körnerkiez und dort in ein und demselben Haus. Seitdem beobachtet sie, wie sich der Kiez verändert. Um 1900 kamen viele Arbeitskräfte nach Rixdorf und wohnten meistens beengt in eilig hochgezogenen Mietshäusern, mit Gemeinschaftstoiletten auf halber Treppe und Ofenheizung. So auch Mariannes Vorfahren, die aus Polen kamen. Das Haus von Marianne Pyrczek wurde 1900 erbaut und liegt im östlichen Teil der Jonasstraße, der mit den auffallend geschmackvollen Hausfassaden zu den schönen Ecken des Kiezes zählt. Das benachbarte Gebäude ist das einstige Domizil des Kiesgrubenbesitzers Franz Körner, Urheber des nach ihm benannten kleinen Parks mitten im Quartier. Ursprünglich war das Körnerhaus von einer Kiesgrube umgeben, den Körner in einen großen Garten umwandeln ließ. Ende der 1920er-Jahre verkauften dessen Erben das Gelände an eine Wohnungsbaugesellschaft, die dort Wohnhäuser errichtete. 

Glücklicherweise ist Neukölln im Zweiten Weltkrieg wenig zerstört worden. Die Eigentümer beschädigter Häuser, oft wohlhabende Handwerker oder Gewerbetreibende, konnten Hypotheken aus dem Wiederaufbauprogramm aufnehmen. Mit dem Geld ließen sie häufig den beschädigten Stuck abschlagen und die nun glatten Fassaden mit dem scheußlichen Kratzputz versehen. Da der Wohnraum knapp war, erließ der Senat eine Mietpreisbindung, die den Eigentümern wenig Möglichkeit für eine grundlegende Modernisierung der Gebäude bot. Damals wurden viele Häuser verkauft. 1988 wurde die Mietpreisbindung aufgehoben. Bis zur Wende 1989/90 blieb die Mieterstruktur stabil, dann aber setzte eine riesige Umzugswelle ein. Die Gutverdienenden suchten sich ein Einfamilienhaus im Umland; die Nachziehenden gehörten jedoch zu den unteren sozialen Schichten. Nach Neukölln zog man nur notgedrungen. Neukölln lag in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof, die Bewohner waren eher arm, Teile des Bezirks machten einen vernachlässigten Eindruck. Zogen viele Ausländer in ein Haus, wurde es den Alteingesessenen zu unruhig und sie wechselten die Wohnung. Seitdem Künstler etwa ab 2010 Neukölln entdecken, kommen auch Studenten, die in den großen Altbauwohnungen in Wohngemeinschaften leben. Dadurch steigen jetzt die Mieten, die sich die letzten Alteingesessenen nicht mehr leisten können. Dennoch zeichnen sich auch viele Verbesserungen ab. Neue Galerien und Cafés, aber auch liebevoll hergerichtete Wohnhäuser bereichern das Viertel. 


2. Marianne Pyrczek, ein Leben im Körnerkiez

Marianne und ihr Vater
auf der großen Treppe
zum Körnerpark
Marianne und ihre
Mutter im Körnerpark
1952 zieht Großmutter Pyrczek mit ihrem Sohn von Mitte nach Neukölln. Nahe der Stalinallee (heute Frankfurter Allee) besaßen sie ein Blumengeschäft, das wegen umfangreicher Baumaßnahmen seine Laufkundschaft verlor. In NeukölIn bauen sich die beiden eine neue Existenz auf. In der Hermannstraße eröffnen sie einen neuen, großen Laden mit zwei Schaufenstern und nennen ihn „Blumendienst“. Der Sohn heiratet. Das Paar bekommt zwei Mädchen.

Marianne mit ihrer kleinen
Schwester im Körnerpark
Marianne Pyrczek und ihre Schwester wachsen in der Jonasstraße auf. Marianne besucht den Kindergarten „Kleiner Prinz“ in der Schierker Straße; die erste Klasse absolviert sie in der Peter-Petersen-Schule. Danach wechselt sie auf die evangelische Schule, wo sie 10 Jahre lang eine gute humanistische Ausbildung genießt. Bestimmend in Mariannes Jugend aber ist das Blumengeschäft. Die Arbeit dort hat Vorrang vor allen Vergnügungen und Freundschaften. Im Laden arbeiten die Großmutter, die Eltern und  angestellte Blumenbinderinnen. Nach der Schule helfen die Kinder. Zeit für Schularbeiten findet sich erst am Abend zu Hause. Manchmal geht es danach noch weiter. Das in Kisten bereitstehende Islandmoos muss für die Gestecke vorbereitet und angedrahtet werden. Trotz aller Pflichten ist Marianne eine sehr gute Schülerin. Deshalb wird in der Schule ein Auge zugedrückt, wenn wieder einmal auf dem Entschuldigungszettel zu lesen ist, dass Marianne dem Unterricht fernbleiben muss, weil im Laden so viel zu tun ist. 

Im Kindergarten „Kleiner Prinz“
Eine schwierige Zeit beginnt für Marianne, als sie nach der 10. Klasse das Gymnasium besucht. Dass sie Abitur machen will, hat sie zu Hause durchgesetzt. Ihr Vater hätte es gerne gesehen, wenn sie den Blumenladen übernimmt. Sie könne doch schon alles, betont er. Marianne hat sich für eine Schule in Tiergarten entschieden, die Kunst und Chemie als Leistungskurse anbietet. Die Umstellung ist hart: der weite Weg, das Kurssystem, die angestammten Gymnasiasten. Marianne fühlt sich nicht wohl und bleibt Außenseiterin. Für neue Freundschaften hat sie keine Zeit. 1971 stirbt der Vater und alles wird noch schwerer. Marianne arbeitet weiter im Blumenladen. Aber es zeichnet sich ab, dass Blumen nicht mehr etwas Besonderes bedeuten, sondern zur billigen Massenware werden. Selbst in Supermärkten werden Sträuße angeboten. Der Familie wird klar, dass es so - mit der vielen Arbeit und den schwindenden Einkünften - nicht mehr weitergehen kann. Als sie schließlich noch von ihrer Mitarbeiterin bestohlen wird, steht der Entschluss fest: Der Laden wird verkauft. Zwei Wochen vor der mündlichen Abiturprüfung ist das Geschäft perfekt. Den Laden übernehmen zwei junge Männer. Das Geld wird geteilt, so dass die beiden Schwestern über ein kleines Startkapital verfügen können. Marianne legt ihr Abitur mit mittelmäßigen Noten ab, und ihre Mutter hat noch lange ein schlechtes Gewissen, ihrer Tochter so viel zugemutet zu haben.

Fasching im Nachbarschaftsheim
Marianne hat aber noch nicht genug von Blumen, sie will ihr Wissen festigen und plant den Gesellenbrief abzulegen. Bei „Blumen-Fröhlich“ an der Karl-Marx-Straße bewirbt sie sich, und der Chef lässt sie erst mal ordentlich arbeiten, bis sie schließlich feststellt, dass er längst vorhat sein Geschäft ebenfalls zu verkaufen. Sie kündigt sofort. Wie soll es nun weitergehen? Am liebsten würde sie Zahnmedizin studieren, doch dafür reichen die Abinoten nicht. Sie entscheidet sich für eine Ausbildung als Zahntechnikerin, die ihren handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten entgegenkommt. Die Lehrstelle tritt sie in einem großen Betrieb in Schöneberg an. Im ersten Lehrjahr wird sie Mitglied in der ÖTV, die auch für das Gesundheitswesen zuständig ist, und beginnt mit gewerkschaftlicher Arbeit. Als Jugendvertreterin kümmert sie sich um die Auszubildenden. Später befasst sie sich mit Gesundheitsstudien der Universität Köln und erfährt, dass Zahntechniker, die ständig mit Staub und Asbest in Berührung kommen, mit immensen Gesundheitsschäden rechnen müssen. Marianne nutzt seitdem Maske und Absauganlage bei der Arbeit, und ihre Kollegen machen sich ein wenig lustig darüber. Nach der Lehre nimmt sie eine Stelle bei einem Zahnarzt in Charlottenburg an. Obwohl ihr die Arbeit gefällt, besonders das beglückende Gefühl Menschen wieder zu schönen Zähnen verholfen zu haben, bleibt sie nicht lange. Ihre Gesundheit ist ihr wichtiger.

Marianne liebäugelt mit einem Studium. Da sie in der Gewerkschaft viel mit Juristen zu tun hat, liegt ein Jurastudium nahe. Von der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung erhält sie ein Stipendium. Das Studium, das sie von 1981 bis 1988 absolviert, fällt ihr nicht leicht, denn sie ist das Lernen nicht mehr gewöhnt. Nebenbei beteiligt sie sich an der Ausarbeitung der Studienreform. Die Zeit des 1. Staatsexamens fällt mit der politischen Wende Deutschlands zusammen. Marianne erlebt in Berlin aufregende Momente. Nach dem legendären Fernsehinterview mit Schabowski fährt Marianne mit dem Fahrrad und einem Sixpack Bier an den Grenzübergang Sonnenallee und empfängt begeistert die Menschen aus Ost-Berlin.

Weil sie sich aufgrund der allgemeinen Situation für Juristen wenig Berufschancen ausrechnet, geht Marianne für ein halbes Jahr nach Bochum, um ein Praktikum bei einer Unternehmensberatung zu machen. Doch dann kann sie ein Referendariat beim Berliner Kammergericht durchlaufen und erhält anschließend sofort eine Anstellung im Öffentlichen Dienst, wo sie auch ihre Gewerkschaftsarbeit fortsetzt.

Von dem Mauerfall profitiert Neukölln ganz besonders, findet Marianne. Der Bezirk gerät aus seiner Randlage in ein wunderbares Umfeld mit viel Wasser und Grün. Die Spree ist für die Neuköllner wieder zugänglich. Als begeisterte Fahrradfahrerin erkundet Marianne die neu gewonnene Umgebung. Sie tritt in eine Rudergemeinschaft ein und lernt dort ihren späteren Mann kennen. Er ist Däne. Und weil es viel einfacher ist in Dänemark zu heiraten, richten sie ihre Hochzeit dort aus. Den Brautstrauß aus violetten Orchideen und weißen Rosen bindet Marianne natürlich selbst.