Montag, 23. Oktober 2017

39. Erzählcafé im Körnerkiez


Donnerstag, 12. Oktober 2017

Bettina Stahn – Ethnologisches Forschen in Afrika

Bettina Stahn ist eine engagierte Besucherin des Erzählcafés. Von Beginn an ist sie regelmäßig dabei. Seit 1998 wohnt sie in der Emser Straße und verfolgt die Entwicklung des Kiezes. Die Erlebnisse im Erzählcafé haben ihr den Anstoß gegeben, sich zur Wahl des Quartiersrats aufstellen zu lassen, in den sie mit einer beachtlichen Quote gewählt wurde. Darauf ist sie stolz. Die studierte Ethnologin macht entwicklungspolitische Bildungsarbeit im Bereich der Erwachsenenbildung. Im Erzählcafé berichtet sie neben Kindheitserlebnissen über ihre Forschungsprojekte in Afrika.

Bettina Stahn wird 1959 in einer in Berlin-Steglitz wohnenden Arztfamilie geboren. Ihre drei Geschwister sind wesentlich älter als sie: Zu Bernhard beträgt der Altersunterschied 10, zu Cornelia 12 und zum ältesten Bruder Gottfried-Eckehard (genannt Dicki) 14 Jahre. Nach der Geburt Bernhards dachte die Mutter, er sei ihr letztes Kind. Sie war zu der Zeit 26 Jahre alt und von Beruf Gymnastiklehrerin. Eines Tages, so erzählt es die Mutter, holte der Vater sie von einem Ostsee-Urlaub ab. Er umarmte sie und stutzte. Dass sie wieder schwanger war, wollte sie erst nicht glauben. Aber der Vater, ein Arzt, hatte recht, denn er wusste, wie seine Frau sich anfühlte, wenn sie schwanger war. 

1962 zieht die Familie nach Wannsee in ein großes Haus mit Garten, das die Eltern gebaut haben. Bettina wächst geliebt und wohlbehütet auf. Sie ist ein lebhaftes Kind, das sich allein beschäftigen kann und nie gebrüllt haben soll, wenn es etwas haben wollte. Sie hat ihre eigene Methode sich durchzusetzen. Wenn zum Beispiel eines der Geschwister das Haus verlassen möchte, stellt sich Bettina blitzschnell in die Tür und versperrt so lange den Weg, bis der Bruder oder die Schwester bereit sind, sie mitzunehmen. Bei Familienspaziergängen bleibt Bettina stehen, wenn sie nicht mehr gehen kann oder will und spreizt die Beine, um von den Älteren auf die Schulter genommen zu werden. Einmal greift sie nach dem kostbaren Lippenstift der Mutter und bemalt damit die wertvollen, aus Birkenholz gebauten Schlafzimmerschränke. Alle diese Geschichten vermerkt die Mutter in ihrem Tagebuch. Später schenken Freunde ihr eine Filmkamera, die das Tagebuch ersetzt. Die Mutter filmt, wie das Engelchen Bettina beim weihnachtlichen Krippenspiel dem afrikanischen König (alias Bruder Bernhard) die Schokolade vom Gesicht ableckt oder wie der Vater Bettina übers Knie legt, um einen Knopf mit chirurgischer Naht und Verknotung an ihre gelbe Latzhose anzunähen.

1965 wird Bettina in die nahegelegene Dreilindenschule eingeschult. Ihre Lehrerin ist jung, liebenswürdig, und „sie hatte ebenso hellblonde Haare wie ich“. Vom ersten Schultag an ist Bettina mit ihrem Klassenkameraden Claus befreundet, einem dünnen, schwarzhaarigen Jungen mit großen braunen Augen. Die beiden sind unzertrennlich. Bettina leidet an Neurodermitis und hat oft die Hände verbunden. „Meine Hände wurden mit Teersalbe eingerieben. Das war damals das beste Mittel, das den Juckreiz linderte“, erklärt Bettina und beschreibt, wie sich die Kinder in ihrer Klasse die Nase zuhalten und „iii, riecht das eklig“ schreien. Claus dagegen fasst sie um und läuft mit ihr gemeinsam über den Schulhof. Das ist für die anderen Kinder ein Grund zum Lästern, und sie rufen ihnen hinterher: „Braut und Bräutigam!“

Bettina hat genügend Selbstbewusstsein, das gemeine Verhalten ihrer Mitschüler nicht allzu sehr an sich herankommen zu lassen. Sie fühlt sich von Claus unterstützt. Außerdem ist sie auch mit Claus’ Schwester befreundet, die zwei Jahre älter ist. „Wir drei bildeten eine eingeschworene Gemeinschaft, an die niemand herankam.“ Fast täglich sind sie zusammen, entweder zuhause bei Bettina oder bei Claus und denken sich fantasievolle Spiele aus, zum Beispiel: „Verkleiden“. Dabei dürfen sie sich aus der von Bettinas Mutter mit alten Kleidungsstücken vollgestopften Truhe bedienen. Oder: „Vater, Mutter, Kind“. Bettina muss immer das Kind sein, weil sie die Jüngste ist. Im Sommer ziehen die drei durch die Umgebung, erforschen unbekannte Ecken und fühlen sich wie eine Bande. Manchmal gibt es Streit, aber sie schaffen es, sich immer wieder zu versöhnen.

Die Großmutter mütterlicherseits wohnt ganz in der Nähe, Bettina darf sie oft besuchen, sie ist gern bei ihr. Die Großmutter ist Malerin, und Bettina hält sich mit ihr den ganzen Tag lang im Atelier auf und schaut ihr beim Malen zu. „Ich bin mit der Malerei, den Pinseln und Farben aufgewachsen. Das hat mich geprägt. Kunst fasziniert mich noch heute“.

Bettinas Vater arbeitet als Chirurg in einem Ost-Berliner Krankenhaus. Täglich fährt er mit seinem Auto über die Grenze nach Lichtenberg und nimmt dabei die lästigen Kontrollen in Kauf. Auch nach dem Bau der Mauer erträgt er die Strapazen eines „Grenzgängers“. Bettina sagt, ihr Vater sei ein Idealist gewesen. Er blieb im Osten, weil es dort an Ärzten mangelte. (Nach Gründung der DDR sind viele Fachkräfte nach Westdeutschland emigriert.) In West-Berlin dagegen gibt es nur selten freie Arzt-Stellen. Da er überwiegend Ost-Geld verdient, bleibt der Familie nicht anderes übrig, als in Ost-Berlin einzukaufen. Einmal in der Woche überquert die Mutter die Grenze, um den Großeinkauf – Lebensmittel und Bekleidung – für die Familie zu erledigen und nimmt eines der älteren Kinder mit. Bettina trägt die Kleider „aus dem Osten“ gern. Erst später, als sie in der Schule ihre Mitschülerinnen in Kleidern mit Rüschen und Schleifen sieht, will sie auch „so etwas Schönes“ haben. Nach einigen Jahren verbessert sich die medizinische Versorgung in Ost-Berlin, das medizinische Personal wird aufgestockt. Plötzlich sieht man dort die West-Ärzte schief an. Als schließlich eine West-Kollegin gemobbt wird, beschließt der Vater zu gehen und kündigt.

1968, an Bettinas neuntem Geburtstag, steht der Möbelwagen vor der Tür. Sie zieht mit ihren Eltern in das südliche Baden-Württemberg nach Schwenningen, wo ihr Vater in einer Klinik arbeiten wird. Die erwachsenen Geschwister gehen eigene Wege. Bettina ist wütend und traurig, ihre Berliner Freunde verlassen zu müssen. In Schwenningen kommt sie in die 4. Klasse zum Lehrer Herrn Dieterle, den sie als „personifizierten Teufel“ erlebt. Empört berichtet sie, wie er Klassenkameraden mit dem Rohrstock schlug. Als sie einmal ein Buch vergessen hat, nähert er sich ihr hinterhältig lächelnd, kneift sie kräftig in die Wange und schlägt noch einmal drauf. „Ich war völlig paralysiert und konnte es nicht meiner Mutter erzählen. Vielleicht, weil ich wegen des vergessenen Buches ein schlechtes Gewissen hatte.“ Erst viele Jahre später spricht Bettina mit ihrer Mutter darüber. Die Mutter hätte sie selbstverständlich gegenüber dem Lehrer verteidigt, ihn sogar angezeigt.

Auch mit den schwäbischen Kindern kommt Bettina nicht klar. Das Schlimmste ist der eigenartige Dialekt, den sie sprechen. Bettina hat große Mühe sie zu verstehen. Außerdem gefallen ihr ihre Spiele nicht. „Sie warfen Bälle an die Wand und sagten dazu einen blöden Spruch.“ Wenn Bettina ein Spiel vorschlägt, lehnen sie es ab mit der Begründung, es könnte eine „Sauerei“ entstehen. Aber was bedeutet das? Bettina lernt, dass die Kinder „Unordnung“ oder „Schmutz“ meinen. Sie antwortet: Wir können ja wieder aufräumen. Doch Spiele, die Unordnung und später eine Aufräumaktion nötig machen, sind bei den Schwaben wohl nicht vorgesehen, meint Bettina. Sie schwört, niemals so zu sprechen wie die Kinder in Schwenningen. Das wäre Hochverrat gegenüber ihren Berliner Freunden. Umgekehrt finden die Schwenninger Kinder Bettina, „die so komisch spricht“, hochnäsig und glauben, dass sie sich für etwas Besseres hält.

Trotzdem findet Bettina Freundinnen und Freunde, die zu ihr passen, und sie verliebt sich zum ersten Mal. 1976 ziehen ihre Eltern wieder um, diesmal nach Nord-Württemberg in eine kleine Stadt, wo der Vater eine Arztpraxis übernimmt. Bettina muss täglich mit dem Bus zur Schule in die benachbarte Stadt fahren. In ihrer neuen Heimatstadt findet Bettina schwer Anschluss. Nur im Sportverein lernt sie ein paar Leute kennen.

Im Wintersemester 1981/82 wählt Bettina Bayreuth als Studienort, wo die 1972 gegründete Universität einen Afrika-Schwerpunkt hat. Bettina wird dort Ethnologie studieren. „Ich habe schon als Kind gern Menschen beobachtet und mich später auch für fremde Kulturkreise interessiert“, sagt Bettina. Neben Ethnologie belegt sie die Fächer Afrikanistik und Soziologie und findet in überschaubar besetzten Seminaren angenehme Studienbedingungen vor. Die Stadt Bayreuth, die lediglich einmal im Jahr während der Wagner-Festspiele aufblüht, findet Bettina wenig attraktiv. Andere kulturelle Angebote gibt es kaum. Viele der männlichen deutschen Studierenden fahren über das Wochenende nach Hause, „um sich von ihren Müttern ihre Wäsche waschen zu lassen“.

Doch Bayreuth ist Anziehungspunkt für zahlreiche afrikanische Studierende, die sich oft für Germanistik oder Afrikanistik entscheiden. Fast alle wollen nach ihrem Studium in ihre Heimat zurückkehren, um dort bei der Entwicklung mitzuhelfen. Bettina studiert in einem deutsch-afrikanischen Arbeitskreis. Die Studierenden entwickeln Aktionsformen, um gegen den Rassismus im Alltag vorzugehen, machen Ausstellungen, kleben Plakate und verteilen Flyer. Im Studentenheim kommen sie zusammen, diskutieren, kochen gemeinsam köstliche afrikanische Gerichte und organisieren Tanzfeste. „Es war eine lebendige und intensive Zeit. Bei den permanenten Diskussionen mussten wir jedes Wort auf die Goldwaage legen“, sagt Bettina. Die afrikanischen Germanistik-Studierenden hinterfragen sehr genau die Bedeutung vieler Wörter. „Die Tanzfeste haben wir über mehrere Jahre organisiert. Als eine neue Gruppe Studierender hinzukam, die Drogen einführen und Frauen abschleppen wollten, haben wir damit aufgehört.“

Bettina befasst sich mit verschiedenen afrikanischen Sprachen, intensiv jedoch mit den beiden Verkehrssprachen Swahili und Hausa. „Die meisten Afrikanerinnen und Afrikaner sprechen mindestens zwei Sprachen, dazu kommen noch die Amtssprachen, die aus der Kolonialzeit herrühren, und die jeweiligen Verkehrssprachen. Da die vielen Ethnien innerhalb verschiedener Staatsgrenzen verstreut leben, werden in den einzelnen Regionen viele Sprachen gesprochen. In Afrika gibt es mehr als 2.000 Sprachen. Der amerikanische Sprachwissenschaftler Joseph Greenberg hat in den 1960er-Jahren die afrikanischen Sprachen in vier Sprachfamilien eingeteilt. „Die Grammatik afrikanischer Sprachen ist mit der europäischer Sprachen nicht zu vergleichen“, sagt Bettina und versucht die Regeln der so genannten Klassensprachen zu erklären. Um die Hausa-Sprache zu studieren, müssen die Seminareilnehmer das arabische Alphabet lernen, damit sie den Text in arabischer Schrift lesen können.

Im Rahmen eines linguistischen Forschungsprojektes, das Bettinas Bayreuther Professor leitet, reist sie mit anderen Studierenden nach Tansania und Kenia. Es geht darum, Verwandtschaftsbezeichnungen in den verschiedenen Bantu-Sprachen zu sammeln und zu systematisieren. Die Studierenden schlagen ihr Forschungslager auf einem Campingplatz nahe Mombasa auf, um von dort aus die umliegenden Dörfer zu besuchen und an Hand eines Fragebogens Interviews auf Swahili zu führen.

1986 setzt Bettina ihr Studium an der Freien Universität Berlin fort. 1988 hat sie die Möglichkeit, an einer Feldforschung teilzunehmen, diesmal in Zaire (heute Demokratische Republik Kongo), das seit 1965 von Mobuto beherrscht wird. Der Aufenthalt wird etwa drei Monate dauern. Bettina hat sich mit dem Werk des Jesuitenpaters Wauthier de Mahieu befasst, der Anfang des 20. Jahrhunderts über das im Nordosten Zaires lebende Volk der Kumu geforscht hat, und festgestellt, dass den Frauen nur vier Seiten gewidmet sind. Im Rahmen dieses Projektes will sie die Lebensbedingungen und die Kultur der Kumu-Frauen weiter erforschen. Nach einer langen Autofahrt durch den Urwald setzt sie ihr Berliner Professor in „ihrem“ Dorf ab. Sie wohnt bei einer Familie, mit der sie sich auf Französisch oder, noch besser, auf Swahili verständigt. In ihrem winzigen Zimmer, in das gerade das Bett mit dem Moskitonetz, ein Tisch und ein Stuhl passen, fühlt sie sich wohl, und sie beginnt sich im Dorf einzuleben. Anfangs wird ihre Anwesenheit interessiert zur Kenntnis genommen. In der 200 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Kisangani, die auch eine Universität besitzt, bemerkt sie argwöhnische Blicke, weil die Einwohner sie für eine Belgierin halten, die sie an die schrecklichen Zeiten als belgische Kolonie erinnert. Wenn Bettina sagt: Ich bin Deutsche, kann sie ein höfliches „Pardon, Madame“ entgegennehmen.

Bettinas Aufgabe ist es, die Frauen bei ihrer Arbeit auf Schritt und Tritt zu begleiten. Drei Stunden vom Dorf entfernt befindet sich ein Goldabbau, wo die meisten Männer des Dorfes arbeiten. Dort übernehmen einige Frauen den Restaurantbetrieb oder verkaufen Lebensmittel. Im Dorf kümmern sich die Frauen um sämtliche anfallende Arbeiten, auch um die, die sonst von Männern übernommen werden, wie Häuserbau oder Holzfällen. Die Häuser sind aus Lehm gebaut, die Dächer mit Bananenblättern gedeckt. Nach langen Regenzeiten fallen große Reparaturen an. Die Frauen kümmern sich auch um die Kinder, kochen das Essen, gehen auf die Felder oder in den Urwald, um Feuerholz zu holen. Bettina arbeitet täglich mit. Auf der Hinreise zu ihrem Dorf hat sie sich Kinshasa und Kinsangani afrikanische Stoffe gekauft und daraus Kleider nach einheimischen Vorlagen nähen lassen, die sie jetzt im Dorf trägt. Im Urwald zieht sie Hosen an. Es ist bequemer, weil sie und die Frauen oft über große Baumstämme steigen müssen, und ihre Gasteltern haben nichts dagegen. Bei der Zubereitung der Mahlzeiten spielt Maniok eine große Rolle. Bettina schält und kocht diese Wurzel, die ein wenig wie Kartoffeln schmeckt. Um Mehl herzustellen, muss die Wurzel erst gewässert, dann getrocknet und gemahlen werden. Beim Stampfen der Maniokblätter in einem hohen Holzgefäß versucht sie, es den Frauen gleichzutun und ihren gleichmäßigen Rhythmus zu finden. Doch sie bespritzt sich von oben bis unten mit dem Maniokmus – aller Anfang ist schwer! Aus Maniok wird auch Schnaps gebrannt, mit dem sie sich schon mal mit Frauen aus der Familie einen lustigen Nachmittag macht.

Ende 1988 fährt Bettina zurück nach Berlin, beginnt ihren Forschungsbericht zu schreiben und lässt sich abschließend im Tropeninstitut untersuchen: ohne Befund. Doch nach eineinhalb Jahren fühlt sie sich nicht gut. Es heißt, wenn man diesen Zeitraum nach einem Aufenthalt in den Tropen gut überstanden hat, sei man völlig gesund, nicht jedoch Bettina. Ihr geht es immer schlechter, und sie bekommt hohes Fieber. Bettinas Freund muss den Notarzt rufen, der sie ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus bringt. Nach ausführlichen Anamnesen mit unzähligen Blutabnahmen ist kein Ergebnis in Sicht. Bis nach einigen Tagen ein junger Arzt nach ihr schaut und sagt: Ich weiß jetzt, was Sie haben: Malaria tertiana. Typisch für diese Krankheit sind die unregelmäßigen Fieberanfälle. Bettina wird auf die Infektionsabteilung verlegt, wo sich auch die neue Station für Aids-Kranke befindet. Nach sechs Wochen kann sie das Krankenhaus verlassen, wissend, dass das vielen anderen Kranken auf dieser Station nicht mehr vergönnt sein wird.

Wieder zu Hause, teilt ihr Freund ihr mit, dass er sich von ihr trennen wird. Auch das muss verkraftet werden. Bettina schließt ihren Forschungsbericht und damit auch das Studium ab und beginnt mit einer Arbeit als freiberufliche Ethnologin in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie unterrichtet in Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung über Afrika, seine Sprachen, Geschichte und Kulturen. Dabei kann sie auch ihre in Bayreuth gemachten Erfahrungen im Kampf gegen den Rassismus verwerten. Bettinas Eltern und Geschwister unterstützen sie in allen ihren Vorhaben.

Die Eltern haben sich am Rand des Schwarzwaldes noch ein Haus gebaut. Sie haben eine gute Ehe geführt und im Einklang miteinander gelebt, findet Bettina. Als der Vater 1984 im Sterben liegt, ist immer jemand aus der Familie bei ihm. „Nach seinem Tod hatte ich das Gefühl, endlich erwachsen geworden zu sein“, sagt Bettina. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Die Mutter bleibt noch viele Jahre allein in dem Haus wohnen. Als sie gebrechlich wird, machen sich die Kinder Sorgen um sie. Bettina legt ihre Unterrichtseinheiten so, dass sie alle zwei Wochen für eine Woche bei der Mutter sein kann. Die Mutter stirbt 2012 mit 90 Jahren.

Seit 1998 wohnt Bettina im Körnerkiez und sie fühlt sich wohl dort. Auch ihre Mutter ließ sie daran teilhaben: Solange diese sie noch besuchen konnte, genossen sie stets einen gemeinsamen Spaziergang im Körnerpark.


38. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 28. September 2017


Bernhard Thieß: Der (Halb-)Weltumsegler

Bernhard Thieß ist Chef des „Neuköllner Leuchtturms“. Das ist das Mietshaus in der Emser Straße 117, in dessen Erdgeschoss unser Erzählcafé stattfindet. 2006 ließ er auf die Fassade einen Leuchtturm malen, um auf seine Weise zu zeigen, dass sich „ab jetzt“ im vernachlässigten Neukölln etwas ändern wird. Das beschloss er gemeinsam mit anderen, die dazu beizutragen wollten, das Leben dort wieder erträglicher zu machen. Schließlich stammt er aus diesem Kiez. Der Leuchtturm symbolisiert aber auch einen besonderen Abschnitt in seinem Leben. Über diesen und andere Abenteuer berichtet Bernhard Thieß  gelassen und pragmatisch.


Es ist noch Krieg, als Bernhard am 27. Mai 1944 in Bad Landeck auf die Welt kommt. Bomben fallen auf Berlin, die Mütter wurden vorübergehend zur Geburt nach Schlesien gebracht, und wer nicht in die deutschen Ostgebiete evakuiert wurde, verbringt die Nächte im Luftschutzkeller. Am 2. Februar 1945 wird auch das Mietshaus in der Kreuzberger Pücklerstraße 23 dem Erdboden gleichgemacht. Dort wohnte Familie Thieß. Nun sie ist „ausgebombt“, wie man sagt. Bernhard und seine Mutter finden Unterschlupf bei Onkel Max, dem Bruder der Vaters, der in Britz eine Laube bewohnt. Doch schon am 1. Juli 1945 können die beiden eine Wohnung in der Emser Straße 25, Neukölln, beziehen – mit dem Vater, der aus dem Krieg heimgekehrt ist. Dem Mietshaus fehlt der Seitenflügel; und das angrenzende Gebäude ist nur noch ein Trümmerhaufen. So lebt die Familie im 4. Obergeschoss einer Teilruine. Die Tür ihrer Nachbarwohnung führt direkt in den Abgrund. Das Treppenhaus hat ein provisorisches Notdach erhalten, und die Familie nutzt diesen provisorischen Dachraum als Abstellkammer. Auf dem benachbarten Trümmergrundstück spielen die Kinder und machen aufregende Erkundungen. Eigentlich ist es verboten, das Gelände zu betreten, aber die Kinder tun es heimlich. Bernhard erinnert sich noch an einen Spielkameraden, dessen Vater besonders streng war. Beim kleinsten Vergehen wurde er von seinem Vater mit einer ledernen Peitsche, dem Siebenstriem, verprügelt. „Das kann ich bis heute nicht vergessen“, sagt Bernhard, dessen Vater zwar auch Gehorsam verlangte, ihn aber nicht körperlich züchtigte.

Bernhard besucht die Grundschule in der Jonasstraße. Die Kinder werden in Schichten unterrichtet, im Winter sind die Klassenräume notdürftig geheizt. „Aber das hat uns alles nicht gestört.“ In der Oberschule am Britzer Damm macht Bernhard die Mittlere Reife. In diesem alten Gebäude sind zwei Schulen auf engstem Raum untergebracht, später wird in der Parchimer Allee eine neue Schule gebaut.

Familie Thieß kann inzwischen eine bessere Wohnung beziehen, sogar mit Bad und Kohlebadeofen.  Sie liegt im selben Haus, nur zwei Stockwerke tiefer. 1951 gründet der Vater, von Beruf Tischler, in der Siegfriedstraße die Tischlerei Franz Thieß. Die Werkstatt befindet sich in einem ehemaligen Kuhstall, die er von einem alten Tischlermeister übernommen hat. „Bis in die 1959er-Jahre hinein gab es in Neukölln noch Kuhställe, wo man Milch kaufen konnte. In unserer Werkstatt fanden sich noch die offene Rinne und die Halterungen für die Kühe. Für große Umbaumaßnahmen fehlte das Geld, deshalb blieb alles so, wie es war“, erklärt Bernhard. Im Vorderhaus mietet der Vater weitere Räume für das Büro an, wo die Mutter die Buchhaltung und die Terminorganisation übernimmt. 1965 zieht die Familie in ein Haus, das neben der Werkstatt, in der Hermann- Ecke Siegfriedstraße liegt.

Als 1956 das Eisstadion an der Oderstraße eröffnet wird, lernt Bernhard dort Schlittschuhlaufen. Er bekommt Gleiter, die an die Schuhe angeschraubt werden müssen. „Richtige“ Schlittschuhe kaufen ihm seine Eltern, als er beginnt Eishockey zu spielen. Bis er 18 Jahre alt ist nimmt er regelmäßig an Mannschaftsspielen teil. Dann engagiert er sich als Schiedsrichter. Bei dieser verantwortungsvollen Aufgabe gerät er aber oft zwischen die Fronten. Bis zu Wettkämpfen in der zweiten Bundesliga wird er gerufen. Oft muss er weit fahren und kommt nach dem Spiel erst nachts nach Hause. Zehn Jahre lang bleibt er dabei, dann gibt es dringendere Verpflichtungen: Die Tischlerei braucht ihn.

Nach der Mittleren Reife macht Bernhard eine Lehre bei einer Tischlerei in der Sonnenallee und schließt sie mit der Gesellenprüfung ab. Seiner Mutter schwebt vor, dass Bernhard auf der Ingenieurschule studiert, um Bauleiter zu werden. Durch gute Kontakte zu den Bauherren würden dann bei der Tischlerei Thieß laufend neue Bauaufträge eingehen. Bernhard aber weiß, dass ihm die Theorie nicht liegt. Immerhin tut er seiner Mutter den Gefallen und absolviert ein Praktikum auf dem Bau. Dort fühlt er sich in seiner Abneigung bestätigt und beginnt viel lieber in der Tischlerei zu arbeiten. Neben ihm sind zwei weitere Gesellen beschäftigt. Als der Vater erkrankt, liegt die Arbeit auf den Schultern der drei Gesellen. 1964 stirbt der Vater mit nur 56 Jahren. Die Tischlerei aber darf nur von einem Tischlermeister weitergeführt werden. Bernhard besucht eine Meisterabendschule und legt nach zwei Jahren mit einer Sondererlaubnis die Meisterprüfung ab. Nun ist er Chef und mit 22 Jahren der jüngste Tischlermeister Berlins. „Oftmals hielten mich die Bauherren für den Lehrling, wenn ich zu einem Besprechungstermin auf der Baustelle erschien. Ich sah viel jünger aus, als ich wirklich war“, sagt Bernhard lachend.

1965 heiratet Bernhard; 1966 wird sein Sohn geboren. Es ist schwer eine Wohnung zu finden. Aber Bernhard hat Glück. Er kann mit seiner jungen Frau zunächst zur Untermiete in der Wohnung der Großmutter wohnen. Die Oma lebt in der Kienitzer Straße und zieht vorübergehend zu ihrem Lebenspartner. Wenig später wird für die Familie eine Wohnung in der Emser Straße 111 frei. Dort kommt 1969 die Tochter zur Welt. Die Zeiten aber haben sich geändert. Während Bernhard als Kind noch gefahrlos auf der Straße spielen konnte, ist es nun wegen des zugenommenen Autoverkehrs nicht mehr möglich. Die nach den Kriegszerstörungen leer geräumten Grundstücke sind meistens wieder bebaut worden, aber Kinderspielplätze sind nicht entstanden. Bernhard will, dass seine Kinder frei aufwachsen können. Die Lösung ist ein Grundstück in Rudow, wo es noch Felder und Landwirtschaft gibt. Dort baut er für seine Familie ein Haus. Es ist ein Fertighaus. Keller und Dachgeschoss entstehen in Eigenarbeit. 1971 zieht die Familie ins Grüne, und die Kinder können eine unbeschwerte, geborgene Kindheit erleben.

Seit seiner Jugend ist Bernhard leidenschaftlicher Wassersportler. Doch als Familienvater und Tischlereibesitzer bleibt ihm wenig Zeit für sein Hobby. Früher, als die Grenze noch offen war, fuhr er im Sommer oft zum Seddinsee, wo sein Faltboot lag. Von seinem ersten Lehrlingsgehalt erstand er ein altes Segelboot für 25 DM (viel Geld für ihn). Es hatte zwar West-Berlinern gehört, lag aber in Schmöckwitz, einem Ortsteil in Ost-Berlin. 1961 wurde die Mauer gebaut, und Bernhard konnte sein Schiff nicht mehr benutzen. Er schenkte es seiner Ost-Berliner Cousine und versuchte es mit einem gebrauchten Ersatz-Boot in West-Berliner Gewässern.

1978 baut sich Bernhard ein großes Schiff, um damit auf der Ostsee zu segeln. Er kauft einen Rumpf und baut ihn mit einer Kajüte aus. Für West-Berliner ist es umständlich und zeitaufwendig ein Boot bis an die Ostsee zu transportieren. Man muss es durch die DDR schleppen lassen, für das man auf jedem Weg zwei Tage braucht. Aber Bernhard perfektioniert sich als Segler und legt die erforderlichen Prüfungen für den Segelschein ab. Seine routinierten und fehlerlosen Manöver in der praktischen Prüfung bewirken ein ungläubiges Staunen in den Gesichtern der Prüfer. Er muss alles wiederholen, um sie zu überzeugen, dass er nicht geblufft hat.

Einmal unternimmt Bernhard mit seinen inzwischen fast erwachsenen Kindern eine Segeltour im Mittelmeer rund um Korsika. Das Boot nehmen sie von Berlin aus auf einem Autoanhänger mit. Auf dem Rückweg, sie befinden sich gerade auf der Autobahn in der DDR, beginnt der Anhänger zu schlingern. Bernhard reagiert falsch, der Anhänger kippt um und bleibt auf der Fahrbahn liegen. Die Volkspolizei sperrt die Autobahn, und es dauert Stunden, bis ein Kran kommt, der das Boot wieder aufrichtet. Als sie am Grenzkontrollpunkt ankommen, werden sie von Soldaten mit Maschinengewehr im Anschlag eingekreist. Wo sind Sie so lange gewesen? wollen sie wissen. (Man musste in einer vorgeschrieben Maximalzeit den Transitweg durchquert haben, sonst gab es Ärger.) Zu Hause stellt Bernhard das unbrauchbar gewordene Schiff auf seinem Grundstück ab. Die Versicherung zahlt ihm eine kleine Entschädigung. In diese Zeit etwa fällt die Scheidung von seiner Frau.

1981 lernte er Karen-Kristina  kennen und schafft sich im Jahr darauf ein neues größeres Boot an. Seinen Liegeplatz hat es an der Ostsee. Mit Karen-Kristina unternimmt Bernhard in den nächsten Jahren größere Segeltörns. Sie segeln nach England, Schottland, durch den englischen Kanal. An der Irischen See geraten sie in einen Sturm, der das Boot beschädigt. Das Boot muss in Irland bleiben und dort repariert werden. Im kommenden Frühjahr, es ist April 1986, holen Bernhard und ein Freund das Schiff wieder ab. Als sie in Cuxhaven anlegen, empfangen sie die Meldung über die Explosion des Kernkraftwerks Tschernobyl. Dieses Ereignis ist ein Schock, der wohl für immer im Gedächtnis bleibt.

In der Tischlerei häuft sich die Arbeit. Angesichts der guten Auftragslage muss sich die Firma vergrößern und zieht 1989 in den Gewerbehof Niemetzstraße. Sein Sohn hat ebenfalls Tischler gelernt und arbeitet längst mit. Nach dessen Meisterprüfung im Jahr 1990 übernimmt er mehr Verantwortung. 1992 steigt die Tochter als gelernte Kauffrau ebenfalls in den Betrieb ein.

Der Zeitpunkt scheint gekommen zu sein an die eigenen Wünsche zu denken. Schon lange hat Bernhard davon geträumt die Welt zu umsegeln. Karen-Kristina wäre bereit ihn zu begleiten und bei ihrer Arbeit eine längere Auszeit zu beantragen. Viel versteht sie nicht vom Segeln, aber es gibt genügend andere Aufgaben: sie hilft beim Anlegen, führt das Reisetagebuch und sorgt für die Verpflegung. 1994, in seinem 50. Lebensjahr, kauft Bernhard einen englischen Katamaran, 11 Meter lang, fünf Meter breit. Es gibt genügend Platz für seine Frau und ihn, für die Fahrräder und den Proviant. Ein Beiboot mit Rettungsinsel gehört natürlich dazu sowie die notwendige technische Ausstattung wie Funkgeräte etc. Im September 1995 segeln sie durch den englischen Kanal, vorbei an Spanien, Portugal zu den Kanarischen Inseln. Im November, nach der Hurrikansaison, geht es weiter die klassische Passatroute über den Atlantik in die Karibik. Für diesen letzten Abschnitt werden sie drei Wochen brauchen. Die beiden sind aber nicht allein auf dem Meer. Per Funk sind sie mit einer Gemeinschaft von Fahrtenseglern verbunden, die im Rahmen einer Regatta dieselbe Route nehmen. Diese Gemeinschaft hat sie schon bei den Vorbereitungen unterstützt und das Boot in Augenschein genommen. Vor allem für Karen-Kristina ist das eine Beruhigung. Bernhard sagt, dass die lange Zeit auf dem offenen Meer gar nicht so aufregend, sondern fast langweilig ist; die Gefahren lauern eher in Küstennähe. Anstrengend sind nur die Nachtwachen, weil man alle 20 Minuten schauen muss, dass keine anderen Schiffe in die Quere kommen. Zwischendurch kann man sich zum Schlafen hinlegen. „Letztlich kommen acht Stunden Schlaf zusammen“, sagt Bernhard. Es gibt auch Schiffe, die nachts nur mit der Selbststeuerungsanlage fahren, und auf denen keine Nachtwache gemacht wird. Doch das hält Bernhard für zu gefährlich. Planmäßig erreichen sie mit den anderen Seglern ihr Ziel in der Karibik. Dass ihr Katamaran den 3. Platz errungen hat, können sie später in der Zeitung lesen. Nicht gesagt wurde, dass nur drei Katamarane teilgenommen haben... „Für die Karibik sind solche Regatten ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Es kommen dann etwa 200 Boote an und jedes ist mit mehreren Leuten besetzt.“

In der Karibik segeln die beiden von Insel zu Insel und lernen Land und Leute kennen. Aber sie bekommen auch Besuch von Freunden aus Deutschland, die von einem günstig gelegenen Flughafen abgeholt und später dort wieder hingebracht werden müssen. Da heißt es dann auf die eine oder andere Insel verzichten (was sie aber gerne für ihre Gäste tun). Nach einigen Monaten heißt es: Wie soll die Fahrt weitergehen? Durch den Panamakanal? Oder nach Venezuela, wo sie das Boot liegen lassen können, nach Berlin zurückfliegen und im nächsten Jahr ab dort weiter segeln könnten? Ein Anruf nach Hause in die Tischlerei führt zu einer anderen Entscheidung: Sie werden zurückkehren. In der Tischlerei gibt es Probleme. Den „Kindern“ fehlt noch die Erfahrung, und Bernhard muss unterstützen. Mit dem Boot segeln sie zu den Azoren, lassen das Schiff dort liegen und fliegen zurück nach Berlin.

Die Pläne der Weltumsegelung muss Bernhard zu den Akten legen. Er braucht mehr Zeit für die Firma, die inzwischen auf 25 Mitarbeiter angewachsen ist. Für’s Segeln reserviert er sich trotzdem im Frühjahr drei und im Herbst zwei Monate. „Dann segelten wir eben in Etappen“, sagt er. „Von den Azoren ging es nach Portugal und Spanien, dort überwinterte das Boot, im nächsten Jahr segelten wir über die Balearen und Sardinien nach Malta, ein Jahr später nach Griechenland und in die Türkei und im letzten Jahr vom Mittelmeer wieder zurück nach Deutschland.“ Diese letzte Etappe im Jahr 1998/99 übernimmt Bernhard allein, denn Karen-Kristina muss wieder arbeiten; sie hatte sich für drei Jahre beurlauben lassen. Für den Rückweg nimmt er den Weg über die Flüsse und Kanäle: ab Frankreich auf der Rhone, dann auf Kanäle, Mosel und Rhein,, durch den Mitteland- und Elbe-Seitenkanal bis zur Ostsee. Auf der Insel Poel findet das Schiff einen neuen Liegeplatz.

In den folgenden Jahren unternehmen Bernhard und Karen-Kristina jährlich mindestens eine große Segelreise. 2001 trennt sich Bernhard endgültig von der Tischlerei und übergibt sie seinen Kindern. Das Ehepaar segelt zunächst auf der Ostsee nach Schweden und Finnland (2000), dann über Norwegen und die Faroer Inseln nach Island (2001), schließlich von der Ostsee zur Nordsee nach England, wo sie in London Verwandte besuchen. Das Schiff überwintert in Holland (2002/03). Die nächste Reise führt von Holland durch den englischen Kanal,  an der französischen Küste der Biskaya entlang bis zur Grenze nach Spanien (2004) und von dort zurück nach Deutschland (2005).

Der Sommer 2004 in Frankreich ist unglaublich heiß und Bernhard empfindet die erbarmungslos brennende Sonne auf dem Meer plötzlich als Belastung. Auch stören ihn die Arbeiten am Boot – Putzen, Reparieren, Schleifen und Streichen – alles was ihn sonst zu Höchstleistungen herausgefordert hat, findet er auf einmal lästig. Es findet sich niemand, der ihm helfen könnte, wenn er das Boot in seinem Winterlager an der Ostsee in Ordnung bringen muss, obwohl es doch in der Region so viel Arbeitslose geben soll! Allmählich wird ihm klar, dass er keine Lust mehr hat und beschließt das Boot zum Kauf anzubieten. Dann bespricht er seinen Entschluss mit seiner Frau, die erleichtert zustimmt, denn sie war ja nie eine begeisterte Seglerin. Trotzdem haben sich die beiden auch auf See immer gut verstanden, wahrscheinlich weil sie ihre Arbeitsteilung niemals hinterfragten: Auf dem Boot ist Bernhard der Kapitän. Zu Hause hat sie das Sagen.

Bernhard rechnet damit, dass es eine Weile dauern wird, bis sich ein Käufer findet. Ein Katamaran ist schließlich eine große Investition. Den kommenden Sommer könnten sie noch nutzen, um – ohne Mast – gemütlich durch die Brandenburger Gewässer zu schippern. Doch es geht schneller als gedacht. Im Januar 2006 wird der Kaufvertrag besiegelt. Das Boot ist weg.

Die neue Aufgabe wartet längst: Es ist Neukölln beziehungsweise der Kiez, in dem Bernhard aufgewachsen ist und in dem er ein Mietshaus in der Emser Straße 117 besitzt. Das Haus gehört der Familie Thieß schon seit 1978, und die Hausverwaltung macht ihm eigentlich nur Ärger. Spätestens seit Ende der Neunziger Jahre ist es weit über die Grenzen Neuköllns hinaus bekannt, dass die Verhältnisse insbesondere in Nord-Neukölln zu kippen drohen. Zeitungen schreiben von der „Bronx von Berlin“ und prangern Verwahrlosung, Gewalt und Armut an. Der Spiegel redet von der „Endstation Neukölln“. Die Auswirkungen spürt auch Bernhard als Vermieter. In seinem Mietshaus wohnen zum Teil Mieter, die ihre Wohnungen vernachlässigen und nur zögerlich (oder auch gar nicht) die Miete zahlen. Bernhard hegt schon lange den Gedanken sich von dem Haus zu trennen.

Eines Tages im Jahr 2004 fällt ihm eine Zeitungsnotiz ins Auge: „Bürgerstiftung Neukölln in Gründung“. Da finden sich Menschen zusammen, die für Neukölln etwas tun wollen, um diese schwierigen Verhältnisse zu ändern! Bernhard und Karen-Kristina wollen mitmachen, nehmen Kontakt auf und gründen gemeinsam mit diesen engagierten Menschen die Bürgerstiftung Neukölln. Es sind Lehrer, Künstler, Unternehmer, Migrantenvereine, Mietergemeinschaften sowie Menschen aus Kirche, öffentlicher Verwaltung und Politik, die zu einem Fonds beitragen, auf dessen Basis Projekte organisiert werden. Man erhofft sich mehr Gemeinsamkeit und eine „bewusste Wahrnehmung der eigenen kulturellen Identität als Neuköllner Bürgerinnen und Bürger“, wie es damals der evangelische Superintendent formuliert.

Bernhard verkauft sein Haus also nicht. Er wird es instand setzen, modernisieren und einige Räume für kulturelle Veranstaltungen herrichten. So lässt er 2005 die Fassade reparieren und einen Leuchtturm darauf malen, der über alle fünf Geschosse reicht. Der Leuchtturm symbolisiert das Ende seiner Seeabenteuer und gleichzeitig den Neuköllner Aufbruch. Die den Leuchtturm umgebende Küstenlandschaft hat auch den Zweck Graffiti-Sprayer davon abzuhalten, die Fassade wieder zu beschmutzen. Das wirkt. Bis heute ist die Fassade unangetastet. Immer, wenn eine Wohnung frei wird, baut Bernhard eine Gasetagenheizung ein, saniert die Räume und das Bad. Er steckt viel Geld in die Immobilie. Jede modernisierte Wohnung kostet zwischen 20.000 und 30.000 Euro. Bei der Vermietung zieht er Künstlerinnen und Künstler vor, weil er weiß, dass sie es auf dem Wohnungsmarkt schwer haben und er deren Metier fördern möchte. Das ist sicher auch gut für den Kiez. Darauf gebracht hat ihn seine Frau, die nach der Phase des Segelns und ihrer Berufstätigkeit nun Malerin geworden ist. Inzwischen wird Fernwärme bis in die Emser Straße geliefert, und Bernhard wird künftig diese Wärmequelle nutzen.

Auch das Erdgeschoss wandelt er in eine einladende Etage um. Die eine Hälfte mietet die Bürgerstiftung für ihr Büro. In der anderen Hälfte entstehen Räume für Ausstellungen und Veranstaltungen. Ihm schwebt eine Art Begegnungszentrum vor. Zehn Jahre lang organisieren Bernhard und Karen-Kristina Thieß in ihrem Leuchtturm die unterschiedlichsten Veranstaltungen: Lesungen, Vorträge, Konzerte, Diskussionszirkel, Ausstellungen. Beide wirken auch als Künstler mit. Bernhard als Fotograf, Karen-Kristina als Malerin. Für ihre Hobbies haben sie jetzt mehr Zeit. Der Leuchtturm entwickelt sich in eine über den Kiez hinaus bekannte kulturelle Institution. Seit 2015 wollen sich Bernhard und Karen-Kristina etwas mehr Ruhe gönnen und vermieten die Räume je nach Bedarf für kulturelle oder soziale Zwecke, zum Beispiel auch an das „Erzählcafé im Körnerkiez“.