Samstag, 30. April 2016

13. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 14. April 2016

Sicher hat Susanne Werner den Körnerkiez lange nicht besucht. Als sie uns im Leuchtturm begrüßt, sagt sie, dass sie sich wie Zuhause fühle und ihr alles sehr bekannt vorkomme; andererseits sei auch vieles fremd, vor allem die renovierten Häuser und die vielen Autos. Früher haben sie doch auf der Straße gespielt... Und wo sich denn der Turm befände, daran könne sie sich gar nicht entsinnen. Sie meint den Neuköllner Leuchtturm und muss schallend lachen, als sie erfährt, dass der Turm nur ein Fassadenbild ist. Susanne Werner ist eine temperamentvolle, jung gebliebene Achtzigjährige, die am liebsten sofort mit ihrem Bericht beginnen möchte; aber es ist noch viel zu früh, und wir warten noch auf ein paar Zuhörer.

Susanne Werner hat im Herbst 2015 in der Berliner Woche einen Bericht über das geplante „Erzählcafé im Körnerkiez“ gelesen und sich daraufhin spontan beim Quartiersmanagement gemeldet. Sie ist im Körnerkiez aufgewachsen, kann sich noch an viele Einzelheiten erinnern und möchte ihre Erinnerungen gern weitergeben. Sobald der Historiker vom Museum Neukölln, Henning Holsten, davon erfuhr, fragte er sie nach früheren Fotos, die er für die Ausstellung „100 Jahre Körnerpark“ gebrauchen könnte. In ihrem Fotoalbum ist er tatsächlich fündig geworden, und nun sind drei Bilder mit der kleinen Susanne im Körnerpark in der Ausstellung zu sehen.
Für ein Vorgespräch besuchte ich Susanne Werner in ihrem kleinen Haus in Rudow. Es ist seit fast 50 Jahren ihr Lebensmittelpunkt, wo sie mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann und ihrem Sohn gelebt hat.


Susanne Werner: Über die Kriegs- und Nachkriegszeit im Körnerkiez

Susanne Werner, geborene Ebert, wird 1935 geboren. Sie wächst im Erdgeschoss des Eckhauses Selkestraße 1, Emser Straße 15 auf.  Zweieinhalb Jahre später kommt ihre Schwester zur Welt. Ihre Eltern sind streng, irgendwie können sie ihren Kindern keine Liebe geben. In dem Zimmer der Mädchen befindet sich ein Pult aus Holz, auf dem sie ihre Schularbeiten machen müssen. Ihr Vater schiebt ihnen einen Besenstil durch die Arme, damit sie gerade sitzen. Um nicht „herumzuhampeln“, werden sie angebunden. Ein Stunde lang muss Schönschrift geübt werden, dafür wird der Wecker gestellt. Vor dem Essen müssen sie ihre Hände vorzeigen und eine Schürze umbinden. Sind die Fingernägel schmutzig, bekommen die Kinder Kopfnüsse.

Susanne findet eine Erklärung in der Biografie ihres Vaters: Dessen Mutter war mit einem Argentinier verlobt, sie bekamen zwei uneheliche Kinder, und es war geplant, dass der Argentinier seine Verlobte und die Kinder mit nach Argentinien nimmt. Es kam aber nicht so weit, weil die Mutter der Verlobten nach einem Blitzschlag gelähmt war und von der Tochter verlangte, dass sie in Deutschland bleibt und sie pflegt. Die Mutter in einem Pflegeheim unterzubringen war damals undenkbar. Die Tochter gehorchte und gab die beiden Jungen in ein Waisenhaus. Dort wuchsen die Kinder unter harten Bedingungen auf, sie sollten  „Zucht und Ordnung“ lernen; d.h., bei den kleinsten Verfehlungen gab es harte Strafen und die Kinder wurden geschlagen. Susannes Vater hatte also als Kind nie erfahren was Liebe ist. Später konnte er studieren; das Stipendium verdiente er sich durch Wohlverhalten; er wurde Ingenieur und Statiker.
In der Familie der Mutter herrschte die leichte Muse, ihr Vater war Schauspieler. Doch das färbte wohl wenig auf die Tochter ab, denn sie war als Mutter genauso rigoros wie ihr Mann.  Vermutlich hatte sie das damals vorherrschende Rollenbild einer gehorsamen Ehefrau verinnerlicht. Immerhin hat sie einen Beruf erlernt; sie war Schneiderin.

Für eine weitere Erklärung könnten die schwierigen Zeiten dienen. Als Susanne vier Jahre alt ist, beginnt der Zweite Weltkrieg. Der Vater wird eingezogen und kommt in Kriegsgefangenschaft. Wieder zu Hause nach dem Krieg möchte er alles nachholen, was er versäumt hat und erzieht seine Töchter besonders streng. Lieber hätte er Söhne gehabt.

In der Schule ist es nicht besser. Auch dort müssen die Kinder gerade sitzen und bekommen Schläge. Susanne besucht die Mädchenschule in der Thomasstraße (heute Konrad-Agahd-Grundschule), die Jungenschule liegt gegenüber. Die Kinder haben einen Schulranzen mit einer Schiefertafel, an der Schwamm und  Lappen hängen, und einem Holzkasten, in der sich die Kreide befindet. Der Deckel des Kästchens lässt sich herausziehen und wird häufig benutzt, um den Kindern eins auf die Finger zu geben. Später schreiben die Kinder mit Feder und Tinte. In Kriegszeiten werden die Zeugnisse auf „Stullenpapier“ geschrieben, es gibt nicht anderes. An Stelle von Schulheften dienen die weißen Zeitungsränder zum Schreibenüben.

Die Ferien sind für Susanne trotzdem schön. Die Kinder toben im Körnerpark, im Stubenrauchpark oder auf der Straße, spielen Völkerball, Hopse, mit Murmeln oder einem Triesel. Es sind Spielsachen, die nichts kosten. Manchmal fährt ein Nachrichtenwagen durch die Straßen, um die Menschen über Lautsprecher zu informieren. Privatautos sieht man nur selten. Und Susanne hat außer der Straße einen weiteren Rückzugsort: die nahegelegene Wohnung der Oma in der Silbersteinstraße, wo es ihr gut geht und sie ein wenig Ruhe findet.

Gelegentlich darf sie eine Freundin und deren große Schwester zum BdM (Bund deutscher Mädel) begleiten, wo die Mädchen spielen und basteln dürfen.  Dort fühlt sie sich genauso wohl wie in der Hitlerjugend, wo Strümpfe für die Soldaten gestrickt und aus alten Bettlaken Tupfer für die Lazarette hergestellt werden. Bei der Hitlerjugend kann man im Bad des Olympiastadions Schwimmen lernen. Man muss aber über 10 Jahre alt sein. Das ist Susanne noch nicht und bleibt deshalb am Rand des Schwimmbeckens stehen. Plötzlich stellen sich alle anwesenden Kinder in einer Reihe auf und es nähert sich Adolf Hitler und streichelt die Kinder über den Kopf. Am Abend berichtet Susanne stolz den Eltern, was sie erlebt hat und wundert sich, warum ihre Geschichte gar keinen Anklang bei ihnen findet. Wie viele Neuköllner stehen Susannes Eltern Adolf Hitler distanziert gegenüber. Trotzdem ist der Vater in die Partei eingetreten, um als Statiker auch Arbeit zu bekommen. Dafür muss er nach dem Krieg zunächst als Schlosser arbeiten, bis er entnazifiziert wird.

Zwischen 1941 und 1944 werden Susanne und ihre Schwester zweimal für ein halbes Jahr verschickt, weil sie unterernährt sind. Einmal geht es nach Ostpreußen, einmal nach Schlesien. Wo und wann genau das war, weiß Susanne nicht mehr. In Schlesien werden die mit dem Zug ankommenden Kinder auf die Bauersfamilien verteilt. Der deftige Umgangston verunsichert Susanne. Zu Hause musste man mit Messer und Gabel essen und zur Begrüßung einen Knicks machen. Deshalb bringt man Susanne beim Lehrer unter, dessen Wohnhaus direkt an das Schulgebäude angrenzt. Alle Kinder des Dorfes werden gemeinsam in einem Klassenraum unterrichtet. Der Lehrer besitzt eine Ziege, die  gerade ein Junges warf, und Susanne bekommt die Aufgabe, sich um das Zicklein zu kümmern. Auf einer Postkarte an die Mutter schreibt sie begeistert über das Tier und vergisst dabei das Wichtigste: ihre Adresse mitzuteilen.

Im Krieg muss Susannes Mutter mit den beiden Töchtern allein klarkommen. Häufig ist Bombenalarm und die Familie muss in den Keller, dort verbringen sie viele Nächte. Die Mutter ist überfordert, und schlägt die Kinder bei den kleinsten Vergehen mit dem Rohrstock. Niemand kommt den Kindern zur Hilfe. Am Tag gehen sie zur Schule. Aber Unterricht findet kaum statt, dafür werden Appelle geübt. Die Fensterscheiben des Schulgebäudes sind zerbrochen. Der Winter ist bitterkalt, zum Heizen gibt es keine Kohle, die Kinder ziehen ihre Mäntel nicht mehr aus. Susannes Mutter freundet sich mit einem belgischen Zwangsarbeiter an, der im Lager an der Siegfriedstraße untergebracht ist, um an Hitlers gigantischer Nord-Südachse mitzubauen. Er kümmert sich auch ein wenig um die Kinder.

Ein traumatisches Erlebnis von vielen beginnt mit einer Luftmine, die das Haus trifft. Sie zerstört das Kinderzimmer; im Keller bricht der Kamin auseinander, so dass die Schutzsuchenden vom Ruß geschwärzt werden. Ein Obmann hilft die Steine wegzuräumen und wird dabei von einem Granatsplitter getroffen. Bevor der Mann im Keller verblutet, versuchen die Frauen das Blut mithilfe der Kissen aus Susannes Puppenwagen zu stillen. Susanne ist außer sich, dass sie nun kein Bettchen mehr für ihre  Puppen hat. (Noch heute hat sie wegen ihres „Egoismus“ ein schlechtes Gewissen.) Nach dem Luftminenangriff ist die Wohnung der Eberts unbewohnbar und sie leben fast nur noch im Keller, wo sie ihre Feldbetten aufgebaut haben.

Als die Russen 1945 Berlin erobern, fallen sie auch in den Körnerkiez ein. Sie kommen vom Güterbahnhof südlich der Feuerwehr und sichern sich Schnaps und Frauen. Das Eckhaus von Susanne liegt auf dem Weg. Die Russen dringen in den Keller ein und suchen sich in dem mit stinkenden Carbitlampen erleuchteten Raum ihre Frauen aus. Einen besonders brutalen Fall wird Susanne nie vergessen. Ein Russe nimmt sich immer wieder dieselbe junge Frau und zerbeißt ihr die Brust. Um sie ein wenig zu schützen wickeln die anderen Frauen sie in eine Decke ein und verstecken sie unter Susannes Pritsche. Susanne hört das Stöhnen der Frau und denkt sich, dass sie niemals eine Brust haben möchte. Später, als junges Mädchen, versucht sie ihren Busen zu verbergen und trägt auch im heißesten Sommer eine Strickjacke über ihrem Kleid. Die geschändete junge Frau und ihre Mutter stürzen sich eines Tages vom Balkon ihres Hauses.  

Einmal sieht Susanne einen hochrangigen Nazi, der an einer Straßenlaterne erhängt wurde. Bei dem war sie früher einmal eingeladen, um bei einer Hochzeit Blumen zu streuen! Es ist nicht der einzige Tote, den sie sieht. Die Leichen werden in Pappe eingewickelt und an den Straßenrand gelegt, bis sie abgeholt werden. Ein anderes Mal liegt ein toter Soldat im Hof, der mit seinem Fallschirm abgestürzt ist. Die Menschen reißen sich um die Fallschirmseide, um sich daraus Blusen zu schneidern, den Toten aber lassen sie liegen.

Nach dem Krieg versuchen die Menschen irgendwie zu überleben. In den kalten Wintern werden die Bäume im Körnerpark und auch im Stubenrauchpark abgeholzt, um damit die Öfen zu heizen. Wenn am ersten eines jeden Monats die Lebensmittelkarten ausgeteilt worden sind, bilden sich beim Kaufmann Schlingel lange Schlangen, weil die Menschen fürchten, dass schon am dritten des Monats alles ausverkauft ist. Auf dem Schwarzen Markt kostet ein Ei unglaubliche 15 Mark, ein Brot 80 Mark. Auch vor dem Kino „Apollo“ in der Karl-Marx-Straße, stehen die Menschen an, um sich eine Stunde Ablenkung vom Überlebenskampf zu gönnen. Daneben liegt das KJ-Kaufhaus, wo man die scheußliche Bleyle-Unterwäsche bekommen kann.

Die Kleidung ist alles andere als modisch. Die Kinder tragen die ihnen verhassten Leibchen, an die dicke Strümpfe angeknüpft werden. Wachsen die Kinder, werden die Träger verlängert. Werden die Schuhe zu klein, schneidet man die Kappen ab, so dass die Zehen herausschauen. Im Winter sollen Trainingshosen wärmen, die unten mit einem Gummizug abschließen und bei Eis und Schnee feucht und immer schwerer werden.

In der Not der frühen Nachkriegsjahre wird aus scheinbar Wertlosem immer noch etwas gewonnen. Kartoffelschalen werden gewaschen, gemahlen und dann zu Kartoffelpuffer gebraten; aus Brennnesseln oder Melde macht man Spinat, und der gebratene Euter einer Kuh, eine Rarität, kann wie ein Schnitzel schmecken. Manchmal spielt jemand im Hof Akkordeon, dann werfen die Menschen einen Groschen nach unten. Oder es kommt der Schalenmann, der ruft: „Brennholz für Kartoffelschalen“, und die Frauen liefern für ein wenig Holz den kostbaren Abfall ab. In Neukölln werden fast alle Häuser mit Einzelöfen beheizt. Müssen im Sommer Lebensmittel auch mal gekühlt werden, bringt der Eismann große Brocken Stangeneis, die in die Badewanne oder in einen Holzkühlschrank unter dem Küchenfenster gelegt werden. Aber nur wenige Mieter besitzen eine Badewanne. Ein Großteil der Wohnungen hat nur Außentoiletten, die über eine halbe Treppe zu erreichen sind.

Viele Bewohner feiern einmal im Jahr ein Hoffest, und wenn sogar ein Clown als „Onkel Pelle“ erscheint, ist die Freude der Kinder besonders groß. In den Ferien spielen die Kinder gemeinsam auf der Straße oder im Körnerpark. Dass jemand verreist, ist unvorstellbar. Manche haben jetzt Rollschuhe, die man an den Schuhen festschnallt. Die Kinder fühlen sich alle gleich. Süßigkeiten gibt es wenig, jedoch Brausepulver, das alle gern lecken und dann die gefärbte Zunge zeigen. Manchmal dürfen sich die Kinder ein Eis im Eisladen gegenüber von Musik Bading kaufen. Zu Weihnachten bekommen die Mädchen gebrauchte Puppen mit neu geschneiderten Anziehsachen, und die Kekse auf dem Weihnachtsteller sind abgezählt. Gibt es zu Hause etwas zu feiern, werden die Kinder mit einem Siphon in die Kneipe geschickt, um Bier zu holen. In der Schule wird eine Schulspeisung angeboten, die für Susanne oft die einzige warme Mahlzeit am Tag ist.

Während der Blockade Berlins 1948/49 halten sich die Kinder gern unter der Flugschneise zwischen den beiden großen Friedhöfen auf in der Hoffnung, dass die Amerikaner wie so oft aus dem Rosinenbomber ein paar Bonbons abwerfen. Aber die großen Jungen sind immer schneller, so dass die Mädchen nie etwas abbekommen. Spaß hat es trotzdem gemacht, meint Susanne.

Mit 15 Jahren wird Susanne aus der Schule entlassen und geht in die Lehre. Das Schulzeugnis ist gut, obwohl sie glaubt, nicht viel in der Schule gelernt zu haben. Vielleicht hat ihre Oma dazu beigetragen, denn sie hat der Lehrerin gelegentlich einen Blumenkohl oder ein paar Mohrrüben vom Hamstern in Zossen oder Mittenwalde mitgebracht. Susanne macht eine Ausbildung im Fach Kunstgewerbe beim Letteverein. Dort lernt  sie verschiedene kunsthandwerkliche Fertigungsmethoden wie Malerei, Handarbeiten, Metallarbeiten.

Die Ehe der Eltern übersteht die Nachkriegszeit nicht. Nach der Scheidung geht der Vater mit einer anderen Frau nach Wetter a.d. Ruhr, um wieder als Statiker zu arbeiten. Die Mutter heiratet den Schneidermeister aus der Selkestraße und zieht mit ihm an den Kottbusser Damm, wo er eine neue Werkstatt aufmacht. Die beiden Mädchen bleiben in der Wohnung und sind auf sich allein gestellt. Susanne ist 15, ihre Schwester 12 ½ Jahre alt. Ab und zu schaut die Mutter nach ihnen. Susanne bereitet häufig eine billige, dicke Erbsensuppe zu, die sie aus einer Erbswurst herstellt. Sobald Susanne ausgelernt hat, stellt der Vater seine Zahlungen ein mit der Begründung, er habe in demselben Alter allein für seinen Unterhalt sorgen müssen.

Mit 17 Jahren lernt Susanne ihren künftigen Ehemann kennen und wird herzlich in dessen Familie aufgenommen. Ihre Schwester hat ähnliches Glück und bekommt ebenfalls über ihren Freund und späteren Mann den ersehnten Familienanschluss. Susanne heiratet mit 21 Jahren; ein Jahr später wird ihr Sohn geboren. Die Schwester bekommt ebenfalls einen Sohn, und beide Familien kümmern sich gemeinsam um die Kinder. Der Schwiegervater der Schwester betreibt in Rudow auf einem eigenen Grundstück eine kleine Galvanikfabrik. Das Grundstück ist groß genug, dass er es um einige kleine Einfamilienhäuser erweitern kann. Er selbst, sein Sohn und Susannes Schwester wohnen bereits dort. So bietet er auch der jungen Familie Werner ein Haus zur Miete an, damit alle Familienmitglieder zusammen wohnen und sich gegenseitig unterstützen können. Zur Fabrik gehört auch eine Schlosserei. Dort erlernt Susanne das Schlosserhandwerk. Später übernimmt sie die Werkstatt und arbeitet 30 Jahre als Punktschweißerin.

Heute leben die beiden Schwestern noch immer in ihren Häusern. Sie sind inzwischen Witwen und helfen sich wie gewöhnlich gegenseitig. Ein- bis zweimal im Jahr machen sie gemeinsam eine schöne Reise in ein fremdes Land. Die Fabrik hat längst einen anderen Besitzer. Susanne engagiert sich in einer Gruppe der Kirchengemeinde. Sie liebt es Gedichte aufzusagen und schreibt kurze Texte. Sie ist ein fröhlicher Mensch, aber die traumatischen Erlebnisse in ihrer Kindheit kann sie nicht vergessen.




Samstag, 16. April 2016

12. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 28. März 2016

Am Mittwoch ruft mich Anneliese Gergs an: „Sie können sicher sein, ich werde morgen kommen.“ Ich bin erleichtert, denn noch vor ein paar Tagen fühlte sich die fast 86-Jährige nicht wohl. Schon einmal hatte sie absagen müssen.

Heute steht sie froh gestimmt im Leuchtturm vor mir und sieht mich mit wachen Augen an. Trotz der Krücken, die ihr das Laufen erleichtern, sieht man ihr das Alter nicht an. Unser Versammlungsraum füllt sich. Wir stellen uns wie immer vor, Anneliese Gergs nimmt es interessiert zur Kenntnis und legt dann mit ihrer Geschichte los.

Ich muss es vorwegnehmen: Sie berichtet stringent, konzentriert und ohne lange Pausen fast druckreif. Wir hören atemlos zu.


Anneliese Gergs: Bewohnerin des Ilsenhofs seit 1930

Der Ilsenhof in den 1930er-Jahren
Anneliese Gergs verbringt ihr ganzes Leben im Ilsenhof - mit einer Ausnahme: Während des Krieges hält sie sich drei Jahre im ehemaligen Westpreußen bei ihrer Großmutter auf. Der Ilsenhof ist eine 1928/29 nahe am Körnerpark erbaute Wohnanlage. Sie zählt zu den fortschrittlichen Wohnsiedlungen der 1920er-Jahre, die zur Linderung der Wohnungsnot, aber auch als Alternative zu den Mietskasernenvierteln der Gründerzeit errichtet wurden. Bauherr und Eigentümer ist die Berliner Baugenossenschaft. Nach der Fertigstellung des Ilsenhofs mit seinen 182 Wohnungen zählen Annelieses Eltern zu den ersten Nutzern.  

Annelieses Vater, geboren 1899, stammt aus Berlin-Kreuzberg. Er ist Schriftgießer. Dieser Beruf, bei dem man Buchstaben in Blei gießt, ist heute so gut wie ausgestorben. Ihre Mutter, geboren 1900, wächst in Westpreußen auf. Nach der Volksschule lernt sie Haus- und Landwirtschaft auf einem Gut. In den 1920er-Jahren geht sie nach Berlin und arbeitet als „Stütze der Hausfrau“ in verschiedenen bürgerlichen Haushalten. Die letzte Stelle hat sie beim Verleger Langenscheidt in Wannsee.

Die beiden lernen sich in den 1920er-Jahren kennen und heiraten 1928. Bis zur Fertigstellung des Ilsenhofs wohnen sie in Kreuzberg zur Untermiete, woran sie sich nicht gern erinnern. Im November 1929 können sie endlich im Ilsenhof Nr. 10 eine Eineinhalbzimmer-Wohnung beziehen, und im April 1930 wird Anneliese geboren. Für die 50 Quadratmeter große Wohnung ist 48,50 RM als Miete zu entrichten. Dieser Preis verändert sich nicht bis zur Währungsreform.

Die Miete wird persönlich beim Verwalter bezahlt. Anneliese ist eifrig darauf bedacht diese Aufgabe zu übernehmen. Mit dem Mietquittungsbuch in der Hand sucht sie den Verwalter auf. Das Geschäft wird in der Diele seiner Wohnung abgewickelt, wo ein großer Schreibtisch steht – immer mit einer Schüssel voller Schokoladenplätzchen...

Das Haus hat vier Stockwerke. Familie Gergs wohnt im 3. Stock. Im Dachgeschoss befindet sich die Waschküche mit dem Trockenboden, und für jede Mietpartei gibt es einen Verschlag für die Waschwannen. Wenn wieder Wäsche gewaschen werden muss ist das eine aufwändige Angelegenheit, die sich über mehrere Tage hinzieht. Die Benutzung der Waschküche ist beim Hauswart zu bestellen, und der Kupferkessel, in dem die Wäsche gewaschen wird, muss hinterher wieder blank geputzt werden, bis er goldgelb glänzt. Zum Trocknen wird die Wäsche auf dem Trockenboden aufgehängt. Dann werden die großen Stücke zusammengelegt und in das Seifengeschäft in der Jonasstraße getragen. Dort befindet sich eine Rolle, wo man die Wäsche für 50 Pfennige pro Stunde mangeln kann. Wie oft kommt Anneliese aus der Schule und sieht ihre Mutter schwitzend in der dampfenden Waschküche arbeiten.

Das ist angesichts der modernen Waschmaschinen, die heute jeder Haushalt besitzt, längst Geschichte. Aber auch das Leben im Kiez hat sich völlig verändert. Während man heute in einen entfernt gelegenen Supermarkt geht, wo man alles kaufen kann,  musste man früher verschiedene Geschäfte aufsuchen. Im Kiez gibt es noch in den 1950er-Jahren vier Bäcker, drei Fleischer, einen Kolonialwarenladen, ein Seifengeschäft und sogar  einen Kuhstall. Dieser befindet sich im Hinterhof der Jonasstraße 21. Anneliese wird dort oft mit einer Aluminiumkanne hingeschickt, um zwei Liter Milch zu holen. Besonders ihr Vater braucht regelmäßig Milch als Ausgleich für die Arbeit mit dem giftigen Blei.

Der Körnerkiez - ein Spielparadies
Auf den Straßen fahren so gut wie keine Autos. Deshalb ist die Gegend um den Körnerpark ein Spielparadies. Anneliese und die Nachbarskinder spielen auf der Straße Ball und Hopse, Einkriegen, Versteck, und für den Triesel nutzen sie die Plattenwege in der Ilsestraße. Wenn im Winter Schnee liegt, wird gerodelt oder eine Schlitterbahn angelegt. Die einzigen Fahrzeuge, die man ab und zu sieht, sind ein Leiterwagen und ein Motorrad. Der Leiterwagen wird von einem Mann gezogen, der eine Glocke läutet und ruft: „Brennholz für Kartoffelschalen“. Dann kommen die Leute aus ihren Häusern und geben ihre gesammelten Kartoffelschalen ab, um ein wenig Anmachholz für die Öfen entgegenzunehmen. Das Motorrad gehört einer Familie aus der Nr. 7. Jeden Sonntag machen die Eltern mit ihre Sohn Ausflüge, wobei die Erwachsenen auf das Motorrad steigen und der Sohn im Beiwagen Platz findet.

Natürlich spielen die Kinder auch im Körnerpark. Aber in den an der Jonasstraße liegenden Bereich, den Rosengarten, dürfen Kinder nur in Begleitung Erwachsener eintreten. Oben an der Jonasstraße gibt es einen Buddelplatz. Die Orangerie dient im Winter als Abstellraum für die Gartenmöbel und die eingetopften Bäume. Im Gebäudeteil, der an der Jonasstraße liegt, hat die Stadtbibliothek einen Lesesaal eingerichtet, den auch Kinder ab 10 Jahren besuchen dürfen. Anneliese, die noch jünger ist, macht sich einfach ein bisschen älter.

Schule in der Nazizeit
Im April 1936 wird Anneliese in die Mädchenschule an der Thomasstraße (die heutige Konrad-Agahd-Schule) eingeschult. Im ersten Jahr hat sie über dem Kleid eine Schürze zu tragen. Das gefällt ihr nicht, aber die Mutter überzeugt sie schließlich mit dem Argument, dass die Schürze einfacher zu waschen sei als das Kleid. Anneliese bekommt einen Schulranzen mit einer Schiefertafel; Schwamm und Griffel sind an einer Strippe festgebunden und baumeln aus dem Tornister. In der Schule lernt sie die Sütterlin-Schrift, erst 1940 wird die lateinische Schrift eingeführt. Im ersten Schuljahr schreiben die Kinder nur mit dem Griffel auf der Schiefertafel, die auf der einen Seite liniiert und auf der anderen mit Karos versehen ist. Erst im zweiten Schuljahr lernen die Kinder mit Tinte und Feder in ein Heft zu schreiben.

Anneliese hat in den vier Grundschuljahren nur eine einzige, wunderbare Lehrerin, die alle Fächer unterrichtet: Lesen, Schreiben, Rechnen, Heimatkunde, Singen, Religion und Sport. Obwohl die Schule nicht konfessionell ist, wird jeden Morgen gebetet. Die Lehrerin belastet die Kinder in keiner Weise mit nationalsozialistischer Ideologie. Vermutlich ist sie kein Parteimitglied, denn 1945 wird sie Rektorin einer anderen Neuköllner Schule. Sonst hätte sie das nicht werden können. Zu Ferienbeginn und Ferienende wird ein Fahnenappel auf dem Schulhof abgehalten, bei dem die Schüler beider angrenzender Lehranstalten, der Jungen- und der Mädchenschule, stramm stehen und den Worten des Rektors lauschen müssen. Das lange Stehen ist immer sehr anstrengend für Anneliese. Die Kinder singen die erste Strophe des Deutschlandliedes und das Horst-Wessel-Lied. Welchen Inhalt diese Lieder haben, wird nicht erläutert. Im Horst-Wessel-Lied heißt es beispielweise relativ kompliziert: „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im Geist in unseren Reihen mit.“ Was „Reaktion“ ist, versteht Anneliese nicht, und so singt sie nach der Phonetik mit und macht daraus „Drehaktion“.

An den 1. September 1939 erinnert sich Anneliese noch ganz genau.  Der Vater wurde schon eingezogen. In der Wohnküche läuft der Volksempfänger mit Marschmusik, und ihre Mutter sitzt auf einem Stuhl und weint. Die Neunjährige ist fassungslos und fragt: „Mutti, warum weinst du denn?“ Die Mutter, die schon den Ersten Weltkrieg mitgemacht hat, antwortet: „Kind, es ist Krieg!“ Anneliese: „Mutti, was ist Krieg?“  Das Wort hat Anneliese noch nie gehört, wie auch, es gibt doch noch kein Fernsehen wie heute.

Nach vier Jahren Volksschule soll Anneliese eine weiterführende Schule besuchen. Doch diese kostet Schulgeld. Sie wird für das Lyzeum vorgeschlagen, das würde 20 RM im Monat bedeuten; zu viel für Familie Gergs, wenn man bedenkt, dass die Miete kaum mehr als das Doppelte beträgt. Der Vater ist in Folge der Wirtschaftskrise von Kurzarbeit betroffen, so dass das Geld knapp ist. In der Volksschule hat Anneliese immer gebrauchte Bücher benutzt, um zu sparen. So wird sie ab 1940 für die nächsten zwei Jahre auf die Mittelschule im Richardkiez geschickt, wo nur 10 RM verlangt wird. Nur eine einzige Lehrerin ist ein Nazi. Sie unterrichtet ausgerechnet Geschichte und nervt durch übertriebenes Darlegen der Rassengesetze.

Mit 10 Jahren werden die Kinder in die Hitlerjugend aufgenommen. Die Schulen geben die Namen weiter, und die Kinder versammeln sich nachmittags in ihrem „Heim“.  In Neukölln ist es eine Parterrewohnung in der Glasower Straße, Ecke Hermannstraße. Während der Heimabende werden die Kinder mit nationalsozialistischem Gedankengut und Hitlers Biografie  vertraut gemacht; sie singen auch Wanderlieder. Jedes Jahr zu Hitlers Geburtstag marschieren sie durch Neukölln und versammeln sich in einer Schulaula, wo ein Lehrer eine markige Ansprache hält. Anneliese entspricht mit ihren rotblonden Zöpfen dem Bild des „deutschen Mädels“, aber seit ihrer frühen Kindheit  trägt sie winzige Ohrstecker. Daran nimmt die Jungmädelführerin Anstoß. Anneliese und auch andere Mädchen beugen sich und legen die Stecker ab. Aber Anneliese findet das unnötig. Nach der Besetzung Frankreichs 1940 werden die Schüler ins Kino abgeordnet, um einen Propagandafilm über den Feldzug im Westen anzusehen.

Annelieses Vater ist in keiner Partei Mitglied, und im Elternhaus gibt es eine sozialdemokratische Tradition. Der Onkel des Vaters ist Paul Löbe, der frühere Reichstagspräsident der Weimarer Republik. Die Eltern verbieten Anneliese bei den großen Nazi-Aufmärschen mitzumachen, und sie hat nichts dagegen. Deshalb hat sie nie Adolf Hitler zu Gesicht bekommen. Aber einer Nazi-Prominenz  begegnet sie: Goebbels. Ihr Vater hat sich 1939 als Soldat bei der Küchenarbeit an einer Konservendose verletzt und eine Blutvergiftung am Daumen zugezogen. Nach einer Operation im Lazarett, dem heutigen Wenckebachkrankenhaus, bleibt der Daumen steif, ein gutes Argument für ihn, kein Gewehr mehr bedienen zu müssen. Goebbels Frau Magda, eine fanatische Nationalsozialistin, arbeitet aus Propagandagründen zu dieser Zeit als Krankenschwester im Lazarett, und eines Tages, als Anneliese gerade ihren Vater besucht, betritt Goebbels mit seinen beiden älteren Kindern das Krankenhaus, um mit den Kriegsverletzten ein paar Worte zu wechseln. Annelieses Vater meint später, dass Magda Goebbels menschlich in Ordnung gewesen sei.

Im Ilsenhof leben nur wenige „echte“ Nazis. Neukölln ist traditionell ein Arbeiterbezirk, wo sich die Nazis mit ihrer Propaganda nur schlecht durchsetzen können. Anneliese spielt mit allen Kindern, auch mit denen eines hohen NS-Beamten. Ein Mitglied der NS-Frauenschaft versucht vergeblich Annelieses Mutter anzuwerben. Anneliese fällt auf, dass eine jüdische Familie plötzlich nicht mehr zu sehen ist. „Sie sind abgeholt“, sagen die Leute, und Anneliese versteht nicht. In der Nähe gibt es ein „Zigeunerlager“, das irgendwann verschwunden ist. Zum Alltag im Nationalsozialismus gehört, dass die Schulkinder im Rahmen der Winterhilfe mit einer Büchse Geld einsammeln müssen; Anneliese schämt sich immer ein wenig, weil sie sich wie eine Bettlerin fühlt. Manchmal suchen die Kinder auch Altpapier und Buntmetall zusammen. Während in Neukölln der Hitlergruß nicht so verbreitet ist, gehört es in Westpreußen dazu, dass man mit „Heil Hitler“ grüßt; Annelieses Vater zieht „Guten Tag“ vor und wird dafür manchmal komisch angesehen.

Erst später erfährt Anneliese, dass ein Vetter ihres Vaters, von Beruf Schriftsetzer, jüdische Nachbarn mit deutschen Pässen versorgt hat, damit sie ausreisen konnten. Ihm wurde der Prozess im Volksgerichtshof unter Freisler gemacht und er kam ins Zuchthaus. Das hat er überlebt, starb aber sehr bald nach dem Krieg. Zu den wenigen Berlinern, die in Yad Vashem geehrt werden, zählt ihr Onkel Erich Löbe; für Anneliese eine späte Genugtuung!

Der Bombenkrieg
Als ab 1940 der Bombenkrieg für die Menschen in der Stadt immer gefährlicher wird, beginnt die KLV: Kinderlandverschickung. Sie ist freiwillig. Die Ziele sind Ostpreußen, Österreich und die besetzte Tschechoslowakei. Die Schulen werden aufgelöst, Klassen zusammengelegt. Annelieses Eltern wollen nicht, dass ihre Tochter an der KLV teilnimmt, sondern sie lieber nach Westpreußen zu ihren Verwandten schicken. Anneliese fällt es schwer, sich aus der vertrauten Umgebung zu lösen, stimmt aber endlich zu. Schließlich kennt sie den Ort durch die regelmäßigen Aufenthalte in den Sommerferien. So verbringt sie von 1942 bis Januar 1945 drei idyllische Jahre in der Kleinstadt Flatow, die an der Bahnstrecke Berlin-Posen liegt und genießt die herrliche landschaftliche Umgebung mit Wald und vielen Seen.  Kein feindseliges Flugzeug verirrt sich in diese Gegend. Was bleibt, ist die Sorge um die Eltern in Berlin. Im Ort gibt es eine Oberschule für Jungen, die aber auch Mädchen aufnimmt. Der Umgangston ist rau. Schüler wie Schülerinnen werden mit dem Nachnamen angeredet. Erst als eine junge Lehrerin einführt, alle Schüler mit Vornamen anzusprechen, verbessert sich das Klima. Die Großmutter hat eine Gastwirtschaft, betreibt Landwirtschaft und hat Vieh. Anneliese gibt der Tochter eines Fleischers Nachhilfeunterricht und wird in Naturalien bezahlt. Sie leiden keine Not.

Trotz des Vetos der Eltern wird Anneliese Führerin bei den Jungmädeln und soll für die Bauerntöchter Heimabende organisieren. Doch diese müssen oft bei der Landwirtschaft helfen und haben (zum Glück) gar keine Zeit.

Im Herbst 1944 fällt wegen der nahenden Kriegsfront die Schule häufig aus. Die älteren  Schüler werden an die Oder geschickt, um Panzergräben zu bauen. Die jüngeren, zu denen Anneliese zählt, müssen zum Ernteeinsatz. Bis Weihnachten gibt es noch 14 Tage Unterricht. Nach den Weihnachtsferien ist die Schule bereits Lazarett. Annelieses Mutter lebt weiterhin in Berlin im Ilsenhof und ist zur Arbeit in den Chemiefabriken Riedel und  Schwartzkopff dienstverpflichtet. Sie besucht die Verwandten an den Wochenenden. Die Front ist schon zu hören als am 23. Januar 1945 Anneliese mit den Verwandten aus Flatow fliehen.

Nach zwei Tagen in verschieden Zügen kreuz und quer durch Pommern erreichen sie in der Nacht Berlin. Annelieses Verwandte erleben zum ersten Mal in ihrem Leben einen Fliegerangriff, und zwar den besonders schweren am 3. Februar 1945.  Ihre Tante ist  zu Tode erschrocken. Sie hat Haus und Hof verloren, aber ihr Leben will sie retten. Am nächsten Tag macht sie sich nach Wittenberg zu ihrem Bruder auf.

Kriegsende
Die Zeit bis zum Kriegsende ist geprägt durch Hamsterfahrten. Viele Berliner fahren in Richtung Osten an die Oder, bis die Front es nicht mehr möglich macht. Schulunterricht gibt es nicht mehr. Den April 1945 verbringen Anneliese und ihre Mutter überwiegend im Luftschutzkeller. Der Vater wird zum Volksturm eingezogen. (Der Deutsche Volksturm ist eine militärische Formation in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, der „alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren“ rekrutierte.) Bereits 1940, nach seiner Stationierung in Dänemark, wurde er aus der Wehrmacht entlassen. Danach verpflichtete man ihn zur Arbeit in einer Spandauer Rüstungsfabrik. Nun muss er sich an der Oberbaumbrücke melden. Aber er wird zurückgeschickt und erscheint nach zwei Tagen wieder zu Hause: Er hat sich nicht bei der Lebensmittelkartenstelle abgemeldet. Dieser Umstand hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Ist es der Bürokratie zu verdanken oder einem einsichtigen Vorgesetzten? Anneliese reißt ihm die Volkssturmbinde vom Arm und verbrennt sie im Ofen.

Am 25. April kommen die Russen nach Neukölln. Sie leuchten mit einer Taschenlampe in den Keller des Ilsenhofs und fragen nach deutschen Soldaten. Dann sind sie wieder weg. Glücklicherweise quartiert sich die russische Kommandantur, die für den Bezirk zuständig ist, in der Parterrewohnung Ilsenhof Nr. 10 ein. Damit fühlen sich Anneliese und die Menschen in den Kellern des Ilsenhofs sicher. Aber aus anderen Häusern hört man schreckliche Geschichten. Die Bäckersfrau berichtet über Vergewaltigungen in ihrem Haus in der Jonasstraße. Und im Nebenhaus hat sich der Luftschutzwart mit seiner ganzen Familie erhängt.

Schülerin in der frühen Nachkriegszeit
Am 8. Mai 1945 ist der Krieg vorbei. Die russischen Soldaten bauen im Ilsenhof ein Podest auf, um zu tanzen und zu feiern. Und schon am 1. Juni kann Anneliese, dank der russischen Organisation, wieder zur Schule gehen, obwohl die Fenster noch mit Pappen oder Brettern vernagelt sind. Sie geht jetzt in die 9. Klasse des Gymnasiums. Die Russen quartieren sich für die kommenden drei Wochen in einem Teil des Ilsenhofs ein, und die Mieter müssen zusammenrücken. Anneliese und ihre Mutter kommen bei Freunden in der Jonasstraße unter, der Vater kann bei einem Freund im nicht besetzten Teil des Ilsenhofs wohnen. Später erhalten sie eine Entschädigung für den übermäßigen Stromverbrauch durch die Russen in ihrer Wohnung.

Bis zum Abitur besucht Anneliese die Ernst-Abbe-Schule in der Sonnenallee. Der Unterricht findet im Hinterhaus statt, weil das Vorderhaus zu sehr beschädigt ist. Es herrscht Lehrermangel. Die Lehrer sind entweder sehr jung oder haben bereits die Pensionsgrenze überschritten, wie der 72-jährige Lateinlehrer. Auch wechseln sie Lehrer ständig, sobald wieder einer aus der Gefangenschaft zurückkommt und einsatzfähig ist. Wegen fehlender Fachräume sind die Bedingungen für den naturwissenschaftlichen Unterricht besonders schlecht. In der Anfangszeit gibt es keine Schulbücher. Und der Geschichtsunterricht ist von den alliierten Besatzungsmächten eine Zeit lang verboten worden. So werden bis zum Herbst 1945 viele deutsche Gedichte zum Thema Herbst und Frühling an die Tafel geschrieben und von den Schülern auswendig gelernt. Anneliese kann sie noch heute aufsagen.

Das Abiturjahr fällt in die Zeit der Blockade. Wegen des Mangels an Heizmaterial hat im Winter nur noch die Abiturklasse Unterricht. Ein eiserner Ofen wärmt den Klassenraum notdürftig, und die Schüler nutzen ihn, um ihre trockenen Brote darauf zu rösten. Strom gibt es nur für zwei Stunden am Tag und zu wechselnden Zeiten, auch in der Nacht. Dann steht die Mutter auf, um zu bügeln. Bei Stromsperre werden Petroleumlampen oder die stinkenden Carbitleuchten angezündet. Die Carbitlampen sind ausdauernder und verbreiten ein grünliches Licht. Die Schulklingel funktioniert dann nicht, und Anneliese, zur Schulsprecherin bestimmt, hat die Aufgabe, nach jeder Stunde durch das Haus zu gehen und das Ende der Stunde mit einer Handklingel anzukündigen. Das Amt des Schulsprechers wurde von den Alliierten eingeführt, um im Rahmen einer Schülermitverwaltung demokratische Strukturen aufzubauen. Um dieser Forderung zu genügen, betraut der Schulleiter zunächst Anneliese mit dem Amt. Später wird der Schulsprecher demokratisch gewählt.

Studentin an der Freien Universität Berlin
Im Sommer 1949 legt Anneliese ihr Abitur ab. Dass sie Lehrerin werden will, steht für sie schon lange fest. Sie bewirbt sich an der gerade gegründeten Freien Universität Berlin (FU) für Englisch und Geschichte und wird zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Anneliese bei einem Sommerlager auf der Pfaueninsel, das die Amerikaner für Jugendliche veranstalten. Wegen des guten Essens und der wunderbaren Landschaft ist das Sommerlager beliebt; Anneliese hat schon öfter teilgenommen. Es ist Sonntag, der 14. August 1949, und an diesem Tag finden die ersten Bundestagwahlen statt.  Doch Anneliese bekommt auf der Pfaueninsel nichts mit; dort gibt es keine Zeitungen. Am nächsten Tag begibt sie sich zur FU. Die Bewerber versammeln sich am Treffpunkt, beginnen sich zu unterhalten, und ein Student berichtet, wie die Bundestagswahlen ausgegangen sind. Dann wird Anneliese aufgerufen. In der Zulassungskommission sitzt neben den Professoren ein Studentenvertreter, der sie nach dem Ergebnis der Wahlen fragt. Sie kann die Frage „natürlich“ beantworten. Wie peinlich wäre es gewesen, wenn sie, die Geschichte studieren will, nicht Bescheid gewusst hätte!

Anneliese erhält die Zulassung und muss die Studiengebühren bezahlen, weil das Einkommen ihres Vaters ein wenig über dem Limit liegt, nach dem man von den Zahlungen befreit werden kann. Ein Stipendium gibt es deshalb ebenfalls nicht. So jobbt Anneliese einmal in der Woche freitags als Putzhilfe in Steglitz und ab und zu bei anderen Stellen, die sie über die „Heinzelmännchen“ bekommt. Von dem üblichen Stundenlohn in Höhe von 1 DM sind 10 Prozent an die „Heinzelmännchen“ abzugeben. Einmal hat sie das Glück einen Job für drei Wochen in der Adrema-Fabrik in Moabit zu ergattern. Damit verdient sie sich das Geld für einen ersehnten England-Aufenthalt. Ein internationales Erntelager in Yorkshire bietet ihr 1951 die Möglichkeit nach Großbritannien zu reisen. Für die Reisekosten muss sie selbst aufkommen, aber Unterkunft und Verpflegung sind frei. In England treffen junge Leute aus den verschiedensten Ländern zusammen und ernten im Akkord Kartoffeln, Möhren und Rüben. Sie verdienen 1 Pfund am Tag, das sind damals etwa 12 DM. Anneliese genießt die internationale Atmosphäre und den Austausch unter den jungen Leuten. An den Wochenenden macht sie mit einer Freundin per Anhalter Erkundungsfahrten durch  England. Und weil Neugier und Reiselust längst nicht befriedigt sind, verlängert sie ihren Aufenthalt nach der Ernte um ein halbes Semester. Die Uni in Berlin kann warten. Über die Kirche erhält sie die Verbindung zu einer Familie, die sie für zwei Wochen aufnimmt. Dann startet sie mit einer Freundin eine große Rundreise per Anhalter. Erst soll es nach Schottland gehen, zunächst über Aberdeen, Inverness nach Glasgow. Je weiter die beiden Frauen nach Norden vordringen, desto beschwerlicher wird das Fortkommen. Bauern nehmen sie von einem Dorf zum anderen mit. Es stürmt und schneit. Endlich hält ein Auto mit zwei Männern. Sie wollen die beiden Frauen bis Inverness mitnehmen. Aber die Jugendherberge dort hat geschlossen. Sie öffnet im Winter nur an den Wochenenden.  Die beiden Männer helfen eine Pension für die Tramperinnen zu finden. Sie selbst übernachten in einem Hotel. Am nächsten Morgen stellen sie sich als  Besitzer einer Schokoladenfabrik und dessen Mitarbeiter vor und laden sie zur Weiterfahrt nach Glasgow ein. Sie sind wohl auf Hamsterfahrt gewesen, denn der Kofferraum ist vollgepackt mit Eiern und anderen Lebensmitteln. In England gibt es zu dieser Zeit noch Lebensmittelkarten. Auf der Fahrt machen die heimatliebenden Schotten einem Umweg durch die Highlands, laden die jungen Frauen zum Essen ein und schließlich auch zum Übernachten in die Villa des Fabrikbesitzers, die er in einem Vorort von Glasgow mit seiner Schwester bewohnt. Am Abend sind die  Gastgeber zu einem Fest eingeladen und verabschieden sich im Kilt und Abendkleid. Die beiden Frauen bleiben allein in der Villa, dürfen Radio hören, das gerade einen Auftritt der Wiener Sängerknaben während ihrer England-Tour überträgt. Überwältigt von der Musik und der großzügigen Gastfreundschaft brechen sie in Tränen aus: Die Briten sind doch „unsere Feinde“ gewesen!

Endlich Lehrerin!
Nach dem Staatsexamen im Dezember 1954 gilt es sich bei den Schulämtern um eine Stelle zu bewerben. Anneliese kann eine Schwangerschaftsvertretung in einer Grundschule übernehmen, obwohl sie dafür eigentlich nicht ausgebildet ist. Es wird ein anstrengendes halbes Jahr. Im April 1955 beginnt die Referendarausbildung und Anneliese braucht eine Stelle in einer Oberschule. Das bedeutet: wieder Klinkenputzen bei den Schulämtern, wo man oft von oben herab behandelt wird. Ein Wilmersdorfer Schulrat mokiert sich zum Beispiel über Annelieses (dezent) geschminkte Lippen. Die Schulämter der Bezirke Reinickendorf, Wedding und Spandau meidet sie zunächst, weil die Entfernung zu ihrer Neuköllner Wohnung zu groß ist, wenn sie dort Lehrerin wäre. Doch dann wird ausgerechnet in Reinickendorf an der Bertha-von-Suttner-Oberschule eine Schwangerschaftsvertretung gebraucht. Anneliese bekommt die Stelle und bleibt 35 Jahre – bis zur Pensionierung - an dieser Schule. Da es für ihre Vorgängerin keine Teilzeitstelle gibt, hat diese auf die Rückkehr in die Schule verzichtet. Die Bertha-von-Suttner-Schule besitzt kein eigenes Schulgebäude und muss sich die Klassenräume mit einer anderen Schule teilen. Vier Jahre lang gibt es Schichtunterricht - abwechselnd eine Woche Unterricht am Vormittag, in der nächsten Woche am Nachmittag - bis sie 1960 ein neues eigenes Haus bekommt.

An der Schule gibt es mehrere „Ostklassen“. Diese Einrichtung ermöglicht Schülern aus Ost-Berlin das Abitur zu machen. Sie dürfen dort nicht die Oberschule besuchen, weil sie aus bürgerlichen Verhältnissen stammen; das Abitur ist in der DDR Arbeiterkindern vorbehalten. Mit dem Bau der Mauer 1961 werden die Ostklassen überflüssig. Einer von Annelieses Schülern ist Jan-Carl Raspe, der spätere RAF-Terrorist. Anneliese kennt ihn als ruhigen Schüler, der nichts von seinem späteren Werdegang ahnen lässt. Dass sein Leben 1977 mit einem Selbstmord im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim endet, beschäftigt sie noch lange.

Als am 13. August 1961 die Mauer gebaut wird, die Berlin endgültig teilt, befindet sich Anneliese gerade in England. Beunruhigt will sie ihre Eltern anrufen. Das funktioniert nur mithilfe einer Fernmeldevermittlung, die an diesem Tag überbelastet ist. Da sagt der Operator: „Honey, today everybody wants to telefone with West-Berlin“...  Anneliese weiß von einigen Kollegen und ehemaligen Schülern, dass sie sich seitdem als Fluchthelfer engagieren. Einer von ihnen, der Student Dieter Wohlfahrt, wird im Dezember 1961 an der Mauer zwischen Staaken und Spandau von der Grenzpolizei der DDR erschossen. Er war Schüler ihrer „Ostklasse“.

Ende der 1980er-Jahre geht Anneliese in den Ruhestand, nachdem sie noch 8 Jahre die Fachbereichsleitung in Englisch innehat. Ihr großes Hobby ist die Musik. Sie spielt Klavier, das sie als Zehnjährige zu lernen begann, und singt im Lauf ihres Lebens in verschiedenen großen Chören. Eine Familiengründung hat sich nicht ergeben, da es damals Mangels der Möglichkeit in Teilzeit zu arbeiten schwer war Beruf und Mutterschaft zu verbinden.











11. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 17. März 2016

Im Körnerkiez findet man an vielen Stellen die Kärtchen mit der Aufschrift: „Herr Steinle zeigt Neukölln“. Das macht neugierig (soll es ja auch). Herrn Steinle konnte ich einmal beobachten. Ich sah, wie er im Körnerpark, mit Schiebermütze und Sakko bekleidet, aus seiner Aktentasche eine riesige rote Plastik-Gerbera herauszieht und sie hoch hält, um seine Neukölln-Besucher um sich zu scharen. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn auch schwäbisch sprechen hören konnte, doch das weiß hier jeder, dass der Herr Steinle aus Schwaben kommt.

Reinhold Steinle muss es sich noch einmal überlegen, ob er beim Erzählcafé auftreten will. Doch dann sagt er zu -  unter einer Bedingung: über sich persönlich wird er nichts zum Besten geben.

Ein wenig wird er doch aus dem Nähkästchen plaudern, der Herr Steinle. Natürlich sprechen wir ihn auf seine schwäbische Herkunft an. Die Frage scheint ihm zum Halse herauszuhängen. Doch sehr bald wird deutlich, dass er aus der Not eine Tugend macht,  seine Herkunft zu seinem Markenzeichen stilisiert und sich außerdem zu einem „echten“ Neuköllner entwickelt hat.


Reinhold Steinle, Stadtführer Neukölln

Reinhold Steinle kommt vom Land, seine Eltern sind Bauern. Er wächst in Ilsfeld, Kreis Heilbronn, auf. Zu Berlin hat er noch keinen Bezug, trotzdem spielt Berlin (West) in Ilsfeld eine gewisse Rolle. Nämlich immer dann, wenn wieder ein junger Mann verschwunden ist. „Der ist nach Berlin gegangen“, sagen die Leute und dann sagen sie nichts mehr.  Sie interessieren sich nicht mehr dafür. Der junge Mann wird totgeschwiegen. Selbst der Spross des Bürgermeisters wird auf diese Weise vergessen.

Ein berühmter Sohn der Stadt ist Lothar Späth, der jetzt leider sehr krank ist. Reinholds Tante ging mit ihm in eine Klasse.  Sein Vater war der angesehene Chef vom Raiffeisenhaus. In seiner Jugend poussierte er mit einer reichen Müllerstochter. Die beiden wollten heiraten. Aber der Vater der Müllerstochter intervenierte: „Aus dem wird nichts.“ Als Späth dann Ministerpräsident wurde, konnte man ihn während einer Radiosendung anrufen. Das tat die Müllerstochter, und sie gratulierte ihm.

Mit 14 Jahren darf Reinhold allein nach Berlin (West) zur Funkausstellung fahren. Er nimmt den Reisebus, und sein Vater gibt ihm die erforderliche schriftliche Erlaubnis mit. Im Sommergarten am Funkturm erlebt er bei einer Live-Fernsehübertragung Hans Rosenthal, den er wegen seiner Sendung „Dalli-Dalli“ bewundert. Hans Rosenthal strahlt und brilliert. Dann werden die Kameras ausgestellt. Plötzlich ist Hans Rosenthal wie verwandelt. Er flucht, schimpft mit Kameramann und Tontechniker und nimmt keine Rücksicht auf das anwesende Publikum. Erneut auf Sendung wird das Schmierentheater fortgesetzt. Reinhold ist bitter enttäuscht: „Der ist ja nur nett und lustig, wenn die Kameras laufen!“ Auf der Funkausstellung  erblickt Reinhold auch Thomas Gottschalk, der damals noch ganz lange Haare hat. Doch der Clou des Ausflugs  nach Berlin ist ein Wortwechsel zwischen zwei etwa 10jährigen Steppkes, den Reinhard zufällig mithört: Fragt der eine: „Biste ooch een Berliner?“ Sagt der andere: „Klar, ick bin aus Neukölln!“

Obwohl diese Reise schon so lange her ist, hat Reinhold dieses „Schlüsselerlebnis“, wie er meint, nie vergessen. Eine andere einschneidende Erfahrung ist ein Besuch der Comburg nahe Schwäbisch Hall. Das ist eine Klosteranlage aus der Zeit der Benediktiner. In der Mitte befindet sich die barocke Stiftskirche St. Nikolaus, in der ein seltener romanischer Radleuchter hängt. Dieser stammt aus der Vorgängerkirche und interessiert Reinhold besonders. Reinhold und seine Begleiterin buchen eine Führung bei dem Besitzer des benachbarten Cafés, dem der Kirchenschlüssel anvertraut wurde. Dessen leiernder Vortrag ist derart lieblos und langweilig, dass sich Reinhold schwört: Sollte ich jemals eine Führung machen, dann niemals in einer solchen Art und Weise. Ich werde immer meine Emotionen mit einflechten.

Man muss vorsichtig sein, solche Wünsche auszusprechen, denn sie könnten ja in Erfüllung gehen, meint Reinhold Steinle und erzählt, dass er vor 20 Jahren nach Neukölln kam und eine Wohnung in der Schillerpromenade bezog. Unter ihm wohnt ein Mann mit einem unberechenbaren Lebenswandel und Begeisterung für Techno-Musik. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit lässt er seine Musikanlage laufen; so laut, dass Reinhold über ihm fast aus dem Bett fällt. Sechs Monate lang hält er es über dem aggressiven Mitbewohner aus. 2005 wirft er das Handtuch und zieht aus, nachdem er eine Wohnung in einem anderen Bezirk gefunden hat. Der Liebe zu Neukölln tut das keinen Abbruch.

Ein Jahr vor dem Auszug spricht ihn eine befreundete Künstlerin an, ob er nicht im Rahmen von „48 Stunden Neukölln“ eine Führung durch die beteiligten Galerien machen könnte. Eigentlich habe ich ja keine Ahnung, meint Reinhold und sagt trotzdem zu. Er informiert sich und erklärt dann einer Gruppe von fünf Besuchern, was sich die Künstler bei ihren Werken so gedacht haben und was er selbst dabei empfindet. Daraus entspinnt sich ein anregendes Gespräch in der Gruppe.  Jeder gibt einen Kommentar ab. Reinhold ist begeistert und spürt, dass er hier eine Begabung hat.

2008 beginnt er mit seinen Stadtführungen. Sein erstes Ziel ist der Richardkiez. Er verbringt viele Tage im Museum Neukölln, liest Bücher, Zeitschriften, spricht mit Leuten und häuft allmählich sein Wissen an. An der Historie eines Gebietes oder Hauses ist er immer interessiert. Daten und Fakten sind das Eine; das Andere, und  seiner Meinung nach viel Wichtigere, sind die Geschichten. Sie transportieren das Wissen und die Emotionen, so dass man sie besser im Gedächtnis behalten kann. Seine Führungen macht Reinhold auf Deutsch. An fremde Sprachen wagt er sich nicht. Einmal hat er Portugiesisch-Unterricht genommen, doch wenn er portugiesisch sprechen will, lachen die Leute über seine Aussprache.

2008 geht es also los. In der Berliner Woche erscheint ein einführender Artikel über Steinles künftige Stadtführungen, wo auch der erste Treffpunkt angegeben ist: die Villa Rixdorf. Niemand erscheint. Auch nicht am zweiten Termin. Beim dritten Termin findet sich ein älteres Neuköllner Ehepaar ein, das  erleben möchten, wie „der Schwabe“ die Führungen macht.

Werbung macht Reinhold Steinle mit seinen Karten, die er überall hinterlegt. Wie ein Kater „markiert“ er seinen Wirkungsradius. Einmal befindet er sich auf einer privaten Wanderung in Golm/Brandenburg, wo er in einem entlegenen Café ebenfalls ein paar Kärtchen auslegt. Diese werden ein paar Tage später von einem leitenden Mitarbeiter der Neuköllner Wirtschaftsförderung auf einer Radtour entdeckt. Beim nächsten Zusammentreffen in Neukölln ist dieser des Lobes voll angesichts der „hervorragenden PR-Maschinerie“.

Anfangs kommen Menschen aus den verschiedensten Bezirken zu Reinholds Führungen; die Nord-Neuköllner sind noch in der Minderheit. In den letzten beiden Jahren interessieren sich zunehmend Bewohner aus dem südlichen Neukölln für ihren Bezirk. Auch Touristen mehren sich, und Reinhold befürchtet, dass es eines Tages zu viele werden. Denn das kann das Zeichen einer bevorstehenden Aufwertung des Viertels bedeuten. Dann steigt die Nachfrage nach Wohnraum, alles wird teurer und die angestammten Mieter können hier nicht mehr wohnen bleiben. Im Körnerkiez können die Menschen noch immer ihre Miete bezahlen. Es gibt auch noch Bäcker, wo der Café 70 Cent oder 1 Euro kostet, nicht 2,10 Euro, wie im Reuterkiez. Neulich hat Reinhold dort 2,50 Euro für einen lauwarmen Kaffee bezahlt! Den konnte er nur auf Englisch bestellen. Reinhold glaubt nicht daran, dass sich die Neuhinzugezogenen gut integrieren. Im Comeniusgarten hat er ein großes Graffiti entdeckt. Das waren bestimmt Leute, die keinen Bezug dazu haben. Er hofft, dass  Wedding und Marzahn bald „hip“ werden, damit in Neukölln ein wenig Ruhe einkehrt. Andererseits macht es Spaß Touristen die Stadt zu erklären, weil sie neugierig und interessiert sind. Reinhold will gar nicht so viele Führungen machen. Eine am Tag reicht. Sonst nimmt er nicht mehr innerlich teil. Er will die Leute auch nicht mit so vielen Zahlen traktieren, denn sie können sich das alles gar nicht alles merken. Lieber erzählt er Geschichten.

Als Stadtführer muss man ein Gewerbe anmelden. Das erledigt Reinhold beim Amt in Schöneberg. In das Formular schreibt er: „Stadtführung Berlin“. Die zuständige Dame erkundigt sich, wo genau er denn Führungen anbiete. Reinhold antwortet: „In Neukölln.“ Ihre Reaktion, ihn von oben bis unten taxierend: „Was wollen Sie denn da zeigen?“ Reinhold zählt verschiedene Orte auf. „Und wer soll denn überhaupt kommen?“ So wie hier erlebt Reinhold bei zahlreichen Gelegenheiten, dass viele Berliner abschätzig über Neukölln reden. Der Rixdorfer Weihnachtsmarkt würde noch durchgehen. Dieses Vorurteil wird von der Presse noch geschürt. Im Spiegel zum Beispiel erschien ein Artikel mit dem Titel: „Endstation Neukölln“.

Doch es gibt auch erfreuliche Dinge. Jeden Mittwoch steigt Reinhold vom Neuköllner Info-Center aus mit Interessierten auf den Rathaus-Turm. Das läuft so recht und schlecht; viel verdienen kann er dabei nicht. Einmal tritt ein alter Mann in das Info-Center und sucht eigentlich das Sozialamt. Er sieht sich um, schaut auf die ausgestellten antiquarischen Bücher und schlägt eines auf. Dann zeigt er auf eine Seite und sagt: „Das bin ich als junger Mann.“ Es ist Klaus Feldmann, 80 Jahre, Sportler, Weltmeister im Kraftsport, Neuköllner von Kindheit an. Später besaß er ein Geschäft. Er hat Horst Buchholz noch gekannt. Bereitwillig posiert er für ein Foto, jedoch nicht bevor er sich sein Jackett angezogen hat. Reinhold erklärt ihn zum Ehrengast und lädt ihn zur nächsten Führung ein.

Nicht immer bereiten ihm seine Führungen nur Freude. Besonders dann, wenn er zum Berlin-Besuch angereisten Gymnasiasten Neukölln erklären soll.  Vorsichtshalber erkundigt sich Reinhold, was die Schüler sonst noch am Tag vorhaben. Wenn es dann zum Beispiel heißt, im Anschluss geht es in das Jüdische Museum, weiß er, es gibt noch Aufmerksamkeits-Kapazitäten. Schlimm ist es, wenn es sich um den letzten Programmpunkt des Tages handelt. Dann muss er die gelangweilten Gesichter der sonst so „wahnsinnig interessierten“ Gymnasiasten ertragen.

Versöhnt hat ihn neulich die Führung achtjähriger Schülerinnen und Schüler aus der Konrad-Agahd-Schule, bei der nicht ein einziges deutsches Kind dabei war. Die Kinder lernten das alte Rixdorf kennen, wo sie noch nie gewesen sind, obwohl ihre Schule nicht einmal zwei Kilometer entfernt davon liegt. Sie waren sehr aufmerksam, offen und wissbegierig und hielten konzentriert 1,5 Stunden durch, obwohl nur die Hälfte der Zeit veranschlagt war. Reinhold ist überzeugt: aus denen wird was. Auf die Frage, was denn das Schönste an dem Tag war, antwortete ein Junge: „Dass die Lehrerin bei Kutschen-Schöne dem Hund den Ball zugekickt hat.“ Reinhold war zugleich gerührt und begeistert.

Wenn Reinhold wieder eine neue Entdeckung machen kann, ist er glücklich. Woher stammt eigentlich das wunderbare Glasmosaik im Infocenter des Rathauses? Es wurde 1908 für den Rathausneubau bei Puhl & Wagner, einer berühmten Neuköllner Glaskunst-Fabrik, hergestellt. Als Hoflieferant Kaiser Wilhelms II. erhielt die Firma Puhl & Wagner umfangreiche Staatsaufträge und entwickelte sich in nur wenigen Jahren zum führenden Unternehmen in der Umsetzung von Glasmosaiken. 1914 fusionierte sie mit der Glasmalerei Gottfried Heinersdorff und öffnete sich der modernen Kunst. 1933 erhielt die Firma Staatsaufträge des NS-Regimes. In der Nachkriegszeit sicherte sie sich zahlreiche Aufträge beim Wiederaufbau. Nach dem Mauerbau nahm das Auftragsvolumen in Berlin (West)ab. 1969 musste das Unternehmen aufgeben. Die ursprüngliche Produktionsstätte lag von 1889 bis zur Jahrhundertwende in der Berliner Straße (heute Hermannstraße), nahe dem Hermannplatz. Dann brauchte die expandierende Firma mehr Platz und ließ sich von dem berühmten Architekten Franz Schwechten in der Kiefholzstraße in Rixdorf einen mächtigen Fabrikneubau mit vorgelagertem Verwaltungs- und Wohngebäude errichten. Leider wurde der Gebäudekomplex 1972 abgerissen. Heute würde er vielleicht von einer Institution wie dem Berghain genutzt werden. Der 30 Meter hohe Schornstein, gestaltet mit Glasmosaiken, war weithin sichtbar. Die Firma Puhl & Wagner hat  im Lauf von 80 Jahren Gebäude in Berlin und in aller Welt mit Glaskunst ausgestattet wie den Berliner Dom, den Grunewald-Turm, Berliner Stadtbäder, den Martin-Gropius-Bau, das Treptower Ehrenmal, das Stockholmer Stadthaus, das KdF-Schiff „Wilhelm Gustlow“, nach dem Zweiten Weltkrieg die Foyers des Schillertheaters und den Eingang des Schöneberger Rathauses und - als Kuriosum - das Schwimmbad in der Yacht von Aristoteles Onassis, dessen Boden man nach Ablassen des Wassers hydraulisch heben und somit in eine Tanzfläche verwandeln konnte. Reinhold fasziniert es die Geschichte einer Firma zu verfolgen, die verschiedene Stilepochen und politische Systeme überlebt und mit geprägt hat.

Eine weitere Neuköllner Entdeckung: Anita Berber (1899-1928), Skandale umwehende Nackttänzerin, die Amy Winhouse der 1920er-Jahre. Ihr Grab befand sich auf dem alten, heute stillgelegten St.-Thomas-Friedhof an der Hermannstraße. Sie faszinierte ihr Publikum durch Aufführungen wie: „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, spielte in zahlreichen Filmen mit, stand Modell für Otto Dix. Anita Berber wurde nur 29 Jahre alt, war mehrmals verheiratet, drogensüchtig und mit Männern wie mit Frauen liiert. Auf einer Tournee durch den Nahen Osten erkrankte sie schwer und konnte nur mithilfe von Spenden aus Berliner Künstlerkreisen zurückreisen. In der Zeit der Weimarer Republik war sie bekannt wie später Marlene Dietrich. Heute ist sie fast vergessen, gäbe es nicht Lotti Huber, die in dem Film „Anita – Tänze des Lasters“ von Rosa von Praunheim (1987) die Rolle der Anita Berber übernahm. Karl Lagerfeld soll Anita Berber wegen ihrer Eigenständigkeit und Unangepasstheit als eine der mutigsten Frauen ihrer Zeit bezeichnet haben. Im Museum Neukölln findet man nicht ein Foto von ihrem Grabstein, bedauert Reinhold. In der Zähringer Straße Nr. 13, wo sie mit Mutter, Großmutter und zwei Tanten in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, gibt es immerhin eine Gedenktafel.
(Siehe u.a.: Lothar Fischer, Anita Berber. Tanz zwischen Rausch und Tod. 1918-1928 in Berlin. Berlin 1996; sowie der Bildband von Lothar Fischer, Anita Berber. Königin der Nacht. Berlin 2004)

Bei seinen Recherchen ist Reinhold irgendwann auf  Engelbert Zaschka (1895-1955) gestoßen, einen Ingenieur und Erfinder, der aus Freiburg stammt und viele Jahre in der Selchower Straße nahe dem Tempelhofer Flugfeld gelebt hat. Zaschka zählt zu den ersten deutschen Hubschrauberpionieren und hat das Fliegen mit Muskelkraft ausprobiert. Auf dem Flughafengelände experimentierte er mit seinen selbst gebauten Fluggeräten. Seine Vision von Autostaus ließ ihn ein Faltauto konstruieren, das man zu drei Teilen zusammenklappen und wegtragen kann. Er besaß mehrere Patente und verfasste Schriften über das Wesen des Trag- und Hubschraubers. Kaum zu glauben, dass er auch Komponist von Unterhaltungsmusik war. 1928 schrieb er zum Beispiel den Schlager: „Wer hat denn bloß den Hering am Schlips mir festgemacht?“, hatte aber wenig Erfolg damit. Reinhold will mehr wissen und fragt beim Museum in Freiburg nach. Doch dort kennt man keinen Engelbert Zaschka und fügt hinzu: Übrigens, Freiburg habe genügend berühmte Männer und Frauen hervorgebracht.

Das Spektrum der Neuköllner Themen scheint unendlich zu sein. Besonders spannend findet Reinhold die Situation der Schulen in den 1920er-Jahren und erwähnt die Namen Kurt Löwenstein, von 1921 bis 1933 Stadtrat für Volksbildung in Neukölln, sowie Käte Frankenthal, 1928 Schulärztin in Neukölln, die sich für wichtige sozialistische Reformen eingesetzt haben. Sie unterstützten den Pädagogen Fritz Karsen, Direktor des Kaiser-Friedrich-Realgymnasiums, das in Karl-Marx-Schule umbenannt wurde, eine Einheitsschule mit moderner Erziehung, Schulspeisung und einkommensabhängige Schulgelder einzuführen. Durch den neuen Bildungsweg konnten auch Arbeiter das Abitur ablegen. Neukölln war damals führend bei der Schulreform, die in ihrer Fortschrittlichkeit bis heute nicht übertroffen wird.

Last not least muss noch unbedingt der Körnerpark genannt werden. Im Park-Café wird Reinhold eines Tages die Quittung einer Tangoband überreicht, die vor einigen Jahren dort auftrat, unterschrieben von „Annette Fischer, geb. Körner, Ur-Ur-Enkelin von Franz Körner“. Wie nett! Reinhold würde sie gern einmal kennenlernen. Franz Körner (1838-1911) ist der Erbauer des Körnerparks, ein reich gewordener Kiesgrubenbesitzer, der den Park angelegt und ihn später der Stadt übereignet hat. Sein Buch mit dem Titel: „Eine Fahrt ins Wunderland, Reisebilder aus dem Jahr 1904“ kann Reinhold unbedingt empfehlen. Ein Reprint ist im Museum Neukölln erhältlich.

Was Neukölln ausmacht, sind bestimmte Menschen, die etwas für den Bezirk oder ihren Kiez tun. Leute wie Franz Körner, Frau Dr. Kolland, die als Amtsleiterin 33 Jahre lang für die Kultur gekämpft hat, die Bürgerstiftung und viele andere, die sich für Neukölln einsetzen. So soll es bleiben, wünscht sich Reinhold, sein Neukölln soll nicht in der Masse der zugezogenen jungen Leute untergehen. Und er lädt ein ins Theater „Hotel Rixdorf“, wo er mit anderen Neuköllner*innen auftritt. Es liegt nahe dem Böhmischen Platz, der sich zurzeit durch den Einzug großer Gaststätten und edler Geschäfte sehr verändert. Das Theater gehört dem Schauspieler Artur Albrecht, der dort vor 10 Jahren in einem leer stehenden Laden das Puppentheater „Central Rixdorf“ eingerichtet hat. Jetzt ist der Platz chic, der Laden teurer, so dass die Theaterleute das Theater zu einem Fünf-Sterne-Hotel bestimmten und ihm den Namen „Hotel Rixdorf“ gaben. Reinhold braucht das Theater zum Ausleben. Eigentlich sei er ein schüchterner Mensch, meint er. Seine Erziehung verlief nach der Vorgabe: „Nur nicht auffallen, was könnten denn die Nachbarn sagen!“ Nun hat er erkannt, dass er auffallen kann und ist froh darüber. Seine Schauspielerkollegen sind Individualisten, dadurch gestalten sich die Inszenierungen manchmal kompliziert. Reinhold aber findet: „Das ist total schön.“
Und eines glaubt er tatsächlich: dass im Herzen jeder „Neuköllner“ ist.