Donnerstag, 17. Dezember 2015

6. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 17. Dezember 2015  - Frau Lucht sagt ab - Kaffeeklatsch

Vielleicht ist dieses Datum unglücklich gewählt. Es ist kurz vor Weihnachten. Viele sind mit Festvorbereitungen beschäftigt, andere machen ihren geschäftlichen Jahresabschluss, manche sind verreist. Zum Erzählcafé kommen nur wenige.  Frau Lucht, die Berichterstatterin des heutigen Nachmittags, hat abgesagt, weil sie krank ist. Doch die  fünf Anwesenden wollen bleiben und sich unterhalten. Sie haben noch nicht mal Lust sich eine der Geschichten anzuhören, die ich für alle Fälle zum Vorlesen bereit gelegt habe.

So wird es ein entspannter Quatschnachmittag, bei dem wir auch Neues erfahren und uns wieder ein wenig mehr kennenlernen. Viele Themen werden angetippt, aber, wie es so ist in einer solchen Runde: nichts wird vertieft behandelt. Doch wir sind fröhlich und genießen das Kaffeestündchen, bevor wir uns in die vorweihnachtliche Hektik verabschieden.

Donnerstag, 3. Dezember 2015

5. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Heute kommt eine nette kleine Runde zusammen. Wir sind 11 Personen und passen wunderbar um die vier zusammengestellten Couchtische. Wir gießen uns den Kaffee ein und Rainer Pomp, der im September die erste Stadtführung durch den Körnerkiez mit uns bestritten hat, beginnt mit seinem Bericht.

Die zu dem Text geplanten Bilder werden nachgereicht


Dr. Rainer Pomp - Historiker, Lehrer, engagierter Nachbar

Rainer Pomp, geboren 1960, stammt aus dem Badischen, er ist in St. Georgen im Schwarzwald, später in Ettlingen aufgewachsen. Seit seiner Jugend mag er es anderen etwas beizubringen. Vielleicht hat ihn sein Vater beeinflusst, denn er war Lehrer. Bereits als Schüler der 10. Klasse beteiligt sich Rainer an der im örtlichen katholischen Jugendverein angebotenen Hausaufgabenhilfe. Er unterrichtet die Kinder spanischer und italienischer Gastarbeiter, die seit den 1960er-Jahren in die Bundesrepublik eingewandert sind. Später kommen türkische Migranten nach Ettlingen, deren Kinder in der Schule ebenso Unterstützung brauchen. Rainer gibt die Nachhilfe ehrenamtlich, zunächst einmal, dann zweimal wöchentlich. Er macht es gern und bekommt viel zurück. Durch seine Schüler lernt er deren Familien kennen, er wird zu italienischen, spanischen und türkischen Festen eingeladen und gewinnt Einblicke in die Lebensgewohnheiten der Zugezogenen.

Nach seinem Abitur im Jahr 1979 plant er den Zivildienst abzuleisten, doch ein Anruf seines Bruders aus Berlin wirft sein Ziel über den Haufen: „Komm nach Berlin, in unserer Wohngemeinschaft wird ein Zimmer frei.“ So verbringt er den Sommer in Berlin, hofft aber noch immer auf die Einberufung zum Zivildienst.  Rainer nimmt sich dann ein Zimmer in einer anderen Wohngemeinschaft in Kreuzberg 61. Er beginnt ein Studium der Sozialpädagogik an der Freien Universität Berlin und wechselt nach zwei Semestern an die Technische Universität, in die die frühere Pädagogische Hochschule eingegliedert worden ist. Als er nach zwei Jahren noch immer nichts vom Kreiswehrersatzamt hört, meldet er sich in Berlin (West) mit dem 1. Wohnsitz an. Als Berliner ist er vom Militärdienst befreit. Und am Zivildienst ist er nicht mehr interessiert, denn es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich in Kriegszeiten um einen militärischen Ersatzdienst handelt.

Neben seinem Studium arbeitet Rainer in einem deutsch-türkischen Kindergarten in Kreuzberg SO 36. Dort lernt er junge Leute kennen, die ein Hausprojekt planen und ihm anbieten mitzumachen. Es handelt sich um ein altes Mietshaus in der Wrangelstraße, deren Mieter gemeinsam mit dem Eigentümer das Haus instandsetzen wollen. In den 1980er-Jahren gibt es in den West-Berliner Altbaugebieten viele heruntergekommene Häuser. Die Eigentümer spekulieren auf eine öffentliche Förderung, um sie günstig modernisieren und später teuer vermieten zu können. Oder sie finanzieren gleich eine Luxusmodernisierung. Um das zu verhindern werden viele Häuser besetzt. Später werden einige der besetzten Häuser mit staatlicher Unterstützung legalisiert, es gründen sich Hausvereine, die für die Instandsetzung und Modernisierung öffentliche Gelder erhalten. Im Fall des Hausprojekts Wrangelstraße läuft es etwas anders: Der Eigentümer will nun doch nicht gemeinsame Sache mit den Mietern machen und zieht sich zurück. Er bekomme keine Kredite, argumentiert er, deshalb sollen die Mieter, meistens Studenten, finanziell mit einsteigen. Als sich das als unrealistisch herausstellt, beschließt er das Haus zu verkaufen. Bevorzugte Käuferin ist eine reiche Münchener Architektenfirma, die teuer modernisieren möchte. Die Hausbewohner schließen sich zusammen, auch die Älteren machen jetzt mit, und verdeutlichen den Münchnern auf einer Hausversammlung, dass sie ihre Wohnungen nicht verlassen werden. Daraufhin machen die Münchner einen Rückzieher. Die Bewohner gründen einen Hausverein mit dem Ziel selbst das Haus zu kaufen – allerdings ohne eigenes Geld. Das Haus besteht aus Vorderhaus, Seitenflügel und zwei Quergebäuden und kostet ca. 440.000,00 DM. Nach langem Suchen findet sich eine Bank, die den noch fehlenden zweiten Kredit gewährt. Für die Instandsetzung und Modernisierung gibt es eine staatliche Förderung in Höhe von 800 DM pro Quadratmeter unter der Bedingung, dass 15 Prozent der Modernisierungsmaßnahmen in Eigenleistung durchgeführt werden. Das Konzept des Vereins ist es, dass das Haus Eigentum des Vereins ist und bleibt und nicht auf die einzelnen Mitglieder aufgeteilt wird, wie es zahlreiche andere Hausvereine gemacht haben. Wer dort wohnt, zahlt eine Miete, von der auch Kauf finanziert wird. Wer auszieht, kann kein Geld mitnehmen.

Das Haus wird von Grund auf instandgesetzt und modernisiert. Die einfacheren Arbeiten übernehmen die Bewohner selbst, um ihre „Muskelhypothek“ abzuarbeiten.  Rainer ist handwerklich begabt und lernt viel. Er wohnt  mit seiner Lebensgefährtin in einer WG. 1983 wird ein Sohn, 1984 eine Tochter und 1989 wieder ein Sohn geboren. Aber auch die Mitbewohner bekommen Kinder. In der Wohngemeinschaft leben zwischenzeitlich einmal 9 Erwachsene und 8 Kinder. Im ganzen Haus wohnen 20 bis 30 Kinder. Es ist das kinderreichste Haus der „Selbsthilfehäuser“. Neben den Bauarbeiten, der Haus- und Kinderarbeit, die Rainer sich mit seiner Partnerin teilt, und gelegentlichen Jobs hat Rainer noch vor sein Studium zu beenden.

Das Sozialpädagogik-Studium hat er aufgegeben, weil er weiß, dass so spannende Projekte wie in den 1970er-Jahren nicht mehr gefördert werden. Er sattelt um und studiert Geschichte. Das Fach hat ihn schon als Schüler fasziniert, und an der TU wird Sozialgeschichte gelehrt, das ihn besonders interessiert. 1990 schließt er das Studium ab mit einer Magisterarbeit über die Bauern in Baden während der Revolution 1918/19. Daran anschließend schreibt er seine Doktorarbeit über die Bauern und Großgrundbesitzer in Brandenburg während der Weimarer Republik und erklärt, warum sie schließlich mehrheitlich Nationalsozialisten wurden. Ein zweijähriges Forschungsstipendium sichert den Lebensunterhalt, doch die Arbeit dauert angesichts der zahlreichen Verpflichtungen viel länger; Rainer muss zwischendurch jobben. Zum Glück ist die Miete niedrig.

1999 trennt sich das Paar, und Rainer zieht in die Friedelstraße (zwei Jahre später in den Körnerkiez) nach Neukölln - trotz seiner Vorurteile. Dort sind die Mieten günstig, aber die Menschen? Sie seien prollig und gingen im Bademantel auf die Straße. Nachdem er zwei Wochen dort wohnt, begegnet er tatsächlich einem Mann im Bademantel. Doch dann nie wieder. Und er entdeckt die sympathische Seite des Neuköllners, dessen Offenheit und Ehrlichkeit. In Neukölln findet Rainer eine Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Puppentheater-Museum. Es ist eine ABM-Stelle für einen Historiker. Für das Archiv hat er den Bestand zu inventarisieren, der insgesamt aus mehr als 4.000 Puppen, tausenden Plakaten und Bühnenstücken und einem riesigen Fundus besteht. Eine ganz neue Welt erschließt sich ihm. Es ist das Puppentheater für Erwachsene, das ihn in seinen Bann zieht. Trotzdem sucht er nach zwei Jahren eine Veränderung und bekommt eine ABM-Stelle im Museum Neukölln, mit der er schon länger geliebäugelt hat. Dort ist er an Ausstellungen beteiligt, arbeitet im Archiv und beschäftigt sich mit der Neuköllner Geschichte in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Was Neukölln alles vorzuweisen hat! Neukölln war zum Beispiel bei den Reformbewegungen führend, sei es bei der Schulreform oder bei der Wohnungspolitik. Die Sozialhygiene war ein wichtiges Thema angesichts des dicht besiedelten Arbeiterwohngebietes. In Neukölln lebten viele Kommunisten, die  sich gegen die Vorherrschaft der Nazis zur Wehr setzten. Rainer vertieft sich in die Geschichte, kann eigene Texte veröffentlichen und hofft als regulärer Mitarbeiter übernommen zu werden. Denn ABM-Stellen sind zeitlich befristet. Und sie werden durch ein wesentlich ungünstigeres Programm ersetzt: MAE. Aus diesem Programm bietet das Museum Rainer eine neue Stelle an. Während seiner zweiten MAE-Stelle beschließt er, dann doch lieber selbstständig zu arbeiten.

Seit 2006 leistet Rainer neben der Museumstätigkeit ehrenamtlich Hausaufgabenhilfe. Diese Arbeit übernimmt er 2007 als Honorartätigkeit, allerdings reicht das nicht zum Leben. Deshalb beginnt er im Rahmen der Erwachsenenbildung MAE-Kräfte u.a. in Geschichte auszubilden, für ihn eine schöne und erfolgreiche Arbeit, auf die er gern zurückblickt. In verschiedenen Gruppen lässt er die Geschichte Neuköllns erarbeiten. Sie lesen die Texte des Schriftstellers Volker Kutscher, dessen Geschichten in der Weimarer Zeit spielen. Sie befassen sich mit dem Bau von Karstadt, organisieren Führungen durch das Haus, beschäftigen sich mit dem Bau des Flughafens Tempelhof, den Ringvereinen und dem politischen Widerstand. Nach zwei Jahren werden auch diese Gelder gestrichen. Rainer fordert, dass der Staat solche Stellen im 1. Arbeitsmarkt anbieten muss, und wenn es nur halbe Stellen sind, die aber ein bescheidenes Leben gewährleisten. Denn auch die Bildung für Erwachsene braucht Kontinuität.

Rainer findet seine neue Aufgabe beim „Bildungspaket Lernförderung“, das 2011 eingeführt wurde. Das Bildungspaket sieht vor, dass Kinder aus armen Familien einen Teil der Ausgaben für Nachhilfe, Sportvereine, Musikunterricht oder ein warmes Essen vom Staat erstattet bekommen. Rainer wird an der Lernförderung der Kinder in der Peter-Petersen-Grundschule, einer erfolgreichen Reformschule, beteiligt. Träger der Lernförderung ist das Nachbarschaftsheim Neukölln. Er wird einer Lehrerin zugeteilt, die ihm nicht nur die Defizite der Schüler vermittelt, sondern ihn auch in die fortschrittlichen Lehrmethoden einführt. Aufgrund der gewonnen Erfahrungen kann Rainer ab 2012 auch als Vertretungslehrer an der Peter-Petersen-Schule arbeiten. Für die Lernförderung aber fordert er, dass es feste Stellen geben muss für gut ausgebildete Nachhilfelehrer, um auch den Kindern eine langfristige Perspektive geben zu können.

Rainer ist längst davon überzeugt, dass der Lehrerberuf das richtige Ziel für ihn ist. Zurzeit gibt es die Möglichkeit als Quereinsteiger Lehrer zu werden. Doch für Historiker stehen die Chancen schlecht, weil es zu viel von ihnen gibt. Es sei denn, eine Schule verlangt ausdrücklich nach einer bestimmten Person. Zurzeit hat er eine Vertretungs-lehrer-Stelle an der Eduard-Möricke-Grundschule, einer normalen Brennpunktschule, deren Lehrmethoden sich erheblich von denen der Peter-Petersen-Schule unterscheiden. Doch auch dort werden neue Lernkonzepte eingeführt.

Entspannung findet Rainer in seinem Schrebergarten in Britz, den er seit fünf Jahren mit seiner neuen Lebenspartnerin unterhält. Das Gemüse, das sie dort anbauen, reicht fast für das ganze Jahr. Die Laube hat er eigenhändig um- und ausgebaut, dort kommen ihm  die Erfahrungen aus dem Kreuzberger Hausprojekt zugute. Seine drei Kinder gehen längst eigene Wege, ein Sohn wohnt allerdings noch immer in der Wrangelstraße.

Donnerstag, 19. November 2015

4. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 19. November 2015


Heute sind wir eine Runde mit 13 Gästen, eine angenehme Zahl. Ich habe mich für den kleinen Tisch entschieden. Jetzt geht das Vorbereiten schon wie am Schnürchen, aber ich finde die Thermoskannen nicht. Wir werden improvisieren. Veronika Hitpaß kommt rechtzeitig, um noch einen Moment nach der Schule zu verschnaufen. Dann legt sie in ihrer frischen und temperamentvollen Art los.



Veronika Hitpaß sitzt links auf dem Sofa

Veronika Hitpaß, evangelische Religionslehrerin an der Peter-Petersen-Schule

Veronika Hitpaß, Jahrgang 1953, wächst in Nordrhein-Westfalen auf, in einem Dorf nahe der holländischen Grenze. Ihr soziales Umfeld ist katholisch geprägt. Die gläubigen Eltern vermitteln Nächstenliebe und sind stets bereit Menschen in Not zu helfen. Der Vater ist Schuhmachermeister, die Mutter Hausfrau. Die Familie lebt bescheiden, empfindet sich aber nicht als arm. Veronika trägt ganz selbstverständlich die Kleider ihrer Cousinen und sogar die Schuhe ihrer älteren Brüder auf. Von den vier Kindern, drei Jungen, ein Mädchen, können die beiden jüngeren das Gymnasium besuchen, weil im Bundesland Nordrhein-Westfalen seit 1965 die Schulbücher kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Alle Kinder sollen die Chance haben das Abitur zu machen, so die offizielle Bildungspolitik. Die im Dorf  vorherrschende Frömmigkeit geht einher mit Freundlichkeit und Lebenslust. Veronikas Mutter hat 8 Schwestern und zwei Brüder. Verwandtschaftliche Zusammenkünfte sind große, fröhliche und unbeschwerte Runden; Veronika genießt es dabei zu sein. Sie verlebt eine glückliche, freie Kindheit auf dem Land. Die Kirche besucht sie regelmäßig. Mit 17 Jahren ändert sich ihre Haltung zur Kirche, sie empfindet es nun als Knechtung jeden Sonntag zur Messe zu gehen und auch noch beichten zu müssen. Für den Pfarrer im Beichtstuhl legt sie sich Dinge zurecht, die sich aber nicht wirklich zugetragen haben.

Nach dem Abitur zieht es sie zum Studium nach Berlin, weil dort ein junger Mann auf sie wartet.  Auch will sie mehr von der linken Studentenbewegung erfahren. Sie schreibt sich in das Fach Soziologie ein mit der Vorstellung, eines Tages in die Gesellschaft einzugreifen und dafür zu sorgen, dass es kein Unrecht mehr auf der Welt gibt. Sie ergänzt das Studium mit den Fächern Psychologie, Pädagogik und Politologie. Außerdem tritt sie zum Leidwesen ihrer Eltern aus der katholischen Kirche aus und engagiert sich politisch.

Neben dem Studium übernimmt sie eine Aufgabe in der Offenen Jugendarbeit und betreut in einem Reinickendorfer Jugendfreizeitheim schwierige, zum Teil schon vorbestrafte Jugendliche, um die sich sonst niemand kümmert. Zweimal wöchentlich von 18-22 Uhr beschäftigt sie sich mit ihnen; sie spielen Karten, sprechen miteinander oder sehen sich gemeinsam Filme an. Im Film „Die Faust in der Tasche“ von Max Willutzki (1978) haben sogar einige der Jugendlichen als Darsteller mitgespielt. Der Film analysiert die Situation arbeitsloser Jugendlichen und ihre Gewaltbereitschaft. Leider driftet später einer der Jugendlichen völlig ab und bringt einen Menschen um.

Veronika beschließt ihr Studium als Diplom-Soziologin, obwohl sie schon während der Studienzeit, vor allem bei der Arbeit mit den Reinickendorfer Jugendlichen, bemerkt hat, dass ihr die Pädagogik viel mehr liegt. Sie findet eine Stelle im Wedding, wo gerade ein Jugendladen eröffnet wurde, und arbeitet dort eineinhalb Jahre lang als Sozialarbeiterin mit Mädchen und Jungen aus dem Arbeitermilieu.

Dann wird beim evangelischen Kirchenkreis Kreuzberg eine Stelle in der Jugendeinrichtung „Die Wille“ frei, die man Veronika anbietet. Deswegen tritt sie in die evangelische Kirche ein, aber auch aus innerer Überzeugung. „Die Wille“ liegt in einem alten Mietshaus in einer einsamen und unwirtlichen Gegend nahe der Mauer und beherbergt eine Schüleretage und ein Jugendfreizeitzentrum. Veronika betreut Kinder mit Einschränkungen in ihren Lese- und Schreibfähigkeiten und unterstützt sie bei den Schularbeiten. Die Arbeit mit den Kindern macht ihr große Freude, so dass sie es jetzt sogar bereut keinen Pädagogik-Abschluss gemacht zu haben. Damals in der Abiturklasse wählten fast alle den Lehrerberuf; Veronika aber nicht; sie wollte sich wohl von ihren Mitschülern mit einer besonderen Berufswahl absetzen. 

Die Arbeit in der „Wille“ prägt Veronika entscheidend. Sie kooperiert mit den engagierten Kollegen und wirkt am umfassenden Bildungsprogramm für die Kinder und Jugendlichen mit. Neben dem Schularbeitszirkel werden Ausflüge unternommen, Feste gefeiert, Diskotheken besucht, sogar Reisen gemacht. Die Jugendlichen wohnen in der näheren Kreuzberger Umgebung. Die meisten stammen aus armen Familien. Selbst ein Ausflug an den Schlachtensee ist ein großes Ereignis, weil viele der Jugendlichen noch nicht einmal bis dorthin gekommen sind. In der „Wille“ werden sie in ihrem Fortkommen unterstützt, zum Beispiel bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Einmal begleitet Veronika die Jugendlichen auf einer Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz, die von der Aktion Sühnezeichen alljährlich organisiert wird. In Auschwitz leisten sie einen einwöchigen Friedensdienst ab, der aus Gartenarbeit am Vormittag sowie Gesprächen und Archivarbeit am Nachmittag besteht. Bei einem Gespräch mit einem ehemaligen Insassen bemerken sie dessen eingravierte Nummer auf dem Arm. Ebenfalls beeindruckend ist die Aufgabe, allein in einer der Baracken, die mit Schuhen ehemaliger Häftlinge vollgestellt ist, zwei Stunden zu verweilen und dort die Schuhe zu reinigen. Plötzlich ist man für sich und kann die Eindrücke sacken lassen. Veronika wird klar, dass man konkret etwas tun muss, damit nie wieder ein solches Unrecht passiert.

Wieder zurück in Kreuzberg denkt Veronika erneut darüber nach, wie sie doch noch Pädagogin werden könnte. Sie trifft eine Freundin, die ihr erzählt, dass sie an einer Ausbildung zur evangelischen Religionslehrerin teilnimmt. Ob das auch etwas für sie wäre? Veronika informiert sich, bewirbt sich, wird genommen und beginnt ein sehr intensives berufsbegleitendes Studium. Sie lernt die Bibel unter kritischen und historischen Aspekten kennen und befasst sich erneut mit Didaktik, Pädagogik und Psychologie. Gleichzeitig gibt sie an der Karl-Weise-Schule Religionsunterricht. Das Studium gibt ihr auch die Möglichkeit über ihre Haltung als Christin nachzudenken. Nach bestandener Prüfung darf sie bis zur 13. Klasse unterrichten.

Veronika zieht die Grundschule vor und wird an der Karl-Weise-Schule in Nord-Neukölln angestellt. Dort herrscht ein Schulleben mit harten Bedingungen. In einer Klasse gibt es höchstens 4 oder 5 Kinder ohne Migrationshintergrund. Die Lehrer versuchen alles, um trotz der schwierigen Situation eine gute Arbeit zu machen. Veronika kann die Kinder nicht disziplinieren, die Kinder kriechen unter die Tische, benutzen schmutzige Schimpfwörter oder rennen aus der Klasse. Die evangelische Seminarleiterin schüttelt nur den Kopf, sie kann es sich einfach nicht vorstellen, mit welchen Verhältnissen Lehrer in Neukölln konfrontiert sind. Veronika lernt, dass man die Ausbildungsinhalte nicht einfach abspulen kann, sondern sich immer wieder neu auf die Kinder beziehen muss.

Nach einigen schwierigen Jahren an der Karl-Weise-Schule wechselt Veronika an die Matthias-Claudius-Schule im Süden Neuköllns und an die Hugo-Heimann-Schule in der Gropiusstadt. Dort ist der Unterricht nicht weniger problematisch. An der Matthias-Claudius-Schule lernen zu dieser Zeit viele Kinder aus der bürgerlichen Mittelschicht in großen Klassen, und manchmal findet auch der Religionsunterricht in großer Besetzung statt. Die Hugo-Heimann-Schule dagegen ist eine harte Kiezschule mit einem allerdings sehr bemühten Kollegium. Doch in beiden Schulen ist jeder Lehrer weitgehend auf sich gestellt. Es gibt weder eine Koordination noch Absprachen im pädagogischen Profil. Veronika hat kaum noch Kraft und trägt sich mit dem Gedanken aufzugeben.

Gelegentlich besucht Veronika andere Religionslehrer in ihrem Unterricht. Begeistert ist sie von den Stunden in der Peter-Petersen-Schule. So also kann auch der Unterricht vonstatten gehen, denkt sie und bittet den Kollegen ihr Bescheid zu sagen, wenn er aus Altersgründen die Schule verlässt. Eines Tages wird sie tatsächlich angerufen: Hast du Interesse an meiner Stelle? Nach einem langen Gespräch mit dem scheidenden Kollegen steht für sie fest, dass sie künftig an der Peter-Petersen-Schule unterrichten möchte. Diese Schule hat ein besonderes pädagogisches Profil: jahrgangsübergreifender Unterricht, Teamarbeit, Projektarbeit, Einbeziehung der Eltern. Manche Interessenten fürchten eine zu große Belastung und nehmen ihre Bewerbung zurück. Der Direktor der Matthias-Claudius-Schule warnt sie, als sie ihm ihre Entscheidung mitteilt. Aber Veronika, die diese Stelle wirklich bekommt, hat ihren Entschluss bis heute nicht bereut.

Veronika gestaltet den evangelischen Religionsunterricht vielfältig. Man muss bedenken, dass die Kinder nur zwei Stunden Religion in der Woche haben. Auf der Internetseite der Peter-Petersen-Schule hat Veronika den Inhalt ihres Unterrichts dargestellt. Wichtig sind zum Beispiel die „Themen des Lebens“ wie Streit und Versöhnung. Einmal war Ruth Recknagel zu Gast, eine Halbjüdin, die in der nahe gelegenen Emser Straße gewohnt hat. Anschließend konnten die Kinder ihre Eindrücke auf vielfältige Weise bearbeiten, darüber schreiben, ein Bild malen, darüber berichten. Ein Projekt ist die Patenschaft für Stolpersteine. Wenn die Kinder möchten, können sie die Steine putzen, damit sie wieder glänzen und auffallen. Die Peter-Petersen-Schule hat einen Stein vor dem Haus Jonasstraße 66 gestiftet, weil ihr Standort sich in derselben Straße befindet. Dort wohnte Liselotte Ascher, eine Jüdin, die von den Nazis ermordet wurde. Veronika will über die sinnliche Erfahrung mit den Steinen den Kindern die Geschichte nahebringen und bestimmte Fragen vertiefen: Was ist Jude, was ist Christ? Darf ein Staat Menschen umbringen? Wohin führt Gewalt? 

Auch schließt der evangelische Religionsunterricht die Beteiligung am schulischen Umwelt-Projekt ein: „Wir halten unseren Kiez sauber“. Zwei- bis dreimal jährlich können die Kinder verantwortungsbewusste „Kehrenbürger“ sein und Straßen und Körnerpark von Schmutz und Abfall befreien. Natürlich gibt es auch eine Zusammenarbeit mit dem katholischen Religionslehrer und den muslimischen Religionslehrerinnen. Einmal im Jahr besuchen alle Schüler gemeinsam die Gotteshäuser der verschiedenen Religionen. Sie besichtigen eine Synagoge, eine Moschee und eine christliche Kirche, entdecken die Unterschiede, stellen Fragen und lernen von ihren Mitschülern, die oft nur wenig wissen, über die jeweils andere Religion. Das übt den anderen zu respektieren. Das Erntedankfest wird ebenfalls gemeinsam gefeiert.

Die Kinder wenden sich oft mit Lebensfragen an Veronika. Manchmal schwingen Vorurteile oder Unkenntnis mit. Veronika steht ihnen Rede und Antwort und muss manche kindlichen Aussagen korrigieren. Darin sieht sie eine wichtige Aufgabe.

Veronika ist jetzt 62 Jahre alt und glücklich darüber, dass sie den letzten Teil ihres beruflichen Weges an der Peter-Petersen-Schule absolvieren kann, wo sie sich angenommen fühlt und miterlebt, wie die Kinder in einer konstruktiven Lernumwelt Fortschritte machen und sich zu freien, solidarischen Menschen entwickeln können.

Donnerstag, 5. November 2015

3. Erzählcafé im Körnerkiez

Do, 5. November 2015


Heute werden wohl nicht ganz so viele kommen, einige hatten abgesagt, so dass ich eine kleinere Tischrunde ausprobieren möchte. Dann brauche ich nicht die schweren Holzplatten zu schleppen. Ich stelle vier Couchtische zu einem Quadrat zusammen und umrahme sie mit dem üppigen Ledersofa, dem Sessel und einigen Stühlen. Sieht auch ganz nett aus. Es folgt das zur Routine werdende Kaffeekochen, Geschirr auftragen und Kekse arrangieren.
Wir sind tatsächlich eine kleine Gruppe mit 11 Gästen, eine angenehme Größe für ein Gespräch. Marianne Pyrczek lässt uns zunächst an ihrer Beobachtung des Kiezes und seiner Entwicklung teilhaben, bevor sie über sich berichtet. Zwischendurch gibt es immer wieder Kommentare, die ich manchmal als störend empfinde, weil sie den Redefluss von Marianne Pyrczek unterbrechen. Beim nächsten Mal sollten wir uns mit Zwischenbemerkungen zurückhalten und uns lieber im Anschluss gemeinsam unterhalten. Zum Schluss kehrt noch einmal Ruhe ein, als Christel Lucht eine ihrer kurzen Geschichten vorliest.



Marianne Pyrczek, engagierte Nachbarin

1. Der Körnerkiez im Wandel

Marianne Pyrczek lebt seit ihrer Kindheit - mit einigen Unterbrechungen - im Körnerkiez und dort in ein und demselben Haus. Seitdem beobachtet sie, wie sich der Kiez verändert. Um 1900 kamen viele Arbeitskräfte nach Rixdorf und wohnten meistens beengt in eilig hochgezogenen Mietshäusern, mit Gemeinschaftstoiletten auf halber Treppe und Ofenheizung. So auch Mariannes Vorfahren, die aus Polen kamen. Das Haus von Marianne Pyrczek wurde 1900 erbaut und liegt im östlichen Teil der Jonasstraße, der mit den auffallend geschmackvollen Hausfassaden zu den schönen Ecken des Kiezes zählt. Das benachbarte Gebäude ist das einstige Domizil des Kiesgrubenbesitzers Franz Körner, Urheber des nach ihm benannten kleinen Parks mitten im Quartier. Ursprünglich war das Körnerhaus von einer Kiesgrube umgeben, den Körner in einen großen Garten umwandeln ließ. Ende der 1920er-Jahre verkauften dessen Erben das Gelände an eine Wohnungsbaugesellschaft, die dort Wohnhäuser errichtete. 

Glücklicherweise ist Neukölln im Zweiten Weltkrieg wenig zerstört worden. Die Eigentümer beschädigter Häuser, oft wohlhabende Handwerker oder Gewerbetreibende, konnten Hypotheken aus dem Wiederaufbauprogramm aufnehmen. Mit dem Geld ließen sie häufig den beschädigten Stuck abschlagen und die nun glatten Fassaden mit dem scheußlichen Kratzputz versehen. Da der Wohnraum knapp war, erließ der Senat eine Mietpreisbindung, die den Eigentümern wenig Möglichkeit für eine grundlegende Modernisierung der Gebäude bot. Damals wurden viele Häuser verkauft. 1988 wurde die Mietpreisbindung aufgehoben. Bis zur Wende 1989/90 blieb die Mieterstruktur stabil, dann aber setzte eine riesige Umzugswelle ein. Die Gutverdienenden suchten sich ein Einfamilienhaus im Umland; die Nachziehenden gehörten jedoch zu den unteren sozialen Schichten. Nach Neukölln zog man nur notgedrungen. Neukölln lag in der Einflugschneise des Flughafens Tempelhof, die Bewohner waren eher arm, Teile des Bezirks machten einen vernachlässigten Eindruck. Zogen viele Ausländer in ein Haus, wurde es den Alteingesessenen zu unruhig und sie wechselten die Wohnung. Seitdem Künstler etwa ab 2010 Neukölln entdecken, kommen auch Studenten, die in den großen Altbauwohnungen in Wohngemeinschaften leben. Dadurch steigen jetzt die Mieten, die sich die letzten Alteingesessenen nicht mehr leisten können. Dennoch zeichnen sich auch viele Verbesserungen ab. Neue Galerien und Cafés, aber auch liebevoll hergerichtete Wohnhäuser bereichern das Viertel. 


2. Marianne Pyrczek, ein Leben im Körnerkiez

Marianne und ihr Vater
auf der großen Treppe
zum Körnerpark
Marianne und ihre
Mutter im Körnerpark
1952 zieht Großmutter Pyrczek mit ihrem Sohn von Mitte nach Neukölln. Nahe der Stalinallee (heute Frankfurter Allee) besaßen sie ein Blumengeschäft, das wegen umfangreicher Baumaßnahmen seine Laufkundschaft verlor. In NeukölIn bauen sich die beiden eine neue Existenz auf. In der Hermannstraße eröffnen sie einen neuen, großen Laden mit zwei Schaufenstern und nennen ihn „Blumendienst“. Der Sohn heiratet. Das Paar bekommt zwei Mädchen.

Marianne mit ihrer kleinen
Schwester im Körnerpark
Marianne Pyrczek und ihre Schwester wachsen in der Jonasstraße auf. Marianne besucht den Kindergarten „Kleiner Prinz“ in der Schierker Straße; die erste Klasse absolviert sie in der Peter-Petersen-Schule. Danach wechselt sie auf die evangelische Schule, wo sie 10 Jahre lang eine gute humanistische Ausbildung genießt. Bestimmend in Mariannes Jugend aber ist das Blumengeschäft. Die Arbeit dort hat Vorrang vor allen Vergnügungen und Freundschaften. Im Laden arbeiten die Großmutter, die Eltern und  angestellte Blumenbinderinnen. Nach der Schule helfen die Kinder. Zeit für Schularbeiten findet sich erst am Abend zu Hause. Manchmal geht es danach noch weiter. Das in Kisten bereitstehende Islandmoos muss für die Gestecke vorbereitet und angedrahtet werden. Trotz aller Pflichten ist Marianne eine sehr gute Schülerin. Deshalb wird in der Schule ein Auge zugedrückt, wenn wieder einmal auf dem Entschuldigungszettel zu lesen ist, dass Marianne dem Unterricht fernbleiben muss, weil im Laden so viel zu tun ist. 

Im Kindergarten „Kleiner Prinz“
Eine schwierige Zeit beginnt für Marianne, als sie nach der 10. Klasse das Gymnasium besucht. Dass sie Abitur machen will, hat sie zu Hause durchgesetzt. Ihr Vater hätte es gerne gesehen, wenn sie den Blumenladen übernimmt. Sie könne doch schon alles, betont er. Marianne hat sich für eine Schule in Tiergarten entschieden, die Kunst und Chemie als Leistungskurse anbietet. Die Umstellung ist hart: der weite Weg, das Kurssystem, die angestammten Gymnasiasten. Marianne fühlt sich nicht wohl und bleibt Außenseiterin. Für neue Freundschaften hat sie keine Zeit. 1971 stirbt der Vater und alles wird noch schwerer. Marianne arbeitet weiter im Blumenladen. Aber es zeichnet sich ab, dass Blumen nicht mehr etwas Besonderes bedeuten, sondern zur billigen Massenware werden. Selbst in Supermärkten werden Sträuße angeboten. Der Familie wird klar, dass es so - mit der vielen Arbeit und den schwindenden Einkünften - nicht mehr weitergehen kann. Als sie schließlich noch von ihrer Mitarbeiterin bestohlen wird, steht der Entschluss fest: Der Laden wird verkauft. Zwei Wochen vor der mündlichen Abiturprüfung ist das Geschäft perfekt. Den Laden übernehmen zwei junge Männer. Das Geld wird geteilt, so dass die beiden Schwestern über ein kleines Startkapital verfügen können. Marianne legt ihr Abitur mit mittelmäßigen Noten ab, und ihre Mutter hat noch lange ein schlechtes Gewissen, ihrer Tochter so viel zugemutet zu haben.

Fasching im Nachbarschaftsheim
Marianne hat aber noch nicht genug von Blumen, sie will ihr Wissen festigen und plant den Gesellenbrief abzulegen. Bei „Blumen-Fröhlich“ an der Karl-Marx-Straße bewirbt sie sich, und der Chef lässt sie erst mal ordentlich arbeiten, bis sie schließlich feststellt, dass er längst vorhat sein Geschäft ebenfalls zu verkaufen. Sie kündigt sofort. Wie soll es nun weitergehen? Am liebsten würde sie Zahnmedizin studieren, doch dafür reichen die Abinoten nicht. Sie entscheidet sich für eine Ausbildung als Zahntechnikerin, die ihren handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten entgegenkommt. Die Lehrstelle tritt sie in einem großen Betrieb in Schöneberg an. Im ersten Lehrjahr wird sie Mitglied in der ÖTV, die auch für das Gesundheitswesen zuständig ist, und beginnt mit gewerkschaftlicher Arbeit. Als Jugendvertreterin kümmert sie sich um die Auszubildenden. Später befasst sie sich mit Gesundheitsstudien der Universität Köln und erfährt, dass Zahntechniker, die ständig mit Staub und Asbest in Berührung kommen, mit immensen Gesundheitsschäden rechnen müssen. Marianne nutzt seitdem Maske und Absauganlage bei der Arbeit, und ihre Kollegen machen sich ein wenig lustig darüber. Nach der Lehre nimmt sie eine Stelle bei einem Zahnarzt in Charlottenburg an. Obwohl ihr die Arbeit gefällt, besonders das beglückende Gefühl Menschen wieder zu schönen Zähnen verholfen zu haben, bleibt sie nicht lange. Ihre Gesundheit ist ihr wichtiger.

Marianne liebäugelt mit einem Studium. Da sie in der Gewerkschaft viel mit Juristen zu tun hat, liegt ein Jurastudium nahe. Von der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung erhält sie ein Stipendium. Das Studium, das sie von 1981 bis 1988 absolviert, fällt ihr nicht leicht, denn sie ist das Lernen nicht mehr gewöhnt. Nebenbei beteiligt sie sich an der Ausarbeitung der Studienreform. Die Zeit des 1. Staatsexamens fällt mit der politischen Wende Deutschlands zusammen. Marianne erlebt in Berlin aufregende Momente. Nach dem legendären Fernsehinterview mit Schabowski fährt Marianne mit dem Fahrrad und einem Sixpack Bier an den Grenzübergang Sonnenallee und empfängt begeistert die Menschen aus Ost-Berlin.

Weil sie sich aufgrund der allgemeinen Situation für Juristen wenig Berufschancen ausrechnet, geht Marianne für ein halbes Jahr nach Bochum, um ein Praktikum bei einer Unternehmensberatung zu machen. Doch dann kann sie ein Referendariat beim Berliner Kammergericht durchlaufen und erhält anschließend sofort eine Anstellung im Öffentlichen Dienst, wo sie auch ihre Gewerkschaftsarbeit fortsetzt.

Von dem Mauerfall profitiert Neukölln ganz besonders, findet Marianne. Der Bezirk gerät aus seiner Randlage in ein wunderbares Umfeld mit viel Wasser und Grün. Die Spree ist für die Neuköllner wieder zugänglich. Als begeisterte Fahrradfahrerin erkundet Marianne die neu gewonnene Umgebung. Sie tritt in eine Rudergemeinschaft ein und lernt dort ihren späteren Mann kennen. Er ist Däne. Und weil es viel einfacher ist in Dänemark zu heiraten, richten sie ihre Hochzeit dort aus. Den Brautstrauß aus violetten Orchideen und weißen Rosen bindet Marianne natürlich selbst.

Donnerstag, 22. Oktober 2015

2. Erzählcafé im Körnerkiez

Donnerstag, 22.10.2015

Ich eile mich, weil ich rechtzeitig im Leuchtturm sein möchte, um in Ruhe den Tisch aufzubauen und Kaffee zu kochen. Eva Willig hat versprochen den Tisch zu decken. Hoffentlich kommen nicht ganz so viele Gäste wie beim letzten Mal. Es ist intimer, wenn wir eine Tischrunde sind. Man versteht sich besser und kann leichter zuhören.

Das Aufbauen geht fix, ich komme ins Schwitzen. Eva tritt fröhlich herein, schenkt mir ein reizendes Kräutersträußchen und packt mit an. Der Tisch sieht wieder einladend aus, der Kaffee steht bereit. Die Gäste treten nach und nach ein, es sind etwa 20, eine gute Zahl. Die Einleitung der Vorstellungsrunde vergesse ich dummerweise, und Eva Willig beginnt mit ihrem Bericht.

Eva Willig, „Lobbyistin für Arme“

Eva Willig kämpft gegen Armut. Sie beleuchtet Hintergründe, befasst sich mit Hartz IV, der Gesundheits- und Wohnungsversorgung und dem Problem der steigenden Mieten. Auf ihrer Visitenkarte ist zu lesen: „Eva Willig - Lobbyistin für Arme“. Eva Willig wohnt seit 1977 in Neukölln und verleiht all denen ihre Stimme, die sich zu wenig wehren. Wie wird man denn „Lobbyistin für Arme“? In ihrem letzten PR-Kurs habe sie gelernt, dass man „etwas sein muss“, sagt sie ironisch, deshalb wählte sie diese Formulierung.


Eva Willig im Zitronencafé am Körnerpark, 2015
Eva wird 1948 in Thüringen geboren. Ihre Mutter stammt aus einer kleinstädtischen Handwerkerfamilie. Ihr Großvater, ein begeisterter Radrennfahrer, besaß ein Fahrradgeschäft, das er 1903 eröffnet hatte. Die Großeltern hatten 7 Kinder. Evas Mutter war die Älteste und musste schon früh Verantwortung übernehmen. Diese Verpflichtung überträgt sie später auf Eva, ihr erstgeborenes Kind. 

Die Großmutter väterlicherseits brachte nach einem Ostseeurlaub 1907 einen unehelichen Sohn zur Welt, der später Evas Vater wurde. Als Zehnjähriger wurde er vom späteren Ehemann der Großmutter adoptiert. Er lernte den Beruf des Technischen Kaufmanns und konnte Englisch, Französisch und Russisch sprechen. Daneben war er erfolgreicher Gelände-Motorradrennfahrer. Im Krieg diente er anfangs in Frankreich, dann in Russland. Beim Ariernachweis - in der Nazizeit Pflicht - stellte sich heraus, dass er Halbjude war, denn seine Mutter hatte sich an der Ostsee in einen Juden verliebt. Somit war der Krieg 1942 für ihn beendet, denn Juden durften nicht Soldaten sein.

Das Haus der Großeltern
Zum Ende des Krieges errichtete er in Thüringen eine Vergaserfabrik. Thüringen gehört zur russischen Besatzungszone und ab 1949 zur DDR. Er heiratet Evas Mutter im September 1947, kurz darauf wird Eva geboren. Ein Jahr später kommt der Bruder zur Welt. Um sein Einkommen aufzubessern, handelt er mit West-Reifen und schmuggelt sie in die DDR. Er wird angezeigt und muss wegen Wirtschaftskriminalität ins Gefängnis. Bei den Verhören stellt sich heraus, dass er zahlreiche öffentliche Institutionen der Stadt Gera mit Reifen versorgt hat, auch die Polizei und die Müllabfuhr.
1950 nutzt er einen Hafturlaub, um aus der DDR zu fliehen. Die Familie fährt mit dem Auto nach Berlin (West) und besorgt neue Pässe. Von dort aus geht es mit dem Flugzeug nach Nürnberg. In einem winzigen Dorf finden sie eine Unterkunft, die die Großmutter für sie besorgt hat. Der Vater übernimmt eine Vertretung für eine Motorradfabrik und ist häufig unterwegs. Mit seinem Auto stellt er sich im Dorf gelegentlich als Chauffeur zur Verfügung, denn die Bauern haben nur Traktoren. Der Mutter kommt ihre Qualifikation als Kauffrau zugute, hatte sie doch die Höhere Handelsschule absolviert. Sie ist die einzige im Dorf, die eine Schreibmaschine besitzt und erledigt anfallende Büroarbeiten gegen Brot, Milch, Butter, Wurst und Speck. Eva wächst in dieser ländlichen Gegend auf, darf die Kühe hüten und lernt, was alles im Gemüsegarten blüht und gedeiht.

Die Großeltern
Das beschauliche Leben endet, als die Familie eine Neubauwohnung in einem Nürnberger Vorort findet. In dem 6-Familienhaus leben Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten zusammen: Fabrikanten, Verkäuferinnen, Neureiche und die Familie Willig. Eva ist jetzt 6 Jahre alt und gerade eingeschult worden. Plötzlich stirbt der Vater. Die Familie verfügt über keine Ersparnisse. Eines Tages steht die Fürsorgerin vor der Tür und will die Kinder mitnehmen, weil sie angeblich nicht ausreichend versorgt seien. Die Mutter lässt die Fürsorgerin nicht in die Wohnung, kämpft um ihre Kinder und kann sie schließlich bei sich behalten. Zu der Zeit lebt die Familie von der Fürsorge, die die Miete übernimmt und monatlich 64 DM auszahlt. Ein Nachbar bietet der Mutter nach geraumer Zeit eine Stelle in seiner Fabrik an. Dort arbeitet die Mutter anfangs 48 Stunden pro Woche und bekommt 1,65 DM Stundenlohn. Aber wohin mit den Kindern? Der Bruder erhält einen Platz in einem Kindergarten. Eva kann die Zeit nach der Schule bei verschiedenen Bekannten verbringen, manchmal kommt auch die Oma zu Besuch.

Eva merkt allmählich, wie schwierig es ist sich in die vorstädtische Gemeinschaft zu integrieren. Die Kinder werden als „Flüchtlingsbankert“ stigmatisiert und stehen auf gleicher Stufe mit dem „blöden“ (behinderten) Fred aus der Nachbarschaft und dem dunkelhäutigen Norbert, dessen Mutter sich mit einem farbigen amerikanischen Soldaten eingelassen hatte. In der Volksschule im Dorf begegnet Eva alten und autoritären Lehrern, die noch die Prügelstrafe als pädagogische Maßnahme einsetzen. In Bayern wird die körperliche Züchtigung erst 1973 verboten. Eva ist intelligent und soll nach der 4. Klasse das Gymnasium besuchen. Aber nicht in Nürnberg, sagt die Mutter, weil sie ihrer Tochter die Großstadt nicht zumuten will. Im alten Universitätsdorf Altdorf findet sich schließlich ein geeignetes privates Gymnasium, für das allerdings Schulgeld gezahlt werden muss. Später wird es verstaatlicht. Der Pfarrer übernimmt die Verpflichtung für das Schulgeld. Weil die Mutter sich wegen ihrer Fabrikarbeit schämt, empfiehlt sie ihrer Tochter, dass sie in der neuen Schule als Beruf der Mutter „Konfektionärin“ angeben soll. Doch gleich in der ersten Stunde sagt der Lehrer ohne sie zu fragen: Deine Mutter arbeitet in der Fabrik, nicht wahr?

Evas Mutter (links) und ihre 5 Geschwister 
Eva besucht das Gymnasium bis zur 10. Klasse. Beim Einjährigen fällt sie durch. Wiederholen kommt für sie nicht in Frage. Sie möchte endlich eigenes Geld verdienen und etwas zum Haushalt beitragen. Eva und ihr Bruder haben jahrelang die abgelegten Kleider ihrer in der DDR gebliebenen Cousinen und Cousins aufgetragen, die sie in gelegentlichen Paketen erhalten haben. Selbst das Konfirmationskleid war gebraucht und wurde nach Evas Figur umgeändert. Wenigstens bekommt sie neue Schuhe - und Strümpfe von Dior! Etwas Besonderes muss sein.
Eva sehnt sich nach neuer, schicker Kleidung und beginnt 1964 eine Ausbildung in Nürnberg als Einzelhandelskaufmann im Bereich der Mode. Fischer + Co., das erste Haus am Platz, stellt sie als Lehrling ein. Für die weiblichen Lehrlinge ist ein grauer Trägerrock vorgeschrieben, den sie mit schwarzen, blauen, weißen oder grauen Blusen kombinieren dürfen. Viel besser als die Kleiderordnung bei C&A, wo nur Schwarz und Weiß zugelassen ist, findet Eva. Sie schnallt den Gürtel so hoch wie möglich. Der Rock soll kurz sein. Zurzeit ist der Minirock in Mode, der von der bekannten Modedesignerin Mary Quant kreiert wurde. In der Ausbildungszeit werden die Lehrlinge auch zum Fahrstuhldienst herangezogen, anfangs zweimal und im dritten Lehrjahr einmal wöchentlich.

Neben der Ausbildung besucht Eva Willig die Abendschule, um die Mittlere Reife nachzuholen. 1967 schließt sie die Lehre als Textileinzelhandelskauffrau mit besonderer Auszeichnung ab und hat gleichzeitig das Einjährige in der Tasche.

Eva und ihre Eltern, 1951
Ihre erste Arbeitsstelle ist eine Boutique, die den Söhnen der Eigentümer des Modehauses Wöhrl gehört, und die Nürnberg mit der schicksten Mode aus England versorgt. Das Besondere dieser Arbeit ist, dass die Angestellten als Models auf Popkonzerten auftreten und die neueste Mode vorführen dürfen. Nach einem halben Jahr entscheidet sich Eva für eine weitere Qualifizierung und beginnt ein zweisemestriges Studium an der Textilfachschule in Münchberg/ Oberfranken, das sie als Textilkauffrau abschließt. In Münchberg herrscht ein internationales Studentenleben. Von 300 Studenten kommen 200 aus aller Welt, um von dem vielfältigen Angebot der Fachschule zu profitieren. Eva knüpft viele Freundschaften und lernt exotische Spezialitäten aus fremden Ländern kennen. Nach dem Studium zieht es sie in die große weite Welt – zumindest nach Berlin.

Bei „Madame“ im Europa-Center beginnt Eva als Substitutin. Sie ist für den Einkauf zuständig, muss die Ware berechnen, auszeichnen und sich um die Auszubildenden kümmern. Zu ihrem großen Ärger darf sie nicht mit zu Messen fahren. Schließlich wird sie auch noch in das Provinznest Bielefeld versetzt! Sie kündigt und arbeitet ein Jahr als Telefonistin und am Empfang eines Autozulieferers, um dann noch ein Studium aufzunehmen. Es gibt drei Studienfächer, für die man mit kleiner Matrikel zugelassen werden kann: Ingenieurwesen - dafür fühlt sich sich nicht talentiert genug, BWL – hat zuviel mit dem Beruf der Mutter zu tun, Sozialpädagogik – trifft auf ihr Interesse an der sozialen und politischen Welt. Wie so viele Studenten in dieser Zeit erhofft sich auch Eva künftig gesellschaftsverändernd tätig sein zu können. In Berlin herrscht während der Studentenbewegung ein aufregendes politisches Klima.

1971 beginnt sie ihr Studium bei der evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit und schließt es 1974 als graduierte Sozialpädagogin ab. Während dieser Zeit genießt sie das linke Studentenleben. Sooft sie Zeit hat, hält sie sich im legendären Steve Club auf, wo Liedermacher und Musikgruppen politische Lieder vortragen. Sie befasst sich mit alternativer Heimerziehung („Heim statt Knast“) wie sie von den PH-Professoren C.W. Müller („Wie Helfen zum Beruf wurde“, 1981) und Günter Soukup entwickelt wird und verbringt ihr Anerkennungsjahr in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft, wo sie sich mit schwierigen Jugendlichen auseinandersetzen muss.

Eva im Jahr 1954
1976 erhält Eva eine Stelle in der Suchtkrankenstation im Jüdischen Krankenhaus. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Fotografie. Zwei Jahre später stirbt die Mutter und vererbt Eva etwas Geld. Eva kündigt und tut das, worauf ihre Mutter immer verzichten musste: Sie fliegt für fünf Monate in die USA und reist von der Ostküste zur Westküste. 

Wieder in Berlin meldet sie sich arbeitslos und hofft, dass ihr das Arbeitsamt nicht einen Job anbietet, den sie partout nicht haben will, wie z. B. eine Arbeit im Knast. Doch sie findet eine neue Anstellung auf der Schulfarm Insel Scharfenberg in Reinickendorf als Betreuerin für die im Internat wohnenden Kinder. Scharfenberg ist eine Insel im Tegeler See. Der Dienst ist von 12 Uhr Mittag bis Mitternacht angesetzt. Nach Dienstschluss fährt sie mit dem Boot zum Ufer und von dort immer entlang der Mauer bis zu ihrer Wohnung nach Neukölln. Als ihr nach drei Jahren der Beamten-Status angeboten wird, lehnt sie ab. Unabhängigkeit ist ihr wichtiger. Ein Jahr später kündigt sie.

Dann lieber selbstständig arbeiten: 1982 pachtet sie eine Gaststätte, macht daraus ein Galerie-Restaurant, was sie aber nach einem halben Jahr wieder aufgeben muss. Es folgt ein Jahr der Erwerbslosigkeit. Eva fällt in eine Depression. Über die Kontakte zu dem besetzten Haus in der Richardstraße 8 in Neukölln lernt sie den Vorsitzenden der Grünen kennen. Sie tritt 1988 in die Partei der Grünen ein und kümmert sich um das Soziale. Nach einer ersten ABM-Stelle im öffentlichen Dienst wird sie Mitglied der ÖTV und versucht dort für die kaum vorhandenen Rechte der ABM-Stelleninhaber einzutreten. Dieser ArbeitsBeschaffungsMaßnahme folgen bis 2005 noch 15 weitere. Zwischendurch ist sie noch zweimal befristet beschäftigt. Von 1989 bis 1991 ist sie für die Grünen in der BVV.

1994 möchte sie es noch einmal wissen und eröffnet einen Modeladen für „Frauen mit und ohne handicaps“. Sie hat gute Ideen, und viele Frauen sind ihr dankbar. Dann wird das Behindertengeld gekürzt, und ihre Kundinnen können sich nicht mehr bei ihr einkleiden. 2002 macht sie sich mit der Arbeitsvermittlungsagentur „Anachronisma“ selbstständig, hat aber zu wenige Jobs, die sie hätte vermitteln können. Trotzdem erhält sie Dankschreiben von Arbeitssuchenden, weil diese sich von ihr gut behandelt fühlen. Ihr letzter Versuch mit der Selbstständigkeit ist der Laden „Alche-Milla“, ein kleines Kaufhaus für die Sinne, das Blumen, Kräuter, Wohnaccessoires und Kunstwerke anbietet. Die Agentur für Arbeit bewilligt einen Lohnzuschuss für eine ältere, arbeitslose Angestellte. Auch dieser Versuch scheitert. Nach einem halben Jahr kündigt das Jobcenter die Unterstützung, obwohl ihm laut Businessplan bekannt ist, dass die Anlaufphase mindestens ein Jahr dauern würde.

Heute ist Eva Willig Kleinstrentnerin und weigert sich die ihr zustehenden 16 Euro aus der ergänzenden „Grundsicherung im Alter“ zu beantragen. Dann hätte sie sich erneut unter Kuratel stellen müssen. Nicht nach 10 Jahren Hartz IV! So bleibt ihr noch genügend Kraft, um gegen soziale Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Sie engagiert sich ehrenamtlich beim „Wohntisch Neukölln“, einem Diskussionsforum für gemeinschaftliche Wohnformen. Sie unterstützt die Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen und wehrt sich gegen die Abhängigkeit, in die Hartz-IV-Empfänger geraten. Sie prangert an, dass  in der Gesundheitsversorgung die Wohlhabenden wesentlich besser gestellt sind und eine längere Lebenserwartung haben. Gelegentlich veranstaltet sie Kräuterspaziergänge durch Neukölln und anderswo. Sie weist auf heilende, giftige und essbare Pflanzen hin. Sie spielt Theater, schreibt und macht in ihren Texten die Armut zum Thema (www.evasgeschichten.de). Dabei verliert sie nie ihren Humor. Manchmal ist es Galgenhumor.

Eva Willig beim Kräuterspaziergang, 2015


Donnerstag, 8. Oktober 2015

Start des 1. Erzählcafés im Körnerkiez


Donnerstag, der 8.10.2015


Ich gebe es zu: Ich bin ein wenig nervös. Wie viele Menschen werden heute das Erzählcafé besuchen? Werden auch einige von denen dabei sein, die die Stadtführungen mitgemacht haben? Ich habe gehört, dass das Interesse an der heutigen „Berichterstatterin“ groß ist. Ruth Weber, ehemalige Schulleiterin der Peter-Petersen-Schule, arbeitet heute noch in verschiedenen Gremien mit und ist allgemein bekannt und beliebt. Wahrscheinlich werden auch einige Lehrer und Lehrerinnen beim Erzählcafé erscheinen. 

Ich baue den Tisch auf im großen, an der Emser Straße gelegenen Raum des Neuköllner Leuchtturms. Frau Bloch-Thieß, die Eigentümerin des Hauses, zeigte mir, wo ich die Böcke und Tischplatten, die Tischdecken und das Geschirr mit der Kaffeemaschine finden kann. Ich freue mich über die gute Organisation. Alles funktioniert und ist liebevoll eingerichtet. Nun ist der Tisch so schön wie möglich gedeckt, die Kekse auf Tellern dekoriert, der Kaffee gekocht. Die Gäste können kommen....

Und sie strömen. Ich bekomme einen kleinen Schreck, mit so vielen habe ich nicht zu rechnen gewagt. Es sind fast 30. Hoffentlich sind alle diszipliniert und hören ruhig zu. Wir müssen weitere Reihen vor dem Tisch aufbauen. Endlich sitzen alle. Jeder in der Runde stellt sich kurz vor. Dann beginnt Ruth Weber zu erzählen.




















Ruth Weber, ehemalige Schulleiterin der Peter-Petersen-Schule

Ruth Weber ist in Berlin-Neukölln aufgewachsen und hat auch dort ihren Beruf ausgeübt. Dabei spielte die 12. Grundschule, die in der Nachkriegszeit den Namen Peter-Petersen-Schule erhielt, eine entscheidende Rolle. Als Kind besuchte Ruth Weber diese Schule, und als junge „Lehrerin zur Anstellung“ fing sie dort wieder an, wurde Schulleiterin und blieb bis zu ihrer Pensionierung. Insgesamt verbrachte sie 42 Jahre an ein und derselben Schule. Wie langweilig, könnte man denken, aber Ruth Weber beweist das Gegenteil. Sie und ihre Lehrerkollegen krempelten im Lauf der Jahre den Schulunterricht völlig um und machten aus der Peter-Petersen-Schule eine „Schule besonderer pädagogischer Prägung“.

Ruth Weber wurde mitten im Krieg 1942 in der Charité geboren. Ihr Vater, ein Arzt, war zu dieser Zeit Soldat. Die Mutter verließ mit dem Baby und dem älteren Bruder die von Bomben bedrohte Stadt und zog nach Crimmitschau in Sachsen. Dort wurde eine Schwester geboren. Am 25.Juni 1946 kehrte die Familie wieder zurück nach Berlin. Ruth Webers Vater, Dr. Wolfgang Mehling, eröffnete in einer großen Wohnung in der Hasenheide, in der die Großeltern lebten, eine Arztpraxis. Die Familie wurde zur Untermiete in eine Zweizimmerwohnung eingewiesen, die bereits von einer Frau bewohnt wurde. Somit stand dem Ehepaar und ihren drei kleinen Kindern lediglich ein Zimmer zu; ein Bad gab es nicht, die Haare wurden in der Küche gewaschen. Daran kann sich Ruth noch erinnern, auch dass die kleine Schwester ständig schrie und ein weiterer Bruder geboren wurde. Bald darauf war die Mutter wieder schwanger.
Ruth mit den Eltern und ihrem älteren Bruder, 1942
Die gläubigen Eltern waren davon überzeugt, dass es für jedes Kind einen Platz geben würde. Dennoch brauchten sie eine größere Wohnung, die sie 1949 in der Leykestraße fanden: 3 ½ Zimmer auf 110 Quadratmetern. Es war die größte Wohnung im Haus, die die Familie aufgrund freundschaftlicher Beziehungen innerhalb der Kirchengemeinde bekam. Drei weitere Kinder kamen auf die Welt. Nun wohnten acht Kinder und zwei Erwachsene in dieser Wohnung. Mit dem Hausmädchen, ohne das die anfallende Hausarbeit gar nicht zu schaffen war, waren es schließlich 11 Personen. Immer wieder wurden die Kinder in der Schule gefragt, wie viele sie denn nun zu Hause seien, und als sie im Englischunterricht die Geschichten mit den “guinea-pigs“ durchnahmen, die sich bekanntlich schnell vermehren, sagten ihre Mitschüler: „Wie bei euch zu Hause“.
Die komplette Familie Mehling mit 8 Kindern

Ruth (links) mit Mutter und 5 Geschwistern

1948 wurden Ruth und ihr Bruder in die Grundschule Weserstraße eingeschult. Nach dem Umzug in die Leykestraße besuchten die beiden die 12. Grundschule. Aufgrund des Raummangels nach dem Krieg fand der Unterricht in verschiedenen Gebäuden statt. Die Schüler mussten ständig umherziehen. Die 12. Grundschule war beispielsweise in der Lessingstraße (heute Morusstraße) angesiedelt; die 2. Klassen wurden in der Kopfstraße unterrichtet. Alle Schüler mussten dann in die Briesestraße umziehen. Ruth und ihr Bruder teilten sich einen Klassenraum mit 54 Schülern. Manche Lehrer waren streng und ungerecht. Ruth erinnert sich an Herrn Brühmeier, der Kinder bestrafte, indem er ihre Köpfe zwischen die Knie nahm und sie dann verprügelte. Einmal wurde sie von ihm geohrfeigt, weil sie ihren Bruder, der wegen einer Behinderung schlecht laufen konnte, aus einem anderen Schulgebäude abholen wollte. Sie fühlte sich doch für den Bruder verantwortlich! Obwohl Prügelstrafen in der Schule seit 1945 abgeschafft waren, kamen sie noch vor. 1959 konnte die 12. Grundschule in ihr Stammgebäude in die Jonasstraße zurückziehen und erhielt den Namen des Reformpädagogen Peter Petersen. 
Einschulung 1948. Ruth steht in der Mitte der letzten Reihe
Schülerin der 3. Klasse
Ruth besuchte zu diesem Zeitpunkt längst das Albrecht-Dürer-Gymnasium - mit 49 Schülern in einer Klasse – und machte dort 1961 ihr Abitur. An der Universität studieren wollte sie nicht, das hätte zu viel Geld gekostet. Deshalb dachte sie an eine Ausbildung als Beschäftigungstherapeutin, doch es war kein Ausbildungsplatz frei. Ruth hatte einen Freund. Das gefiel dem Vater nicht (sie hätte ihn nach seiner Meinung heiraten müssen), so dass er seiner Tochter den Vorschlag machte, für längere Zeit nach England zu gehen. Sie folgte und verbrachte ein Jahr in England, lernte die Sprache und begegnete verschiedenen Lehrerinnen. Von ihren Klassenkameradinnen studierten einige an der Berliner Pädagogischen Hochschule, und diese brachten sie auf die Idee ebenfalls das Studium dort aufzunehmen. Die Vorteile: Das Studium war kurz, dauerte nur dreieinhalb Jahre und kostete nichts. Damals herrschte in Berlin Lehrermangel, und für das Studium wurde auf diese Weise geworben. 

Ruth in der 6. Klasse, 1953
Bereits im 4. Semester absolvierte Ruth Weber Praktika an verschiedenen Neuköllner Schulen. Aus heutiger Sicht großes Glück hatte sie als „Lehrerin zur Anstellung“: Der damalige Schulrat kannte sie, weil er einmal Lehrer am Albrecht-Dürer-Gymnasium gewesen war, und schickte sie an die Peter-Petersen-Schule, wo sie ihre alten Lehrerinnen aus der 12. Grundschule wiedertraf, nun als Kolleginnen. Ruth Weber wurde sehr freundlich aufgenommen, dennoch hat man ihr, der 23jährigen Anfängerin, die schwierigen, äußerst lebendigen Klassen, voll besetzt mit 35 bis 40 Kindern, zugeschoben: 6. Klasse: Sport, 4. Klasse: Schönschreiben, 3. Klasse: Kunst, Förderkurs: Englisch, 6. Klasse: Klassenleitung und Führung zur Oberschule, Erdkunde und Deutsch. Es war heftig, meint sie noch heute, und nach 14 Tagen war sie davon überzeugt, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Allerdings gab es einen mitfühlenden Schulleiter, der zu ihr sagte: „Fräulein Mehling lassen Sie sich und der Klasse ein halbes Jahr Zeit.“ Die ersten Jahre an der Schule waren nicht einfach, man arbeitete mit Druck und Strafen; unliebsame Schüler wurden schnell an andere Schulen geschickt ohne den Hintergrund der Probleme zu erforschen.
Die erste Unterricht an der Petersen-Schule: eine 6. Klasse, 1965 (R.W.:letzte Reihe, 3. von links)

1967 legte Ruth Weber das 2. Staatexamen ab. Ein Jahr später wählte das Kollegium die 27Jährige zur stellvertretenden Schulleiterin. Seit 1981 oblag ihr die Schulleitung, die sie bis zum Ruhestand 2007 innehatte.

Ende der 1960er-Jahre herrschten in der Lehrerschaft ein großer Altersunterschied und damit unterschiedliche pädagogische Auffassungen vor. Viele Ältere standen kurz vor der Pensionierung und bestanden auf ihrem scheinbar bewährten Unterrichtsstil. Die jungen Lehrer und Lehrerinnen hatten eine moderne Ausbildung genossen und wollten vieles anders machen. Es gab aber im Kollegium keine Gespräche darüber. Einmal stand eine ältere Kollegin weinend im Flur, weil sie mit den Schülern nicht mehr zurechtkam. Diesmal reagierten die Kollegen anders, sie eröffneten unter Billigung des Schulleiters das gemeinsame Gespräch in solidarischer Atmosphäre über persönliche Schwierigkeiten in der Schule. Das war ein einschneidendes Erlebnis, denn normalerweise wäre der Lehrerin eiskalt Unfähigkeit bescheinigt worden. 

Bei manchen Lehrern hatte sich ein gewisser Schlendrian breit gemacht, den die Jüngeren, allen voran Ruth Weber, nicht länger tolerieren wollten. Zum Beispiel die Besuche beim Schulzahnarzt, die einen Grund boten, die Schüler anschließend nach Hause zu schicken. Ruth Weber mahnte, dies nicht mehr zu tun und lieber etwas Gemeinsames zu unternehmen, zum Beispiel noch eine Stunde auf dem Spielplatz zu verbringen. Eines Tages erfuhr sie, dass ihrer Vorgabe nicht Folge geleistet wurde, und bat die betreffende Lehrerin zu einem Gespräch in ihr Büro. Das war für beide Seiten eine schwierige Situation, aber es wurde Klarheit geschaffen. Ähnlich wurde das Thema „Hitzefrei“ behandelt. Waren gerade 25 Grad erreicht, wollten die engagierten, verantwortungsvollen Lehrer kein Hitzefrei haben, sondern mit den Schülern arbeiten. Das aber musste mühsam durchgesetzt werden.

Die jüngeren Kollegen haben sich dann freiwillig zusammengesetzt und darüber nachgedacht, was sie als Lehrpersonen erreichen und an der Schule verändern wollen. Sie sahen vieles anders, als es in der Schule gehandhabt wurde, und erarbeiteten neue Vorschläge. Sie erkannten, dass ein Teil der Kinder unterfordert, ein weiterer Teil aber auch überfordert war und zielten auf eine stärkere individuelle Förderung. Der Schulleiter ließ ihnen die Freiheit und schottete sie zur Schulverwaltung hin ab. Gleichzeitig besannen sich die Lehrer auf den Namenspatron Peter-Petersen und studierten die Ideen des Schulreformers. 

Peter Petersen (1884-1952) begründete in den 1920er-Jahren als Hochschullehrer für Erziehungswissenschaften an der Universität Jena die „Jena-Plan-Pädagogik“. Ihr Ziel ist die kindgerechte Lebensgemeinschaftsschule, in der neben dem Erwerben des Wissens auch das soziale Zusammenleben eingeübt wird. Die Grundlagen des Unterrichts bilden die Grundformen des Zusammenlebens: Gespräch-Arbeit-Spiel-Feier, ebenso wie das Lernen in altersgemischten Gruppen, Fächer übergreifender Unterricht, individuelle Lernwege und Weltorientierung der Schule. Für Ruth Weber waren diese Prinzipien nicht neu, konnte sie doch auf ihre Erfahrungen in einer kinderreichen Familie zurückgreifen.

1983 begannen die Lehrer mit verschiedenen Aktionen zur Umweltgestaltung. Sie befreiten die Hasenheide vom Müll, veranstalteten eine Friedenswoche und gestalteten die Schulflure. Für jede Aktion mussten Pläne eingereicht und die positiven Bescheide abgewartet werden. Es war Ruth Webers Aufgabe als Schulleiterin diese Aktionen beim Schulamt durchzusetzen. Für das Putzen der Hasenheide gab es viel Applaus, aber die Friedensaktion war streng verboten. Wieso sollte die Schule sich nicht für den Frieden einsetzen? Auf die eingereichten Pläne gab es keine Antwort vom Schulamt. Die Friedenswoche fand trotzdem statt. Erst nach zwei Jahren, im Zusammenhang mit einer beabsichtigten Veröffentlichung, erfuhr die Schulleiterin, dass der Schulrat absichtlich nicht geantwortet hatte. Er bat sie nichts über die Friedensaktion zu publizieren, es könnte Probleme geben. Sie akzeptierte seinen Wunsch.

1984 führte die Schule anlässlich des 100. Geburtstages von Peter Petersen eine Projektwoche durch, welche als den Beginn der Umsetzung seiner Pädagogik zu sehen ist. Zunächst konzentrierte sich die Schule weiterhin auf die Umwelterziehung und gestaltete mit der benachbarten Konrad-Agahd-Schule und unter Einbeziehung der Eltern den gemeinsamen Schulhof zu einer grünen Frei- und Spielfläche um. Es war ein siebenjähriger Prozess, der auch in die unterschiedlichen Unterrichtsfächer einfloss, wiederum orientiert an den verschiedenen Leistungsniveaus der Kinder.

Ruth Weber an ihrem letzten Arbeitstag in ihrem Büro, 2007
1994 begann die Schule gemäß dem Jena-Plan altersgemischte Lerngruppen einzurichten, die drei Klassenstufen umfassen. Seit 2000/2001 lernen alle 340 Schüler in altersgemischten Stammgruppen.

Es brauchte also 10 Jahre, um die Peter-Petersen-Schule grundlegend zu verändern. Einen großen Anteil daran hatte Ruth Weber, die jede Projektwoche, jede Veränderung bei der Schulverwaltung aber auch gegenüber den Eltern durchsetzen musste. Natürlich wäre das ohne das engagierte Lehrerkollegium nicht gelaufen, betont sie. Andererseits war es wichtig, klare Regeln einzuführen und Verstöße nicht zu akzeptieren. Klassenfahrten und Schwimmen beispielsweise gehören zum Unterricht, da werden keine Ausnahmen gemacht. Allerdings hat man ein offenes Ohr für manche Ängste der Eltern und versucht gemeinsam Lösungen zu finden. Nach der grundlegenden Umstellung der Schule haben sich fünf Lehrer an andere Schulen versetzen lassen. Neue und bewegliche Lehrer aus dem früheren Ost-Berlin kamen hinzu, weil dort Personal abgebaut werden musste: ein Gewinn für die Peter-Petersen-Schule, der 2002 der Status „Schule besonderer pädagogischer Prägung“ verliehen wurde. Darüber hinaus wurde sie „unesco-Projektschule“, in der internationale Verständigung, Nachhaltigkeit und interkulturelles Lernen im Mittelpunkt stehen.

Rosen zum Abschied, 2007




Samstag, 3. Oktober 2015

Den Körnerkiez entdecken mit Cornelia Hüge, Teil 2

Samstag, 3. Oktober 2015

Der dritte und letzte Sonnabend der Stadterkundungen war der Kunst und den Kunstorten des Viertels gewidmet. Cornelia Hüge führte uns auch an diesem Tag. Wir begannen beim Kunstraum t27 in der Thomasstraße 27, wo wir gerade noch Gelegenheit hatten die als Galerie genutzten Räume zu besichtigen, bevor sie geschlossen werden. Der Eigentümer will das Haus sanieren und dann teurer vermieten, so dass der derzeitige Mieter, das Kulturnetz e.V., die neuen Mietkosten nicht aufbringen kann. Hier fanden seit 2005 zahlreiche interessante Ausstellungen aller Sparten zeitgenössischer bildender Kunst statt. Uns empfing der Leiter Martin Steffens, der uns die eigens zum Auszug spontan angefertigte Ausstellung erläutert. Dann steuerten wir die kommunale Galerie am Körnerpark an, die verschiedene Künstler eingeladen hatte gestalterische Aussagen zum Thema „Garten“ zu machen. Zwei der Kunstwerke schauten wir uns unter den Erläuterungen unserer Expertin genauer an. Nach einem Besuch im Atelier der südkoreanischen Künstlerin Eunsun Ko werfen wir noch einen Blick in die Ausstellungsräume des Neuköllner Leuchtturms und erfahren noch einiges über andere Kunststandorte wie die WerkStadt Kunstverein Berlin und Veranstaltungen wie „48 Stunden Neukölln“.



(Literaturempfehlung: U. Bach, C. Hüge: Rund um den Körnerpark. Geschichte und Gegenwart eines Neuköllner Wohnquartiers, Berlin 2006, www.qm-koernerpark.de)

Samstag, 26. September 2015

Den Körnerkiez entdecken mit Cornelia Hüge, Teil 1


Samstag, 26. September 2015

Die Kunsthistorikerin Cornelia Hüge konzentrierte sich auf die bauliche Entwicklung des Gebietes und führte uns zu zum Mühlenberg, dem städtebaulichen Ursprung, von dem aus die Bebauung eher zögerlich begann, bis 1890 der Bauboom einsetzte. Wir erfuhren viel über die Geschichte des Körnerparks und des Namensgebers Franz Körner (1838-1911). Der Kaufmann besaß in der Umgebung mehrere Grundstücke, die er als Kiesgruben nutzte. Sie brachten ihm nicht nur große Gewinne, sondern auch prähistorische Funde, die er sammelte und wissenschaftlich auswertete. Um 1890 legte Körner in der ausgebeuteten Kiesgrube an der Jonasstraße einen prächtigen Garten an, der bis an sein 1905 errichtetes Wohnhaus reichte. 1910 übereignete Körner das Gelände – zum Teil als Geschenk - an die Stadt Rixdorf mit der Auflage, einen öffentlichen Park und ein Gebäude für seine Sammlungen zu errichten. Cornelia Hüge führte uns zu seinem ehemaligen Wohnhaus in der Jonasstraße 66 und von dort in den Keller, wo noch gut erhaltene Überreste seines Privatmuseums zu sehen sind. Wir spazierten durch den Körnerpark mit der das Grundstück abschließenden Galerie, wo uns die Expertin auf die barockisierende Gestaltung hinwies. Die nächste Station war der Ilsenhof, eine bespielhafte Wohnanlage aus den 1920er Jahren. Abschließend erfuhren wir noch einiges über die Architektur des Albrecht-Dürer-Gymnasiums und den Erbauer Reinhold Kiehl, Stadtbaurat Rixdorfs und Leiter des Rixdorfer Hochbauamts, dem Neukölln noch heute zahlreiche prägende öffentliche Gebäude zu verdanken hat, wie das Rathaus und das Schwimmbad.